Geschlechterverhältnis: Mehr Söhne überleben die Schwangerschaft
Überall auf der Welt werden ein wenig mehr Jungen als Mädchen geboren: Auf 100 weibliche Neugeborene kommen stets rund 105 männliche Babys. Die Ursache für dieses männliche Übergewicht ist dabei nicht klar. Lange vermutete man etwa, dass männliche Spermien mit Y-Chromosom schon den Wettlauf zur Eizelle gegenüber weiblichen Konkurrenzspermien mit X-Chromosom gewinnen. Stimmt aber gar nicht, meinen Forscher nun. Überhaupt sei allerlei Halbwissen um die Durchschnittsgeschlechterverteilung im Mutterleib offenbar schlicht geraten und falsch gewesen, belegen Steven Hecht Orzack und seine Kollegen mit neuen Daten.
Die Forscher hatten mit verschiedenen Methoden an einer genaueren Statistik gearbeitet, die gesicherte Aussagen darüber liefern sollte, zu welchem Zeitpunkt zwischen Befruchtung und Geburt werdendes Leben häufiger männlich oder weiblich ist. Dafür hatten sie etwa das Geschlecht von unterschiedlich alten Föten nach Abtreibungen sowie von nur einige Tage alten Embryos aus Reproduktionskliniken oder von Fehlgeburten ermittelt und viele Daten über das Geschlecht von tausenden Ungeborenen nach Fruchtwasseruntersuchungen und Gewebeproben einfließen lassen. Dabei zeigte sich zunächst – anders als erwartet –, dass bei der Befruchtung gleich viele männliche wie weibliche Embryonen entstehen. Auch würden sich nicht mehr männliche Embryonen am Anfang der Schwangerschaft erfolgreich in der Gebärmutter einnisten.
In den ersten Wochen einer Schwangerschaft sterben dann zunächst offenbar sogar etwas mehr männliche als weibliche Embryos. Insgesamt, und vor allem zwischen der 10. und 15. Woche, sterben aber mehr weibliche Föten, was dann am Ende zu dem bekannten Geschlechterverhältnis bei der Geburt führt. Die Ursache für die erhöhte weibliche Sterblichkeit ist unklar – vielleicht hängt sie damit zusammen, dass die notwendige komplizierte Abstimmung der beiden X-Chromosomen in den weiblichen Zellen nicht reibungslos funktioniert, spekulieren die Forscher.
Dass sich das Verhältnis im Lauf der Schwangerschaft ändert, wusste man bereits seit dem 18. Jahrhundert, und schon vorher hatte man erstmals halbwegs wissenschaftlich belastbar ausgezählt, dass mehr Jungen als Mädchen geboren werden. Lange vermuteten Biologen wie Demografen, dass dies ein sinnvolles Resultat von Evolutionsprozessen sein könnte: Schließlich leben Männer, statistischen Auswertungen zufolge, insgesamt im Durchschnitt riskanter und sterben häufiger als Frauen vorzeitig etwa nach Unfällen oder an Krankheiten. Damit im fruchtbaren Alter ein ausgewogenes Verhältnis von geschlechtsreifen Paarungspartnern vorherrscht, könnte eine notwendige männliche Reserve also nützlich sein. Diese Theorie ist aber hoch umstritten.
Die neue, auf einer bis dato unerreicht großen Datenmenge beruhende Untersuchung liefert nur Durchschnittswerte und kann keine Aussagen darüber treffen, von welchen Umständen männliche oder weibliche Ungeborene besonders stark profitieren. Man weiß, dass sich das Geburten-Geschlechter-Verhältnis mit den herrschenden Klimabedingungen, den Jahreszeiten oder während Krisen stark verändern kann: Im Winter, bei Mangelernährung und Stress, nach Naturkatastrophen, Krisen und Kriegen werden etwa mehr Mädchen geboren – auch wenn im Durchschnitt sonst wohl mehr männliche Ungeborene durch die Schwangerschaft kommen.
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