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Verhaltensforschung: Meins bleibt meins

Unbestritten: "Haben" oder "nicht haben", das war für uns Menschen schon sehr früh ganz wichtig. Umso schwerer erklärlich, warum dann nicht "mehr haben können" immer besser ist als "behalten" - denn daran halten sich Menschen zum Leidwesen der Theoretiker meist nicht. Vielleicht findet sich eine Erklärung in grauer Vorzeit?
"Willst Du tauschen?" - Das Schimpansenweibchen Kelly
Wenn man es sich einfach machen will, weil sonst alles so furchtbar kompliziert zu erklären ist, dann bastelt man als erstes ein vereinfachtes Modell. Hat man daran dann irgendwann alles erklärt, bleibt nur zu vermitteln, dass das eigene Modell genau jenes ist, welches die Wirklichkeit am besten abbildet, erstaunlich gut sogar, mit nur wenigen Schwächen, die in bestimmten Fragestellungen aber vernachlässigbar sind. Ein solches Modell ist der "Homo oeconomicus".

Diese Menschenart simuliert den Typus eines kühl ökonomisch entscheidenden, egoistischen Nutzwert-Optimierers – er misst alles an dem Wert, den es für ihn und sein Wohlergehen hat; Rest der Welt: erstmal vernachlässigbar. Sein Vorteil ist, dass er die komplexe, entscheidungsfordernde Interaktionswelt ein wenig leichter erklärbar macht, sein Nachteil allerdings, dass er in der Realität nicht existiert. Was seinen Wert für die gesellschaftliche Diskussionskultur aber nicht mindert: Es wird lebhaft über die Handlungen von H. oeconomicus gestritten, vor allem zwischen fehlgeleiteten Verfechtern aus dem Lager der Wirtschaftstheorie (die ihn für nützlich auch jenseits ihrer eingegrenzten Kernthematik erklären) und desinformierten Gegnern (die ihn theorieverzerrend mit realen Menschen in der wirklichen Welt verwechseln). Eine Problemstellung, auf die das Oeconomicus-Erklärmodell falsch angewendet wird, weshalb es konsequent falsche Vorhersagen macht, findet genau deshalb bei uns allen natürlich großes Interesse.

Haben oder nicht haben?

Sarah Brosnan von der Emory-Universität und ihre Kollegen haben sich genau so ein Problem ausgekuckt: die "Status-Quo-Bevorzugungsneigung". Der Name sagt alles: Menschen, die ein Ding gerade erst bekommen haben, tendieren dazu, es augenblicklich höher zu schätzen als sie es kurz zuvor noch taten, als es nicht in ihrem Besitz war. Bewiesen wurde dies schon 1989 mit drei Probandengruppen, Schokoriegeln und dampfendem Kaffee: Erstere bekamen eines von Letzteren zur Belohnung, wenn sie einen zur Ablenkung gedachten Fragebogen ausfüllten. In einer Gruppe von Teilnehmern ermittelten die Tester zunächst die durchschnittliche Beliebtheit von Kaffee gegen Schoko: Vor die Wahl gestellt, bevorzugt ein genau bestimmter Prozentsatz die Süßigkeit.

Ohne sie vorher nach ihren Vorlieben zu fragen, gaben die Experimentatoren dann der zweiten, zufällig zusammengewürfelten Gruppe Schokolade, der dritten Kaffee, ließen beide den Fragebogen ausfüllen – und unterbreiteten ihnen dann das überraschende Angebot, die vorher erhaltene Schoko- oder Kaffeegabe gegen die jeweils andere einzutauschen. Keine Frage, wie H. oeconomicus sich da entscheiden würde: In der Gruppe mit Kaffee würden relativ viele tauschen (insgesamt bevorzugt der Durchschnittsteilnehmer ja Schokolade), in der Gruppe mit Schokolade nur wenige (einige mögen ja dennoch lieber den Bitterstoff), in beiden Gruppen zusammen sollte jedenfalls am Ende des Tauschhandels die prozentuale Verteilung erreicht sein, die zuvor als Durchschnittspräferenz ermittelt worden waren. Tja, Pustekuchen.

In Wahrheit tendierten viele der studentischen Probanden-Homo-sapiens eben zur Status-Quo-Bevorzugung, also dazu, einfach zu behalten, was sie haben – einige tauschten demnach, obwohl sie vorher wahrscheinlich die Schokoladen-Taube auf dem Dach gewollt hätten, diese am Ende nicht gegen den Kaffee-Spatz in der Hand ein. Homo oeconomicus hätte sich da sicher im Grab herumgedreht, wäre er als Theorie damit schon begraben und vergessen. Um das zu verhindern, suchen Ökonomen jedenfalls seitdem händeringend nach einer Erklärung für das blödsinnige Fehlverhalten der realen Menschen.

Schimpansenmutter mit Kind | Schimpansenmutter Mary und ihr Sprössling Zoe: Gruppenmitglieder der Sippe, in der Wissenschaftler dem Tauschverhalten der Affen auf den Grund gegangen sind.
Der Mensch ist doch auch nur ein Primat, meinten nun Brosnan und Co – vielleicht liefert die Stammesgeschichte irgendeine Erklärung für sein Verhalten? Um dies herauszufinden, testeten sie, ob auch unsere nahen Verwandten an der Status-Quo- Bevorzugungsneigung leiden: die Schimpansen. Den Affen sollten einige Probleme nicht umtreiben, die der Mensch haben könnte. Da wären zum Beispiel Reaktionen wie soziale Scham oder das mögliche kulturell eingetrichterte Gefühl, ein einmal erhaltenes Geschenk nicht dadurch als wenig wertvoll zu brandmarken, indem man es schnellstmöglich aus bloßen bilanztechnischen Erwägungen wieder loswird.

Kaffee und Schokolade verkörperten im Brosnan-Affen-Versuch Erdnussbutter-Röllchen und Fruchtsafteis-Lutscher – wahre Leckerbissen für Durchschnittsschimpansen, von denen vor die Wahl gestellt aber knapp sechzig Prozent noch lieber Erdnuss als Eis mochten, wie der Vorversuch belegte. Analog zu den menschlichen Probanden bekamen die Tiere im eigentlichen Experiment dann einen der beiden Naschereien und erhielten etwas später die Möglichkeit, ihn in einer lange zuvor antrainierten Weise bei einem ihnen vertrauten Experimentator gegen den anderen zu tauschen.

Was man einmal hat ...

Dabei wurde zweierlei klar: Erstens bewährte es sich, nur schwer und langsam konsumierbare Leckereien zu geben, weil sonst das Versuchsobjekt vor dem Versuchende schon gegessen wäre. Zweitens und entscheidender: Auch der Affe zeigt eindeutig eine Status-Quo-Bevorzugung. Bei der Möglichkeit des Zurücktauschens tendieren die Tiere eher dazu zu behalten, was sie haben – auch wenn sie dafür auf eine beliebtere Alternative verzichten müssen. Dies, ermittelten die Wissenschaftler weiter, gilt aber nur für essbare Leckereien: Begehrte Spielsachen wie Kauknochen oder geknotete Tauenden tauschten die Tiere fast immer am Ende aus.

"Eine breitere theoretische Basis ist dringend nötig"
(Sarah Brosnan)
Daraus lassen sich nun einige spannende Schlussfolgerungen für die Entstehung des Verhaltens von Schimpanse und Mensch im Laufe der Evolution ziehen, so Brosnan. Den Tieren fehlt eine institutionalisierte Kultur des Geben und Nehmens unter einer sanktionierenden gesellschaftlichen Kontrolle – und so birgt es eine gewisse Gefahr, wertvolle Gegenstände aus der Hand zu geben, die man eventuell nicht oder nicht adäquat ersetzt bekommt. In vielen Situationen seit grauer Vorzeit und dem gemeinsamen Ahnen von Affe und Mensch mag es sich da als sinnvolle Handlungsalternative erwiesen haben, besonders lebenswichtigen Besitz wie Futter nicht aufs Spiel zu setzten, selbst wenn vermeintlich ein besseres Angebot wartet.

So würde dann das heute in den Augen von Homo oeconomicus irrationale Verhalten einen im Lichte der Homo-sapiens-Evolutionsgeschichte nachvollziehbaren Hintergrund haben – und es sind somit bloße atavistische Reste, die das Verhalten des Menschen in diesem Fall so unvorhersehbar machen. Solche gemeinsamen Wurzeln des Verhaltens sollten viel öfter einmal genauer angesehen werden, finden die Forscher. Vielleicht könnte man damit dann die theoretische Basis verbreitern, von der ausgehend heute Vorhersagen menschlichen Verhaltens manchmal etwas vorschnell gemacht werden – das sei "ganz dringend notwendig", finden Brosnan und Kollegen und geben damit vielleicht einen dezenten Hinweis, wie sie selbst zu etwas zu stark vereinfachten Modellen stehen.

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