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Frühmenschenfossil aus Taiwan: Denisovaner bevölkerten wohl ganz Ostasien

Vieles über die Denisovaner ist noch rätselhaft. Nun legt ein Fossil aus Taiwan nahe: Die Frühmenschen waren in Ostasien weiter verbreitet als gedacht – und extrem anpassungsfähig. Sie lebten sowohl an kühlen, hoch gelegenen als auch an subtropischen Orten.
Eine Hand hält einen fossilen Unterkieferknochen mit mehreren erhaltenen Zähnen vor einem schwarzen Hintergrund. Der Knochen hat eine dunkle, verwitterte Oberfläche.
Ein Fischer hievte dieses Fragment eines menschlichen Unterkiefers vom Meeresgrund zwischen China und Taiwan. Das genaue Alter ist unbekannt, aber sicher ist: Es gehörte zu einem Denisovaner.

Knochensprengsel, ein paar Zähne, dazu noch eine Rippe und ein Unterkiefer – das ist alles, was von den Denisovanern gesichert die Jahrzehntausende überdauert hat. Die wenigen Fossilien stammen aus der namengebenden Denisova-Höhle in Südsibirien und aus dem Hochland von Tibet. Wie die Frühmenschen einst aussahen, weiß also keiner so genau. Dass es sie aber vor mehr als 32 000 bis 48 000 Jahren wirklich gegeben hat, klärten Paläogenetiker auf: Mit Genanalysen der sibirischen Fossilien haben sie 2010 deren Existenz überhaupt erst nachgewiesen. Die Denisovaner lebten zeitgleich mit anatomisch modernen Menschen und mit Neandertalern, ihren engsten genetischen Verwandten. Alle drei zählen zur Gattung Homo und vermischten sich nachweislich untereinander.

Mittlerweile wecken weitere Genuntersuchungen den Verdacht, dass die Denisovaner in einem viel größeren Gebiet Ostasiens und vielleicht auch Ozeaniens umherstreiften, als die beiden fast 2000 Kilometer auseinanderliegenden Fossilfundstätten ohnehin nahelegen. Dieses Szenario ergaben die Erbgutdaten heutiger Menschen: In der Bevölkerung Ost- und Südostasiens steckt nicht nur ein Stückchen Neandertaler-DNA, sondern man findet in unterschiedlichen Anteilen auch Gene verschiedener Denisovaner-Populationen.

Die Verbreitung einer heutigen Bevölkerung sagt freilich nichts darüber aus, wo genau ihre Denisovaner-Vorfahren vor Zehntausenden von Jahren gelebt haben. Fossilien und ihre Fundplätze dafür umso mehr: Paläoanthropologen kennen einige altsteinzeitliche Zähne und Knochen aus China und aus Laos, die anatomisch zu dem Wenigen passen, was gesichert von den Denisovanern stammt.

Einen dieser Wackelkandidaten haben Fachleute nun naturwissenschaftlich als Überbleibsel eines männlichen Denisovaners identifiziert – und damit das tatsächliche Verbreitungsgebiet jener Frühmenschen um ein großes Stück nach Osten erweitert. Demnach lebten die Denisovaner nicht nur in kühlen Gefilden und extremen Höhen, sondern auch in feuchtwarmen Zonen Asiens; dort, wo heute Taiwan liegt. Wie es scheint, waren die Frühmenschen also extrem anpassungsfähig.

Das ergab die Proteinanalyse eines fossilen Unterkieferfragments, das ein Fischer vor dem Jahr 2008 aus dem Meer zwischen China und Taiwan gezogen hatte, unweit der Penghu-Inseln. Ein internationales Team um Takumi Tsutaya von der Graduate University for Advanced Studies in Kanagawa und Frido Welker von der Universität Kopenhagen untersuchte das Knochenstück namens Penghu 1 und identifizierte es mit Hilfe der Paläoproteomik als denisovanisch. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Forscherinnen und Forscher in der Fachzeitschrift »Science«.

Der Denisovaner aus dem Meer

Penghu 1 ist die rechte Hälfte eines Unterkiefers, in dem noch vier Backenzähne stecken. Vermutlich aus dutzenden Metern Tiefe hatte der Fischer das Fossil vom Ozeangrund geholt. Ziemlich sicher war der Knochen aber nicht vom Land ins Meer geplumpst. Wie fossile Überreste von Landwirbeltieren vom selben Fundort belegen, lag die Meeresstraße von Taiwan einst trocken und gehörte zum asiatischen Festland. Vor zirka 190 000 bis 130 000 Jahren und vor 70 000 bis 10 000 Jahren war der Meeresspiegel entsprechend tief gefallen, berichten Tsutaya, Welker und ihr Team.

Die beiden Zeitphasen liefern eine grobe Datierung für den Unterkiefer. Gemessen an den Beifunden dürfte er zudem jünger als 200 000 Jahre sein. Viel näher sind die Fachleute dem Alter des Funds bislang nicht gekommen. Die üblichen Methoden zur Altersbestimmung haben versagt, weil das Knochenstück so lange auf dem Meeresgrund schlummerte, erklärt Hauptautor Frido Welker. Erschwerend käme hinzu, dass »das Fossil bei Fischereiaktivitäten geborgen wurde und nicht bei einer archäologischen Ausgrabung«. Der sonst so wertvolle Fundkontext fehle damit weitgehend.

Penghu 1 hat allerdings gute Gesellschaft an Land. So gibt es ein anatomisch ähnliches Unterkieferfragment, das sich in der Baishiya-Karsthöhle im Hochland von Tibet fand und mindestens 160 000 Jahre alt ist. Beide Kieferknochen sind vergleichsweise dick, niedrig und mit auffallend großen Zähnen bestückt. Gerade die wuchtigen Backenzähne gelten inzwischen als wahrscheinliches Merkmal der Denisovaner. Das Fragment aus Baishiya, das auf einer Höhe von 3280 Metern zum Vorschein kam, haben Fachleute um Jean-Jacques Hublin vom Collège de France in Paris und Frido Welker mit Hilfe der Paläoproteomik 2019 als Knochenteil eines Denisovaners identifiziert. 2024 konnten sie dann eine Rippe vom selben Fundort ebenfalls dieser Menschenform zuordnen.

Auch im Fall von Penghu 1 führten Tsutaya, Welker und Co eine Proteinanalyse durch. In Fossilien, die nicht durchweg in einer kühlen Umgebung lagerten wie im Fall der Denisova-Höhle, zerfällt die DNA im Lauf der Jahrzehntausende bis zur Unkenntlichkeit. Aus solchen Überresten lässt sich kaum noch sequenzierbares Erbgut gewinnen. Hier schlägt die Stunde der Paläoproteomik: »Einige im Skelett vorhandene Proteine zersetzen sich langsamer als DNA«, erklärt Welker. Sie seien daher oft noch in ausreichend großer Menge vorhanden, während das Erbgut schon längst verschwunden ist. Die Methode habe nur einen Nachteil: »Die Abfolge der Aminosäuren von Proteinen ist weit weniger aussagekräftig als DNA-Sequenzen.« Für die Paläoproteomik spricht jedoch, dass man mit ihr selbst sehr alten Fossilien und solchen aus warmen Regionen, in denen kein Genmaterial mehr steckt, noch verwertbare Daten entlocken kann.

Was Proteine über die DNA verraten

Eine proteomische Analyse verspricht also, eher einen Treffer zu landen – indem man das Erbgut indirekt entziffert. Denn die DNA codiert die Proteine. Kennt man also den Aufbau eines Proteins, kann man auf das Erbgut des dazugehörigen Organismus zurückschließen. Somit lässt sich ein Denisovaner von einem Neandertaler und von einem Homo sapiens unterscheiden. Die Forschergruppe um Tsutaya und Welker fischte aus dem Unterkiefer Penghu 1 insgesamt 4241 Aminosäuren, die die Bausteine von 51 Proteinen bildeten. Zwei davon identifizierten sie als sicher denisovanisch – ein Protein, das am Zahnschmelzwachstum beteiligt ist, und eines, das im Knochenkollagen steckt. Auch von den übrigen Eiweißen ließen sich einige als wahrscheinlich denisovanisch festmachen.

An diesem Ergebnis gebe es nichts zu rütteln, finden auch Paläoanthropologen, die nicht an der aktuellen »Science«-Studie beteiligt waren. »Ich freue mich sehr«, sagt Jean-Jacques Hublin, der zuvor schon auf Grund der Anatomie Penghu 1 als Denisovaner bestimmte, »dass meine Prognose durch molekulare Beweise bestätigt wurde.« Bence Viola von der University of Toronto stimmt dem zu. »Das ist eine sehr interessante, wenn auch nicht völlig unerwartete Entdeckung« – eben weil unter Fachkollegen bereits die Annahme kursierte, das Kieferstück stamme von einem Denisovaner. »Aber natürlich sind Annahmen nur Annahmen, und man braucht tatsächliche Daten, um sie zu bestätigen«, so Viola.

Am Strand | Bei Ebbe zeigt sich an den Küsten der Penghu-Inseln, wie weit das flache Meer hinausreicht. Unweit der Inselgruppe, die in der Taiwanstraße liegt, kam das Fossil Penghu 1 zum Vorschein.

Die Eiweiße in Penghu 1 verrieten zudem noch ein wichtiges Detail über den einstigen Denisovaner: das Geschlecht. Die Information liefert das Protein Amelogenin, das im Zahnschmelz eingelagert ist. Die Gensequenzen, die Amelogenin codieren, liegen auf den Geschlechtschromosomen und unterscheiden sich je nach Geschlecht in der Länge. Auf dem X-Chromosom ist der Genabschnitt kürzer als auf dem Y-Chromosom. Taucht bei der Analyse also ein Nachweis für Moleküle des Y- und des X-Chromosoms auf, war der Mensch ein Mann – wie im Fall des Unterkiefers Penghu 1.

Denisovaner lebten in allen Lagen

Der Knochen aus dem Meer liefert einiges an neuem Wissen über die Denisovaner. Klar ist nun, dass die Frühmenschen einst ein gigantisches Gebiet bis weit in den Osten Asiens und Südostasiens bevölkert haben. Und diese Tatsache verrät so manches über die Lebensweise der Denisovaner: »Sie scheinen mit einer erstaunlichen Vielfalt an Umgebungen zurechtgekommen zu sein«, sagt Bence Viola. »Von den Wäldern und Grasländern Sibiriens über die Steppen des Hochlands von Tibet bis hin zu den wärmeren und feuchteren Regionen Südostasiens – neben dem modernen Menschen waren sie die einzige Homininenart, die dazu in der Lage war.«

Zudem helfen die neuen Ergebnisse, das Rätsel um das einstige Aussehen der Denisovaner immer weiter zu lüften. Penghu 1 und das Unterkieferfragment aus Baishiya ähneln sich anatomisch. Damit wird wahrscheinlich, dass die Frühmenschen typischerweise mit einem robusten Kiefer ausgestattet waren. In diesem Merkmal unterschieden sie sich von ihren nächsten Verwandten, den Neandertalern. Molekularbiologische Studien legen nahe, dass die beiden Menschenformen vor zirka 400 000 Jahren aus gemeinsamen Vorfahren hervorgegangen waren.

Charakteristisch für die Denisovaner waren offenbar auch gigantische Backenzähne – möglicherweise aber nicht für alle. Laut Tsutaya, Welker und Co sei denkbar, dass nur die Männer unter den Frühmenschen große Zähne aufwiesen. Denn nicht nur Penghu 1, sondern auch zwei große Zähne aus der Denisova-Höhle stammen laut Analysen von Denisovaner-Männern. Unterschieden sich die Geschlechter also deutlich in den Proportionen voneinander? Robuste Männer, grazile Frauen? Noch sei die Beweislage zu dünn für diese These. Sicherheit würden erst weitere Fossilien bringen, die molekularbiologisch den Denisovanern zugeordnet werden können, schreiben die Forscher in »Science«.

Deshalb hat sich die Gruppe längst an diese Arbeit gemacht. »Mit Hilfe unserer Methoden [der Paläoproteomik] untersuchen wir andere Fossilien von Homininen, die möglicherweise Denisovaner waren«, sagt Welker. Und von diesen gibt es einige. »Meiner Ansicht nach gehören die meisten, wenn nicht alle fossilen Homininen aus Ostasien, die auf ein Alter zwischen 50 000 und 400 000 Jahren datiert wurden, zu Stammbaumzweigen, die direkt mit den Denisovanern verwandt sind«, zeigt sich Hublin überzeugt. Um das gesteckte Ziel zu erreichen und »fossile Proteine künftig noch besser untersuchen zu können«, will Welkers Team auch seine Methode weiter verfeinern. Gut möglich also, dass die Denisovaner sehr bald noch weniger geheimnisumwittert sein werden als bisher.

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  • Quellen

Chen, F. et al.: A late Middle Pleistocene Denisovan mandible from the Tibetan Plateau. Nature 569, 2019

Xia, H. et al.: Middle and Late Pleistocene Denisovan subsistence at Baishiya Karst Cave. Nature 632, 2024

Tsutaya, T. et al.: A male Denisovan mandible from Pleistocene Taiwan. Science 388, 2025

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