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Menschenkenntnis: Wie gut können wir Lügen erkennen?

Wann immer wir jemanden reden hören, bilden wir uns bewusst oder unbewusst eine Meinung darüber, ob wir ihm glauben können. Dabei verlassen wir uns auf unsere Augen und Ohren. Zu Recht?
Ermittlerin vernimmt einen Verdächtigen

Im Fernsehen sieht alles ganz einfach aus. Der Verdächtige hebt während der Vernehmung für den Bruchteil einer Sekunde die Mundwinkel: Er freut sich, weil die Ermittler seine Bombe am falschen Ort vermuten. Als der richtige Ortsname fällt, blitzt in seinem Gesicht Zorn auf. Und während er seine Unschuld beteuert, zuckt er mit einer Schulter. Für den Lügenexperten, der ihm gegenübersitzt, ist die Sache nun klar. Die Körpersprache des Verdächtigen widerspricht seinen Worten – er lügt.

Der Lügenexperte in der Serie »Lie to me« ist das Alter Ego von Paul Ekman, 86, dem bekanntesten Lügen- und Emotionsforscher der Welt. Er hat nicht nur die Macher der Serie beraten, sondern auch zahlreiche US-Behörden wie FBI und CIA. Sein Kredo: Die Wahrheit steht uns ins Gesicht geschrieben.

Die Idee hat eine lange Tradition. Eine indische Schrift aus dem Jahr 900 v. Chr. beschreibt einen Giftmörder wie folgt: »Er antwortet nicht auf Fragen oder weicht aus, er spricht Unsinn, reibt die Zehen am Boden und zittert, sein Gesicht ist blass, er reibt die Haut mit den Fingern …«

Anfang des 20. Jahrhunderts soll Sigmund Freud bei einer Fallanalyse gesagt haben: »Wessen Lippen schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen: Aus allen Poren dringt ihm der Verrat.« Seit Mitte des 20. Jahrhunderts versuchen vor allem Sicherheitsbehörden in den USA, der Wahrheit mit einem Lügendetektor auf den Grund zu gehen. Der so genannte Polygraf registriert unter anderem, wie sich Schweißproduktion, Puls und Atem bei kritischen Fragen verändern. In Deutschland haben Lügendetektortests vor Gericht keinen Beweiswert; hier werden Aussagen mit einer Inhaltsanalyse auf Glaubhaftigkeit geprüft. Doch im Alltag, wann immer wir einen anderen Menschen reden hören, suchen wir nach der Wahrheit weiterhin so, wie es schon unsere Vorfahren taten: mit Augen und Ohren.

Paul Ekman | Der Psychologe 2009 im Alter von 75 Jahren, als er vom US-Magazin »Time« zu den 100 einflussreichsten Menschen gezählt wurde, hier bei der Feier in New York.

Ekman war der Erste, der im großen Stil nach direkt beobachtbaren Indizien für Lüge und Wahrheit forschte. Der Psychologe, von 1971 bis 2004 Professor an der University of California, formulierte in den 1960er Jahren die Theorie der universellen menschlichen Mimik für die Grundemotionen Wut, Ekel, Freude, Angst, Trauer und Überraschung. Die beteiligten Gesichtsmuskeln katalogisierte er in einer Art Bestimmungsbuch der Mimik, dem »Facial Action Coding System«. Den Grundstein für seine populäre Lügentheorie legte er 1969 in einem Artikel mit Koautor Wallace Friesen über nonverbale Signale von Patienten. Der Kerngedanke: Emotionen, die eigentlich verborgen bleiben sollen, verraten sich manchmal in der Mimik und in Bewegungen der Arme und Hände, Beine und Füße. Paradebeispiel ist ein kurzer Gesichtsausdruck, der höchstens eine viertel bis halbe Sekunde andauert und für ungeübte Beobachter kaum oder gar nicht wahrnehmbar ist.

Solche Mikroexpressionen, in denen versteckte Gefühle durchsickern, kommen laut Ekman allerdings nicht allzu häufig vor. Öfter beobachte man abgebrochene oder unvollständige Emotionen. Bei gespielter Angst oder Trauer etwa fehlen die charakteristischen Falten auf der Stirn, und bei einem vorgetäuschten, falschen Lächeln sind die Augenmuskeln nicht beteiligt. Ekman sieht in solchen Unstimmigkeiten keinen Beweis, sondern lediglich ein Indiz für eine Täuschung. Und es bedürfe wiederholter oder verschiedener Hinweise – ein einziger genüge nicht. In seinem Buch »Telling lies« behauptet er, in Laborexperimenten könne man Lüge und Wahrheit allein anhand der Mimik zu 80 Prozent unterscheiden und zu 90 Prozent, wenn man Körperbewegungen, Stimme und Sprache hinzuziehe.

Solche Zahlen erscheinen »schlichtweg unplausibel«, kommentiert Maria Hartwig vom John Jay College of Criminal Justice, einer Hochschule für Kriminologie in New York. Laut Forschungsliteratur liegen die Erfolgsquoten in der Regel nur knapp über Zufallstreffern. Selbst wenn Ekman intensives Training voraussetze: Soweit bekannt, habe er nicht eine einzige entsprechende Studie veröffentlicht, die seine Zahlen belegen würde.

»Wenn jemand bei einem Verhör Angst hat, heißt das nicht, dass er lügt«
Kristina Suchotzki, Professorin für Rechtspsychologie an der Universität Mainz

»Ekmans Idee, Mikroexpressionen zum Aufdecken von Täuschung zu verwenden, wird von vielen Forschern nicht besonders ernst genommen«, sagt die Rechtspsychologin Kristina Suchotzki von der Universität Mainz. Nicht nur wegen der fehlenden Empirie: Auch an der Theorie hapere es. »Wenn jemand bei einem Verhör Angst hat, heißt das nicht, dass er lügt. Man kann aus einer Emotion nicht auf eine Täuschung schließen.«

Kristina Suchotzki | Professorin für Rechtspsychologie an der Universität Mainz.

Kristina Suchotzki ist die derzeit aktivste deutsche Lügenforscherin. Sie fahndet vor allem nach Anzeichen der geistigen Anstrengung, die mit falschen Aussagen verbunden ist. Denn zu lügen ist gar nicht so leicht: Man muss die Wahrheit verheimlichen, eine schlüssige Alternativgeschichte erfinden, sich in das Gegenüber hineinversetzen, etwaige verräterische Gefühle im Griff haben und dabei auch noch authentisch wirken. »Bislang wurden Emotionen und Kognitionen meist getrennt untersucht. Ich würde gerne beides zusammenbringen und klären, was genau beim Lügen im Kopf abläuft«, sagt sie. Mikroexpressionen zum Erkennen von Täuschung einzusetzen, hält sie für nicht sehr vielversprechend. »Es fehlt schlichtweg an Studien, die Ekmans Behauptungen stützen.«

Einer der wenigen unabhängigen Tests stammt von Stephen Porter und Leanne ten Brinke aus dem Jahr 2008. Ihre Versuchspersonen sollten angesichts von traurigen, beängstigenden oder fröhlichen Bildern ihre wahren Gefühle verbergen. Wenn sie eine andere Gefühlslage vortäuschten, erschien die Mimik öfter unstimmig. Mikroexpressionen waren auf zwei Prozent aller Momentaufnahmen zu sehen. Sie tauchten bei 22 Prozent der Probanden mindestens einmal auf – allerdings nicht nur dann, wenn sie ihre Gefühle überspielen sollten.

In einem stimmen Ekman und seine Kritiker überein: Menschen sind in der Regel sehr schlechte Lügendetektoren. Die meistzitierte Trefferquote stammt aus einer Metaanalyse und gründet auf Daten von rund 25 000 Versuchspersonen: In 54 Prozent der Fälle lagen sie richtig – was angesichts von je zur Hälfte wahren und falschen Aussagen kaum besser ist, als den Zufall entscheiden zu lassen. Bei reinen Tonaufnahmen lag die Trefferquote mit 63 Prozent höher als bei Videoaufnahmen mit oder ohne Ton – offenbar lenkte das Bild von den relevanten Merkmalen ab. Ob jemand beruflich, sei es als Polizist, Richter oder Psychiater, häufiger mit Lügen zu tun hatte, spielte keine Rolle. Die vermeintlichen Experten waren nicht besser als Laien.

Eltern schätzten ihre Kinder nicht besser ein als Fremde

Doch was, wenn man jemanden so gut kennt wie das eigene Kind? Ein kanadisches Experiment untersuchte, ob Eltern die Lügen ihres Nachwuchses besser erkennen als andere Eltern und Studierende. Alle drei Gruppen bekamen Videos zu sehen, auf denen die 8 bis 16 Jahre alten Kinder Auskunft gaben, ob sie in einem Test verbotenerweise nach den Antworten geguckt hatten. Die Eltern wussten bei ihren Kindern nicht besser zwischen Lüge und Wahrheit zu unterscheiden als Studierende und fremde Eltern. Für alle drei Gruppen galt: Sie hätten ebenso gut eine Münze werfen können, neigten aber dazu, dem eigenen Urteil zu vertrauen und den Kindern zu glauben – die Eltern am meisten.

Einem der Studienautoren, dem Psychologen Kang Lee von der University of Toronto, ließ das offenbar keine Ruhe. In einem Vortrag präsentierte er ein Bild seines Sohnes beim Lügen. Was sich hinter dessen neutralem, nichts sagendem Gesichtsausdruck verbarg, untersuchte Lee mit einem Gerät, das die Durchblutung der Haut misst. Was er dabei entdeckte, nennt er »Pinocchio-Effekt«: In den Wangen sinkt der Blutfluss, in der Nase steigt er.

»Es gibt kein eindeutiges Lügenkennzeichen, nur Indizien, die auf Lügen schließen lassen«
Kristina Suchotzki

»Die Idee, dass die Durchblutung der Nase ein Indiz für Lügen sein könnte, ist absurd«, kommentiert Kristina Suchotzki. »Solche Behauptungen sind gefährlich, denn sie suggerieren, dass die Merkmale auch für die Praxis taugen, etwa am Flughafen.« In einer kontrollierten Situation im Labor sei ein solcher Effekt womöglich nachweisbar. Aber keine Technik könne das Problem lösen, dass vermeintliche Lügenmerkmale auch bei Verdächtigen auftreten, die die Wahrheit sagen. »Es gibt kein eindeutiges Lügenkennzeichen, nur Indizien, die eventuell auf Lügen schließen lassen.«

In einer Metaanalyse von einem Team um Bella DePaulo gingen 14 von 50 erfassten nonverbalen Merkmalen überzufällig oft mit Lügen einher, am deutlichsten erweiterte Pupillen und Anspannung. Am vielsagendsten war jedoch der Eindruck von den Aussagen selbst: Falsche Angaben wirkten eher zögerlich, ambivalent und unsicher. Etwas andere Ergebnisse brachte eine deutsche Metaanalyse über 41 Studien. Die Psychologen von der Universität Gießen fanden bei Lügen vor allem Hinweise auf verstärkte Selbstkontrolle: weniger Bewegungen der Hände, Beine und Füße sowie vermindertes Kopfnicken.

»Die Effekte sind so klein und instabil, dass sie in der Praxis nicht dabei helfen, Lügen zu erkennen«, sagt Kristina Suchotzki. Sprachliche Merkmale hätten sich als etwas aussagekräftiger erwiesen. »Aber auch diese Effekte sind nicht groß und die Befunde womöglich zu optimistisch.«

Der Psychologe Aldert Vrij von der University of Portsmouth, einer der umtriebigsten internationalen Lügenforscher, hält ebenfalls nicht viel von nonverbalen Lügenmerkmalen. »Schwach und unzuverlässig«, lautet sein Fazit in einer Übersichtsarbeit gemeinsam mit Maria Hartwig und Pär Anders Granhag von der Universität Göteborg. Sie erhoffen sich mehr von sprachlichen Hinweisen – obwohl diese kaum enger mit Lügen zusammenhängen als nonverbale Merkmale. Doch man könne sie gut mit Befragungstechniken hervorlocken und verstärken, wie etliche (ihrer eigenen) Experimente gezeigt hätten. Eine so umfangreiche Forschung gebe es für nonverbale Merkmale nicht.

Wenig verwunderlich, denn Sprache lässt sich leichter aufzeichnen. Um Mimik und Gestik verlässlich zu erfassen, bedarf es geschulter Beobachter oder einer aufwändigen Verkabelung von Gesicht und Körper. Erst seit einigen Jahren experimentieren Forschende zunehmend mit computergestützten Methoden wie der automatischen Gesichtserkennung. Diese versprechen neue Erkenntnisse, weil sie große Datenmengen verarbeiten und komplexe Muster identifizieren können.

Vrij, Hartwig und Granhag räumen ein, dass differenziertere nonverbale Merkmale bislang womöglich übersehen oder ignoriert wurden, etwa Subkategorien von Gesten, wie sie Ekman einst definiert hatte. Schaue man genauer hin, so finde man beispielsweise bei wahren Aussagen mehr zeigende Gesten und bei Lügen mehr metaphorische Gesten, wie die Faust als Symbol der Stärke. Von allen nonverbalen Merkmalen hält Vrij bislang die Anzeichen für körperliche Anspannung am ehesten für aussagekräftig, wie er 2020 mit einem Kollegen schreibt. Aber vielleicht werde man noch mehr oder eine Kombination von Kennzeichen entdecken, wenn man sie mit anderen Methoden erfasst.

Als Hartwig und Bond in einer Metaanalyse mit gut 9000 Versuchspersonen verschiedene Verhaltensmerkmale kombinierten, gelang es ihnen immerhin, rund zwei Drittel der Lügen korrekt zu klassifizieren. Die meisten Studien prüfen allerdings nur ausgewählte Merkmale. Ein typisches Laborexperiment kreiert in der Regel auch keine realistische Situation. Es fehlt die echte Interaktion zwischen Fragenden und Befragten, und noch wichtiger: Die Täuschung erfolgt auf Anweisung. Und niemand kann mit Sicherheit sagen, inwieweit und unter welchen Bedingungen sich Laborbefunde überhaupt auf echte Vergehen übertragen lassen.

Damit für die Versuchspersonen etwas auf dem Spiel steht, verspricht man ihnen in der Regel Geld dafür, wenn sie überzeugend wirken. Kristina Suchotzki hat im Dienst der Forschung schon zu härteren Mitteln gegriffen und ihren Probanden leichte Stromschläge angedroht, falls der Computer ihre Aussage für unglaubhaft befinden sollte. Mit der erwarteten Wirkung, wie sie und Matthias Gamer von der Universität Würzburg in einem Experiment feststellten. Bei der Gruppe, die einen Scheindiebstahl begangen hatte, beobachteten sie bei unwahren Antworten einen langsameren Puls und vermehrtes Schwitzen an den Händen, und die Angst vor den Konsequenzen verstärkte diese Unterschiede.

»Unschuldige zeigten echte, das ganze Gesicht umfassende Trauer und Belastung«
Leanne ten Brinke und Stephen Porter in »Law and Human Behavior« 2012

Natürlich haben die Probanden, falls sie nicht glaubhaft erscheinen, im Labor nichts Schlimmes zu befürchten. Viel ernster war die Lage für die unfreiwilligen Untersuchungsobjekte in einer Feldstudie der University of British Columbia. Leanne ten Brinke und Stephen Porter analysierten Videoaufnahmen von 78 Menschen, die sich auf der Suche nach vermissten Angehörigen an die Öffentlichkeit gewandt hatten. Knapp die Hälfte wurde später für schuldig befunden, die vermisste Person getötet zu haben.

In der Körpersprache unterschieden sich die schuldigen nicht von den unschuldigen Angehörigen, wie der Vergleich von 75 000 Standbildern ergab. Aber auf den Gesichtern der Schuldigen tauchten mehr Anzeichen für versteckte Gefühle wie Freude und gespielte Trauer auf, berichten die beiden Autoren. »Unschuldige zeigten echte, das ganze Gesicht umfassende Trauer und Belastung.«

Außerdem verwendeten die Schuldigen mehr als doppelt so viele vage Formulierungen, zum Beispiel: »Somebody's got to know something, somewhere. I think so. I think there's somebody who's got to be running scared, who knows what they're doing.« Echte Appelle klangen klarer, unmittelbarer: »You can't imagine what Sarah means to us. We are a strong family, and we don't survive well apart. We need her home now, today, quickly as we possibly can.«

Eine souveräne Lüge kann glaubhafter wirken als eine gestotterte Wahrheit

So eindrücklich solche Studien sind: Die Probleme der Lügenforschung lösen sie nicht. Die Unterschiede sind klein, Indizien mehrdeutig. Sie bilden nur den Durchschnitt ab und bieten bestenfalls grobe Anhaltspunkte für den Einzelfall. Eine souveräne Lüge kann glaubhafter wirken als eine gestotterte Wahrheit. Denn die meisten Menschen orientieren sich in ihrem Urteil daran, wie kompetent, klar und eindeutig eine Aussage erscheint, stellen Maria Hartwig und Charles Bond in einer Metaanalyse fest. Wenn sie Lügen übersehen, dann nicht, weil sie auf die falschen Signale achten. Sie scheitern vermehrt, wenn eine Vertrauen erweckende Person lügt oder wenn eine unglaubwürdige Person die Wahrheit spricht.

Nicht zu wissen, was in anderen vorgeht, kann uns teuer zu stehen kommen. Ein gutes Gespür für die Wahrheit sollte sich in der Evolution also durchgesetzt haben. Und doch lassen wir uns leicht zum Narren halten. Vielleicht ist das die Kehrseite eines zivilisierten Miteinanders: Die harmlosen, kleinen Alltagslügen haben uns Gutgläubigkeit gelehrt.

Warum meinen dennoch viele Menschen, dass sie Lügen sehen können? Kehrt man die Frage um, liegt die Antwort auf der Hand: Was wäre, wenn sich Lüge und Wahrheit glichen wie ein Ei dem anderen? Wenn Schuldige davonkommen und Unschuldige an ihrer Stelle büßen? Der Gedanke sei schwer zu ertragen, schreibt Maria Hartwig. »Wir wollen daran glauben, dass Lügner sich selbst verraten.«

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