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Massendynamik: Menschen bilden bei Versammlungen überraschende Wirbelmuster

Bisher dachte man, dass Menschenmengen chaotischen Bewegungsmustern folgen. Doch ein Volksfest in Spanien offenbart überraschende Verhaltensweisen in großen Ansammlungen.
Eine große Menschenmenge in weißen und roten Kleidern füllt die engen Straßen einer Stadt während eines Festivals. Die Gebäude sind mit Balkonen gesäumt, auf denen weitere Zuschauer stehen. Einige Balkone sind mit Schildern wie "FARMACIA" dekoriert. Die Szene vermittelt eine festliche und lebendige Atmosphäre.
Tausende von Menschen drängen sich in den Straßen von Pamplona, Spanien, um das San-Fermín-Fest zu feiern.

Große Menschenansammlungen gehören zu den gefährlichsten Situationen der modernen Gesellschaft. Eine der schlimmsten Tragödien in dem Zusammenhang ereignete sich 2010 bei der Loveparade in Duisburg, als es in einem Tunnel zu einem Gedränge kam. Mehrere hundert Menschen wurden dabei verletzt, 21 Personen starben. In der Regel sind es unkontrollierte Bewegungen des Kollektivs, die dazu führen, dass Menschen panisch werden, stürzen oder gegen Wände gepresst werden. Auf der Suche nach den Gründen für dieses Verhalten untersuchte eine französische Forschungsgruppe über mehrere Jahre hinweg ein traditionelles spanisches Fest. Entgegen ihrer Erwartungen beobachtete sie dort etwas Ungewöhnliches: Einige der dicht gedrängten Menschengruppen bildeten »Wirbel« – ein Phänomen, das noch nie zuvor bei Großversammlungen dokumentiert worden war. Damit widerspricht die bei der Fachzeitschrift »Nature« veröffentlichte Studie früheren Beobachtungen, wonach sich Menschen in großen Mengen auf chaotische Weise bewegen.

»Ich habe mich gefragt, was das ist? Warum 18 Sekunden?«, sagt François Gu von der École Normale Supérieure in Lyon und einer der Studienautoren. Er bezieht sich dabei auf die Umlaufdauer der Kreisbewegung. Als er und seine Kollegen das Videomaterial des Straßenfestes mit Computerprogrammen auswerteten, sei das Ergebnis so rätselhaft gewesen, dass sie mehr als einen Monat damit verbracht hätten, die genutzten Methoden zu überprüfen, erklärt Gu. Dann stellte er fest, dass die Wirbel in den Videos deutlicher zu erkennen sind, wenn man es schneller abspielt.

Das San-Fermín-Fest in Pamplona ist berühmt für das gefährliche Stierrennen. Die Tiere werden in die Straßen der Stadt gejagt, und die Teilnehmenden versuchen, den wütenden Stieren auszuweichen. Gu und seine Mitarbeiter konzentrierten sich jedoch auf die Eröffnung des Festes, bei der sich tausende Menschen auf der Plaza Consistorial versammeln.

Die Fachleute brachten Kameras auf Balkonen mit Blick auf den Platz an und analysierten die Videos anschließend mit Hilfe von Computerprogrammen. Um das Verhalten der Menschenmenge zu verstehen, modellierten sie diese als ein dichtes Kontinuum, ähnlich einer Flüssigkeit, die aus einzelnen Teilchen besteht. Damit unterscheidet sich ihr Ansatz von dem anderer Arbeiten, bei denen Menschenmengen als diskrete, einzelne Akteure modelliert wurden.

Menschenstrudel bei hoher Dichte

Wie Gu und sein Team erkannten, erreichte die Menschenmenge am Morgen, als sich das Gelände füllte, eine kritische Dichte von etwa vier Personen pro Quadratmeter. Fortan begann sie – zunächst sehr langsam und fast unmerklich – mehrere rotierende Wirbel aus jeweils hunderten Personen zu bilden, die sich aneinander vorbeischoben.

Die Wirbel drehten sich immer schneller, bis die Umlaufdauer schließlich 18 Sekunden betrug, als die Menschenmenge ihre maximale Dichte erreichte (zu dem Zeitpunkt drängten sich etwa neun Personen auf einem Quadratmeter). Selbst mit 18 Sekunden ist die gesamte Bewegung noch so langsam, dass die Teilnehmenden davon wahrscheinlich nichts mitbekommen haben, vermuten die Autoren der Studie.

»Diese Forschung ist für die Gestaltung lebenswerter Städte und für die Sicherheit von Menschenmengen, insbesondere bei Massenveranstaltungen, von großer Bedeutung«Dirk Helbing, Informatiker

Obwohl die Forscher sich in ihrer Studie nicht direkt mit der Sicherheit großer Ansammlungen befasst haben, können die Ergebnisse Veranstaltungsplanern helfen, potenziell tödliche Massenpaniken zu verhindern. Das Team um Gu fand ähnliche wirbelförmige Muster bei der Analyse von Videos der Duisburger Loveparade.

»Diese Forschung ist für die Gestaltung lebenswerter Städte und für die Sicherheit von Menschenmengen, insbesondere bei Massenveranstaltungen, von großer Bedeutung«, sagt der Informatiker Dirk Helbing von der ETH Zürich, der in seinen Arbeiten über Menschenmengen hauptsächlich chaotische Bewegungen fand. Die kreisförmigen Muster seien ein interessantes Detail, das in der Vergangenheit noch nicht untersucht worden sei.

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