Menschenmengen: Wann Chaos ausbricht

Wenn sich Personen in großen Menschenmengen bewegen, tun sie das oft auf geordneten Bahnen. Das passiere, ohne dass wir überhaupt wüssten, warum wir uns so verhalten, berichtet Iker Zuriguel, Physiker an der Universität von Navarra in Spanien. Aber manchmal, zum Beispiel an Fußgängerüberwegen während der Hauptverkehrszeiten, verwandelt sich diese Ordnung in ein völliges Chaos. Nun sind Mathematiker mit physikalischen Modellen und Experimenten in Sporthallen, den Ursachen dieses Phänomens auf den Grund gegangen. Dabei stießen sie auf einen »kritischen Winkel« für die Bewegung der Menschenmenge – 13 Grad –, der erklärt, warum es auf überfüllten Gehwege manchmal zum Stillstand kommt.
Dieses Wissen ist nicht nur während der Hauptverkehrszeit nützlich. »Eine Menschenmenge [effizient] zu managen – in Zügen, bei Konzerten, sogar auf der Straße – ist sehr wichtig« für die Sicherheit und die Stadtentwicklung, erklärt Zuriguel, der nicht an der neuen Studie beteiligt war. Für die Arbeit, die in den »Proceedings of the National Academy of Sciences USA« veröffentlicht wurde, baten Mathematiker Probanden, von einer Seite einer Turnhalle auf die andere zu gehen, ohne mit jemandem zusammenzustoßen. Alle Teilnehmenden trugen dabei ein Papierhütchen mit einem Strichcode, damit ihre individuellen Bewegungen nachverfolgt werden konnten.
Die Forschenden betrachteten jede Person als ein »Teilchen« in einem physikalischen Modell – eine Methode, mit der sie zuvor gezeigt hatten, dass sich Personen in Menschenmengen in geordneten Bahnen bewegen. Aber das ist im wirklichen Leben natürlich nicht immer der Fall. »Menschen sind keine perfekten Teilchen; wir idealisieren sie ein wenig«, erklärt Studienautor Karol Bacik, angewandter Mathematiker am Massachusetts Institute of Technology. »Sie haben einen freien Willen« und oft unterschiedliche Ziele. Die Menschen bilden geordnete Bahnen, »wenn es ihnen passt, und dann können sie sich wieder trennen«, fügt der Mitautor der Studie, Tim Rogers, ein Mathematiker an der University of Bath in England, hinzu.
Die Forscher wollten testen, welche Faktoren die natürlich vorkommenden Pfade, auf denen sich Menschen durch Massen bewegen, stören. Zunächst dachten Bacik und Rogers, dass ein paar »Ausreißer« das Problem sein könnten, die wahllos über die Spur laufen. Allerdings konnten sie keine bestimmte Anzahl von Abweichlern ausmachen, ab der der Fußgängerverkehr zusammenbrach. Stattdessen maßen die Forscher die Abweichung der gesamten Menschenmenge, indem sie die Winkel, in denen jeder Teilnehmende lief, mittelten und so eine durchschnittliche Abweichung von einer geraden Laufrichtung erhielten. In der überfüllten Turnhalle wiesen die Forscher die Teilnehmenden an, verschiedene Szenarien durchzuspielen. In einer Runde wurden alle aufgefordert, so gerade wie möglich durch die Halle zu gehen – oder mit praktisch null Grad Abweichung. Dies führte erwartungsgemäß zur Bildung von Gassen. In anderen Versuchen wurden jedoch alle Teilnehmenden angewiesen, in verschiedene Richtungen abzubiegen, wodurch sich der Winkel, in dem die Teilnehmer aneinander vorbei schritten, vergrößerte.
Wich der durchschnittliche Laufwinkel der Menschenmenge um 13 Grad oder mehr von einer geraden Linie ab, brach der Fluss in eine völlig zufällige Struktur – mit anderen Worten in ein Chaos – zusammen. Dies mag wie eine relativ geringe Abweichung von »geradeaus« erscheinen, reichte aber aus, damit sich die Wege der Teilnehmenden so stark überschnitten, dass sie innehalten, ausweichen und umlenken mussten, was einen einfachen Strom des Fußgängerverkehrs behinderte.
Das Wissen über diesen »Chaos«-Winkel ist für Bauplaner und Ingenieure nützlicher als für einzelne Fußgänger, die zwar ihr eigenes Verhalten kontrollieren können, nicht aber das der anderen. »In der realen Welt wird jede Situation anders sein«, sagt Rogers. Aber die physikalischen und mathematischen Grundlagen bei der Bewegung von Menschenmengen können neue Perspektiven bei der Gestaltung von öffentlichen Räumen bieten – seien es Sporthallen, Stadien, Bürgersteige oder Fußgängerüberwege.
»Wenn man Räume entwirft, die von Fußgängern genutzt werden sollen«, so Rogers, »sollte man darüber nachdenken, welche Bewegungseinschränkungen es gibt, welche Ziele und Ausgangspunkte. Die Berücksichtigung von Laufwinkeln könnte schöne, glatte Bahnen beim Fußgängerverkehr ermöglichen.«

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