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Merit-Order-Prinzip: Warum teures Gas auch den Strompreis mit nach oben reißt

Zuletzt kannte der Strompreis in Deutschland nur eine Richtung: steil nach oben. Woran das liegt und wie sich das künftig verhindern lässt.
Strommast im Sonnenuntergang
Wegen der steigenden Gaspreise kennen auch die Strompreise derzeit nur eine Richtung: himmelwärts.

Das Kunststoffspritzguss-Unternehmen Rudolf Geitz im bayerischen Dinkelsbühl verbraucht etwa eine Million Kilowattstunden Strom im Jahr. Der Stromliefervertrag, der bis Ende 2021 lief, sah einen Preis von knapp fünf Cent pro Kilowattstunde vor. Frühzeitig versuchte die Geschäftsführung einen neuen Vertrag zu verhandeln und stellte fest: Der Stromgrundpreis hatte sich in der Zwischenzeit nahezu verdoppelt. »Nachdem die Preise immer weiter stiegen, wagten wir es letztlich nicht, zu diesen unglaublich hohen Preisen einen längerfristigen Stromvertrag abzuschließen«, sagt der Geschäftsführer Christian Schabert. Die Geschäftsleitung sah sich gezwungen, ihren Strom ab dem 1. Januar 2022 direkt an der Strombörse einzukaufen.

Zuletzt kannte der Strompreis in Deutschland nur eine Richtung: himmelwärts. Dabei stammen fast drei Viertel des Stroms von Anbietern, deren Erzeugerpreise nicht gestiegen sind. Trotzdem zahlen Privatkunden aktuell oft doppelt so viel wie noch vor drei Jahren, und manche Industriefirmen teils das Zehnfache (siehe folgende Grafik). Seit Februar 2022 treibt nun auch der russische Angriffskrieg in der Ukraine die Tarife auf nie gekannte Gipfel.

Strom- und Gaspreisentwicklung | Die Börsenpreise für Strom und Gas bewegten sich 2022 im Gleichschritt steil nach oben. Die Kurve »Base 2023« im Diagramm bezeichnet eine durchgehende Lieferung von Strom bzw. Gas über das gesamte Jahr 2023. Die Kurve »Folgemonat« zeigt den an der Strombörse gehandelten Preis für eine durchgehende Lieferung im jeweils folgenden Monat an. Die Forschungsstelle für Energiewirtschaft in München aktualisiert die Preisverläufe wöchentlich.

Nach einer kurzen Beruhigung der fortlaufenden Preissteigerungen sei es im August 2022 schließlich fast untragbar geworden, erzählt Schabert: »Der Strompreis ist für uns innerhalb von 14 Tagen von bereits unerträglichen 35 Cent pro Kilowattstunde sogar auf mehr als 50 Cent gestiegen.«

Diese Preisexplosion erscheint auf den ersten Blick nicht plausibel. 40 Prozent des Stroms in Deutschland stammte im Jahr 2021 aus erneuerbaren Quellen, weitere 19 Prozent aus Braunkohle und knapp 12 Prozent aus Atomkraft. Die Konzerne, die den Strom produzieren, tun dies weiterhin zu unveränderten Preisen. Lediglich Erdgas wurde sehr viel teurer. Und doch hängt der Preis für den an der Strombörse, dem so genannten Spotmarkt, gehandelten Strom direkt am Gaspreis. Wie kann das sein?

Strom als Ware

Bis 1998 war der Strommarkt in Deutschland strikt reguliert. Regionale Unternehmen erzeugten und verteilten den Strom, den die Stadtwerke dann den Kunden in Rechnung stellten. Dann öffnete Deutschland auf Druck der EU den Markt, und seitdem gibt es Erzeuger, Händler, Netzbetreiber, Großkunden und Privatkunden. Strom ist zur Ware geworden, Preise und Mengen sind verhandelbar. Derzeit kaufen Großkunden, also Industrieunternehmen oder Stadtwerke, etwa die Hälfte des Stroms – meist über spezialisierte Broker – direkt bei den Erzeugern ein, jedoch mit abnehmender Tendenz. Volumen, Preise und Vertragslaufzeit bleiben dabei vertraulich. Die andere Hälfte wird an der Strombörse gehandelt. Hier sind die Vertragskonditionen öffentlich einsehbar, ähnlich wie die Kurse an den Aktienbörsen.

In Europa wickelt die EEX (European Energy Exchange) in Leipzig den größten Teil des Börsenhandels ab. Ein großer Teil der Stromkontingente wird als so genannte »Futures« gehandelt, größere Pakete, die bis zu sechs Jahre im Voraus gekauft oder verkauft werden. Die Stromkunden an der Börse – größere Industriefirmen, Stromhändler oder Stadtwerke – decken sich gerne damit ein, weil sie ihre Kosten dann auf Jahre hinaus planen können. Natürlich wissen sie nicht, wie viel Strom sie im Jahr 2023 oder gar 2025 genau brauchen werden. Also kaufen sie einen Teil am Spotmarkt zu. Die EEX-Tochter EPEX SPOT mit Sitz in Paris wickelt diese kurzfristigen Verträge ab. Dabei geht es um Strom für den nächsten Tag, den so genannten Day-Ahead-Markt, oder für den gleichen Tag bis zu fünf Minuten vor Lieferung.

Im Day-Ahead-Markt geben die Anbieter an, wie viel Strom sie für welchen Preis am Folgetag zur Verfügung stellen können. Die günstigsten erhalten den Zuschlag zuerst, bis die Nachfrage schließlich gedeckt ist. Die teuersten Anbieter müssen also damit rechnen, dass ihr Angebot nicht angenommen wird. Allerdings hat die Sache einen Haken: Der teuerste Anbieter, der gerade noch berücksichtigt wird, bestimmt den Börsenpreis, zu dem alle Geschäfte abgewickelt werden (Markträumungspreis). Dieses Verfahren ist als Merit-Order-Prinzip bekannt (siehe folgende Grafiken).

Merit-Order-Prinzip vor dem Jahr 2020 | Gezeigt sind die verschiedenen Energieträger, die an der Strombörse gehandelt werden, aufsteigend geordnet nach Angebotspreis. Das letzte Kraftwerk, das noch gebraucht wird, um den Strombedarf zu decken, bestimmt den Strompreis, den alle Anbieter pro Megawattstunde erhalten. (schematische Darstellung)
Merit-Order-Prinzip seit dem Jahr 2022 | Weil immer auch Gaskraftwerke gebraucht werden, um den Strombedarf in Deutschland zu decken, ist der Strompreis wegen des massiv gestiegenen Gaspreises im Jahr 2022 rasant gestiegen. (schematische Darstellung)

Das hat so lange gut funktioniert, wie alle Stromerzeuger ihre »Ware« zu ähnlichen Preisen anboten. Doch dann schnellte in der zweiten Jahreshälfte 2021 der Gaspreis plötzlich nach oben. Weil aber fast immer auch Gaskraftwerke benötigt wurden, um die Nachfrage auf dem Spotmarkt befriedigen zu können, bestimmten sie den Strompreis. Und so stieg der Börsenpreis im Day-Ahead-Markt plötzlich im Gleichtakt mit dem Gaspreis an und brachte immer mehr Börsenteilnehmer in Schwierigkeiten. Besonders Energiediscounter, die Strom über kurzfristige Verträge möglichst günstig einkaufen, aber ihre Kunden mit langfristiger Preisbindung locken, gerieten unter Druck. Einige mussten ihr Geschäft ganz einstellen. Ihre Kunden wurden von den örtlichen Stadtwerken aufgefangen – die mussten sich allerdings zu den extrem gestiegenen Großhandelspreisen mit zusätzlichen Stromkontingenten versorgen, und so zahlten die Neukunden zu ihrem Entsetzen bis zu 90 Cent pro Kilowattstunde.

Es ist bereits absehbar, dass sich das in naher Zukunft auf alle Stromverträge auswirken und auch der normale Durchschnittsbürger in Deutschland sehr viel höhere Preise bezahlen wird. Die Futures für 2023 an der EEX werden schon jetzt mit mehr als 60 Cent pro Kilowattstunde gehandelt.

Die Stromanbieter profitieren jedoch nicht gleichmäßig von dem plötzlichen Preisschub. Betreiber von Atom- und Kohlekraftwerken können ihre Kapazität gut planen und haben ihren Strom oft schon Jahre im Voraus verkauft – gut für die Kunden, denn der plötzliche Preisanstieg am Spotmarkt betraf diese Verträge nicht. Die Ausbeute aus erneuerbaren Energien lässt sich deutlich schlechter vorhersagen – niemand weiß, wie stark der Wind in sechs Monaten weht oder wie häufig 2023 die Sonne scheinen wird. Also wird Strom aus Windkraft und Solaranlagen hauptsächlich über den kurzfristigen Spotmarkt gehandelt. Die Anbieter verdienen dadurch plötzlich sehr viel Geld. Der Marktwert des Stroms aus Windkraftanlagen an Land lag im Jahr 2020 im Jahresmittel unter 3 Cent, im Juli 2022 war er bereits auf 27,8 Cent gestiegen. »Windfall Profits«, zu Deutsch Marktlagengewinne, nennt man einen solchen Geldsegen, der ohne eigenes Zutun erreicht wird. Kein Wunder also, dass die Preisbildung an der Strombörse in die Kritik geraten ist.

Das letzte Kraftwerk am Netz bestimmt den Preis

»Es kann nicht sein, dass das letzte Gaskraftwerk am Netz den Gesamtstrompreis bestimmt«, sagt beispielsweise Bernd Westphal, der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Trotzdem verteidigen die meisten Experten dieses so genannte Merit-Order-Prinzip. Serafin von Roon, Geschäftsführer der Forschungsstelle für Energiewirtschaft, eines Vereins mit Sitz in München, sagt: »Das Merit-Order-Prinzip ist grundsätzlich sinnvoll, weil die preiswerteren Anbieter damit Deckungsbeiträge machen und ihre Investitionen refinanzieren können.«

Anders ausgedrückt: Wer zu den geringsten Kosten produziert, verdient am meisten Geld. Auf Dauer sollten so immer mehr preiswerte Anbieter am Markt auftauchen, so dass auch das preisbestimmende höchste Gebot immer niedriger ausfällt.

Aber von Roon gibt zu: »Bei den jetzigen Verwerfungen am Markt führt das System zu kurzfristigen Schieflagen.« Denn: »Der hohe Strompreis sollte unter marktwirtschaftlichen Bedingungen dazu führen, dass neue Windkraftanlagen schneller gebaut werden, weil sie außerordentlich profitabel sind. Wegen der Lieferkettenprobleme und der langen Planungs- und Genehmigungsverfahren verläuft die Anpassung jedoch zu langsam.«

»Ein schneller Ausbau der Erneuerbaren könnte das Problem langfristig lösen. Komplementären Maßnahmen wie dem Ausbau von Speichern wird aber bisher zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet«Justus Haucap, Wirtschaftswissenschaftler

Was also tun? Auch die Fachleute wissen im Moment nicht so recht weiter. »Eine Wunderlösung sehe ich nicht«, sagt Justus Haucap, Direktor des Düsseldorf Institute for Competition Economics an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. »Ein schneller Ausbau der Erneuerbaren könnte das Problem langfristig lösen. Komplementären Maßnahmen wie dem Ausbau von Speichern wird aber bisher zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet.«

Die Politik tut sich schwer, plausible Lösungen zu präsentieren. Das Bundeswirtschaftsministerium antwortete am 16. August 2022 auf die Anfrage der CDU-Abgeordneten Maria-Lena Weiss, ob die Bundesregierung eine Abschaffung des Merit-Order-Prinzips plane, unter anderem mit: »Das Merit-Order-Prinzip sorgt in diesem Mechanismus für einen effizienten Einsatz des Kraftwerksparks, das heißt, der Strom wird im Grundsatz jederzeit von den kostengünstigsten Anbietern geliefert.« Gleich danach schrieb das Ministerium jedoch: »Auf nationaler und europäischer Ebene werden derzeit sehr verschiedene Modelle diskutiert, wie die Strompreise für Verbraucher effektiv gesenkt werden können.«

Griechenland legt unverbindlichen Vorschlag vor

Unter diesen Modellen ist zum Beispiel eines, das als »Pay-as-bid« bekannt ist. Jeder Anbieter soll den Preis erhalten, den er geboten hat. Dann müsste der Gesamtpreis deutlich sinken, weil die Gaskraftwerke mit Abstand am teuersten sind. Die Europäische Kommission ist davon jedoch nicht überzeugt. Sie schreibt: »Die Alternative würde nicht zu günstigeren Preisen führen. Beim Pay-as-bid-Modell würden die Erzeuger (einschließlich der billigen erneuerbaren Energien) einfach zum erwarteten Markträumungspreis bieten und nicht zum Nulltarif oder zu ihren Herstellungskosten.«

Vereinfacht gesagt: Jeder Marktteilnehmer kann sich ungefähr ausrechnen, zu welchem Preis die Gaskraftwerke liefern können, und bleibt einfach knapp darunter. Der Preis würde dann vielleicht um einige Prozent sinken, aber nicht annähernd so stark wie gewünscht und erwartet.

Griechenland hat Ende Juli bei der außerplanmäßigen Sitzung der EU-Energieminister einen unverbindlichen Vorschlag (im EU-Jargon ein »Nonpaper«) vorgelegt, der die Stromverbraucher in der EU um mindestens 280 Milliarden Euro entlasten soll. Um ihn zu verstehen, muss man zunächst den Begriff »Grenzkosten« kennen. In der Wirtschaft versteht man darunter die Kosten für die Herstellung eines weiteren Produkts. Wenn ein Unternehmen beispielsweise 100 Autos produziert, dann sind die Grenzkosten definiert als der zusätzliche Aufwand für das 101. Auto. Bei Windenergie und Fotovoltaik sind diese Kosten extrem gering. Wenn die Windkraftanlage einmal aufgestellt ist oder die Solarmodule aufs Dach geschraubt sind, dann entstehen für die Stromherstellung kaum zusätzlichen Kosten. Bei Kernkraftwerken ist es ähnlich: Verglichen mit der Errichtung der Anlagen sind die Kosten für die Brennelemente eher gering. Anders bei den fossilen Kraftwerken. Hier bestimmt der Brennstoff die Kosten. Wer Gas für 20 Cent pro Kilowattstunde einkauft und es mit einem Wirkungsgrad von 50 Prozent in Strom verwandelt, den kostet jede Kilowattstunde mindestens 40 Cent. Billiger kann der Erzeuger den Strom nicht anbieten.

Griechenland hat jetzt vorgeschlagen, den Markt aufzuteilen. Zunächst kommen die Anbieter mit geringen Grenzkosten zum Zuge. Sie erhalten einen festen Betrag pro Kilowattstunde. Der fällt vergleichsweise niedrig aus, erlaubt den Anbietern aber immer noch, ausreichend Geld zu verdienen. Den übrigen Strom liefern die fossilen Kraftwerke. Der Preis dafür wird weiterhin nach dem Merit-Order-Verfahren ermittelt. Der Endpreis ergibt sich dann als volumengewichteter Mittelwert. Italien, Zypern, Frankreich und Spanien unterstützen das Nonpaper, während Luxemburg und Dänemark eher skeptisch sind. Robert Habeck nannte den griechischen Vorschlag zumindest diskussionswürdig. Das Thema wird auch auf der Tagesordnung des Treffens der Energieminister am 25. Oktober stehen.

Spanien und Portugal haben das Problem bereits erkannt und entsprechend gehandelt. Ihr gemeinsames Netz ist weitgehend autark, weil nur sehr wenige Hochspannungsleitungen über die Pyrenäen führen. Die beiden Länder reduzieren bereits seit Mitte Juni nach einer recht komplizierten Formel die Preise für fossile Brennstoffe, die in ihren Kraftwerken verbrannt werden. Der Staat ersetzt den Betreibern die Differenz. Dadurch sank der Strompreis an den Börsen zwar sofort deutlich ab, aber der Gasverbrauch für die Stromerzeugung nahm deutlich zu. Damit hat die iberische Regelung hier zu Lande keine Chance, denn Deutschland muss Gas einsparen.

Langfristig wollen sowohl die Bundesregierung als auch die EU-Kommission das Marktdesign für den Stromhandel reformieren, wobei die Kommission allerdings der Auffassung ist, »dass die derzeitige Strommarktgestaltung einen effizienten, gut integrierten Markt hervorbringt«. Aber, so heißt es in der Mitteilung der Kommission vom 28. Mai 2022: »In einigen Bereichen sollte die Gestaltung des EU-Strommarktes jedoch angepasst werden, um der künftigen Energielandschaft und dem künftigen Energieerzeugungsmix, neu aufkommenden Technologien, geopolitischen Entwicklungen sowie den Lehren aus der aktuellen Krise Rechnung zu tragen.«

Der Zeitrahmen für mögliche Anpassungen liegt bei mindestens einem Jahr. Für die von den Strom- und Gaspreisen gebeutelten Firmen und Verbraucher ist das kein Trost. Sie müssen darauf hoffen, dass die Bundesregierung rechtzeitig passend zugeschnittene Hilfspakete auf den Weg bringt. Auch Robert Habeck hat das Problem offenbar aufgegriffen und plant, ähnlich wie im griechischen Modell vorgesehen, den Strompreis vom Gaspreis abzukoppeln. »Die Wirkung«, so heißt es, werde aber erst »mittelfristig« eintreten. Die Zeit der billigen Energie jedenfalls ist erst einmal vorbei.

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