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Katalyse: Der Traum von der mikrobiellen Chemiefabrik

Forscher erschaffen im Labor künstliche Metalloenzyme. Ihr Ziel: Mikroorganismen beizubringen, wertvolle Chemikalien herzustellen. Ein wichtiger Schritt ist nun gelungen.
Nahaufnahme einer Häm-Gruppe

Im Jahr 2016 unternahm der Chemiker John F. Hartwig etwas, was rückblickend als erster Schritt hin zu einem wissenschaftlichen Durchbruch gelten kann: Er tauschte in einem als »Häm« bekannten Molekülkomplex ein Eisenatom gegen das seltene Schwermetall Iridium aus. Im Körper ist es im Zentrum des Proteins Hämoglobin für den Sauerstofftransport zuständig. Doch der Forscher von der University of Berkeley in Kalifornien hatte mit seinem Iridium-Häm-Komplex etwas anderes vor: Er brachte das veränderte Molekül mit einem speziellen Protein zusammen und schuf damit ein Metalloenzym, einen neuartigen Katalysator, der auf Zellebene Reaktionen ermöglicht, die es in der Natur sonst nicht gibt.

Seit Jahren arbeiten Fachleute daran, Enzyme mit neuen Fähigkeiten auszustatten, so dass man sie auch für die Chemie nutzen kann. Etwa, indem sie sie durch gerichtete Evolution verändern wie die 2018 mit dem Nobelpreis gekürte Biologin Frances Arnold oder indem sie neuartige Proteine mit nicht natürlichen Aminosäuren erschaffen. Allerdings sind die meisten Moleküle, die Menschen gerne synthetisch herstellen wollen, ganz anders als natürlich gebildete Substanzen. Oft sind deswegen die natürlich vorkommenden Enzyme nutzlos – ob im Labor verbessert oder nicht.

Einen komplett anderen Ansatz verfolgen Wissenschaftler wie John Hartwig, die an künstlichen Metalloenzymen forschen (kurz ArMs nach dem englischen »artificial metalloenzymes«). Statt sich um die Aminosäuresequenz zu kümmern und damit letztlich auf die dreidimensionale Struktur des Proteins zu fokussieren, entwickeln sie Enzyme, die ein im Labor künstlich eingefügtes Metallatom im Zentrum tragen.

Viele lebenswichtige Proteine nehmen ihre Funktion erst auf, wenn sie sich mit einem Metallkomplex zusammenlagern, oft Kofaktor genannt. Hämoglobin etwa kann den Sauerstoff in unserem Blut nur deshalb transportieren, weil es an entsprechender Stelle jenen Häm-Komplex trägt: ein organisches Molekül namens Porphyrin, in dessen Mitte sich ein Eisenion befindet.

In ähnlicher Weise besitzen viele weitere Enzyme, die eine biologische Schlüsselrolle spielen, Metallzentren: Die Klasse der Cytochrome P450, die an zahlreichen Stoffwechselprozessen beteiligt sind, verfügt ebenfalls über einen Häm-Komplex, und die für die Stickstofffixierung essenzielle Nitrogenase beherbergt einen Komplex aus Eisen und Molybdän.

Kombination zweier bewährter Katalyse-Konzepte

Metalloenzyme vereinen damit zwei sehr erfolgreiche Konzepte zur Herstellung von Molekülen, nämlich die Metall- und die Enzymkatalyse. Dabei bestimmen das Metallzentrum und seine direkte Umgebung, welche Reaktion katalysiert wird und wie schnell sie abläuft. Die dreidimensionale Proteinstruktur sorgt dabei für die molekulare Erkennung – das für Enzyme typische Schlüssel-Schloss-Prinzip – und dirigiert genau diejenigen Stoffe zum Zentrum, die umgesetzt werden sollen. Aus diesem Grund sind Enzyme hochselektiv. Unter anderem sind sie Meister darin, zwischen Molekülen mit »Händigkeit« zu unterscheiden – also solchen, von denen es spiegelbildliche Versionen gibt. Obwohl sich die Varianten chemisch gleich verhalten, wirken sie physiologisch unterschiedlich. Durch ihre dreidimensionale Struktur stellen Enzyme gezielt eins der Spiegelbilder her. Für die Synthese neuer medizinischer Wirkstoffe ist diese Selektivität essenziell.

Da in der Chemie schon sehr viel über Metallkatalyse bekannt ist, bietet es sich an, beide Prinzipien zu kombinieren. Metallkatalysatoren lassen sich auf nahezu jede Reaktion genau zuschneiden – auch, weil man die ganze Bandbreite der Metalle nutzt statt nur einige wenige wie in der Biologie. Die Proteine dagegen sorgen dafür, dass diese Reaktionen hochpräzise und selektiv ablaufen.

Möglicherweise werde man eines Tages maßgeschneiderte Katalysatoren für jede beliebige Laborreaktion entwickeln können, die in Verbindung mit dem richtigen Protein hochselektiv arbeiten, sagte John F. Hartwig bei einem Pressegespräch im Juni 2022 in Darmstadt. Schaltet man verschiedene solcher künstlichen Metalloenzyme hintereinander, ließe sich eine lebende Zelle in eine Miniaturfabrik verwandeln. Die Mikroben würden dann zu einer Synthesemaschine für Chemikalien, die man bislang im Labor und in großtechnischen Anlagen produziert.

Idee gibt es seit den 1950er Jahren

So weit die Vision. Die Idee, künstliche Metalloenzyme zu schaffen, hatten Forschungsgruppen bereits in den 1950er Jahren. Doch damals kam die Arbeit auf dem Gebiet schnell zum Erliegen. Es fehlten schlicht die Werkzeuge, Proteine gezielt zu verändern. Heute lassen sich Proteine durch Geneditierung quasi maßschneidern, automatisiert herstellen und durch gerichtete Evolution verändern.

Dadurch sind künstliche Metalloenzyme im Labor vergleichsweise leicht herzustellen: Man entwickelt einen metallorganischen Katalysator – zum Beispiel das mit Iridium versehene Häm – für die gewünschte Reaktion und bringt ihn dann mit einem speziell an ihn angepassten Protein zusammen.

Die Schwierigkeit besteht vor allem darin, das System in eine lebende Zelle zu schleusen und dort zum Arbeiten zu bringen. Noch bis vor Kurzem war das nicht möglich. Am weitesten kam bislang der Chemiker Thomas R. Ward von der Universität Basel. Seine Forschungsgruppe schaffte es beispielsweise 2016 und 2018, mit Hilfe künstlicher Metalloenzyme nicht natürliche Reaktionen im Periplasma einer Zelle zu katalysieren, dem Raum zwischen äußerer und innerer Membran.

Dort arbeitete das von Ward ersonnene Metalloenzym wie gewünscht als Metathese-Katalysator – es knüpfte zwischen zwei Kohlenstoffatomen eines Moleküls eine neue Bindung. Solch eine Reaktion ist in der synthetischen Chemie und vor allem der Pharmaindustrie von ungeheurem Nutzen, um komplizierte Wirkstoffmoleküle aufzubauen. Doch das eigentliche Ziel ist es, eine solche Reaktion im Zytoplasma in Gang zu bringen, dem Inneren der Zelle.

Und der Erste, der das geschafft hat, ist John F. Hartwig – und zwar mit seiner bereits 2016 erprobten Kombination aus Iridium, Porphyrin und dem Protein CYP119. Sein Forschungsteam schleuste das künstliche Metalloenzym mit Hilfe einiger mikrobiologischer Tricks ins Zytoplasma eines E.-coli-Bakterienstamms. Die Mikroben verwandelten mit dessen Hilfe das Terpen Limonen zu einer Substanz, die einen Kohlenstoff-Dreiring trägt. Solche Cyclopropyl-Ringe findet man häufig in Medikamenten oder auch Pflanzenschutzmitteln. In der Natur gibt es diese Reaktion nicht.

Dazu muss der Metallkomplex seinen Weg ins Innere der Zelle finden und sich dort mit dem richtigen Protein verbinden. Doch die Aufgabe ist keineswegs simpel. Hartwig tat sich dazu mit Aindrila Mukhopadhyay zusammen, die an Membrantransport und Signalwegen in Mikroorganismen forscht, sowie mit dem Biochemiker Jay D. Keasling, der an künstlichen Stoffwechselwegen arbeitet.

Stoffwechsel der Bakterien modifiziert

Zunächst mussten die Fachleute einige Änderungen an dem Bakterium vornehmen, das ihnen als »Fabrik« diente. Um die Barrieren der Zelle zu überwinden, nutzten die Forscherinnen und Forscher ein Transportsystem, wie es im Bakterium Plesiomonas shigelloides vorkommt. Es schleust Häm-Komplexe in die Zelle und eignet sich daher ideal für den modifizierten Iridium-Häm-Komplex. Also setzten sie einem Bakterienstamm von E. coli jene Gene ein, die für die Herstellung des Transportkomplexes verantwortlich sind.

Auf die gleiche Weise brachten sie die Zelle dazu, das benötigte Protein CYP119 herzustellen, das sich mit dem Metallkatalysator zum gewünschten Enzym zusammenlagern sollte. Und auch den natürlichen Stoffwechselweg des Bakteriums veränderten sie nach ihren Wünschen: Statt wie normalerweise Carvon sollte es das strukturell ähnliche Molekül Limonen herstellen.

Zu einer Lösung mit dem modifizierten Bakterienstamm gaben die Fachleute nun den künstlichen Iridiumkomplex hinzu. Außerdem brauchte es noch ein Hilfsmolekül, das an der Reaktion zum Dreiring beteiligt ist. Und tatsächlich: Die Bakterien nahmen dank des Transporterproteins das iridiumhaltige Katalysatormolekül auf und stellten das gewünschte Produkt Cyclopropyl-Limonen her. Und nicht nur das: Die anderen Stoffwechselprozesse der Zelle blieben unbeeinträchtigt von dem neuen Prozess.

Das nämlich ist einerseits wichtig und andererseits schwierig, weil in einer Zelle ständig Stoffwechselprozesse ablaufen. Weder die neue »Aufgabe« noch die dafür nötigen Stoffe dürfen die anderen Stoffwechselwege beeinträchtigen, wenn der Organismus weiterleben soll. Umgekehrt dürfen die unzähligen Moleküle und Reaktionen der Zelle den neuen, gewünschten Prozess nicht stören.

Die Reaktion zeigt zwar, dass der Prozess funktioniert. Die großen Vorteile der künstlichen Metalloenzyme gegenüber klassischen chemischen Metallkatalysatoren kann dieses System allerdings noch nicht ausspielen. Es existieren vier Limonen-Versionen, die sich in ihrer biologischen Wirkung unterscheiden, chemisch aber absolut identisch reagieren. Idealerweise würde Hartwigs Design-Enzym nur eine einzige Form entstehen lassen.

In der Zelle funktioniert das Enzym selektiver

Das passiert in diesem Modell noch nicht. Der Grund: CYP119 ist darauf ausgerichtet, sehr viele unterschiedliche Stoffe reagieren zu lassen. Entsprechend entstand keine der vier Formen in deutlich größeren Mengen als die anderen, egal ob John F. Hartwig für die Reaktion den reinen Metallkomplex oder das Design-Metalloprotein nutzte.

Dafür zeigt das Experiment einen überraschenden Effekt: In der Zelle funktioniert das Enzym selektiver. Dort produzierte es von einer Variante deutlich mehr als von den anderen dreien zusammen. Der Grund ist unklar. Möglicherweise sind Metalloproteine in der Zelle stabiler, oder Bestandteile des Zytoplasmas beeinflussen ebenfalls, wie selektiv ein Protein ist.

»Enzyme erreichen eine Selektivität, die über andere Wege nicht vorstellbar ist«John F. Hartwig, Chemiker

Für den Erfolg der Metalloproteine ist langfristig entscheidend, dass die Zellfabriken nur eine von mehreren möglichen Varianten produzieren. Denn in der Regel hat lediglich eine die gewünschte Wirkung. Der Chemiker Hartwig glaubt jedenfalls an den Durchbruch der Metalloproteine. »Enzyme erreichen eine Selektivität, die über andere Wege nicht vorstellbar ist«, sagt er. Das betreffe nicht nur die Unterscheidung zwischen spiegelbildlichen Formen. Auch die Frage, wo im Molekül eine Reaktion abläuft, wenn sich zwei gleiche chemische Gruppen an verschiedenen Stellen befinden, könne man besser steuern: »Mit kleinen Molekülen ist das unmöglich.«

Dafür hat Hartwig auch schon ein konkretes Ziel vor Augen. Viel versprechend sei, dass das entwickelte Enzym den künstlichen Dreiring an der Substanz Limonen anbringen konnte, das zur Stoffklasse der Terpene zählt. Sie sind für alle Organismen entscheidend, weil sie die Grundbausteine für viele lebenswichtige komplexe Stoffe sind. Unter anderem werden Terpene durch eine enzymatische Kaskadenreaktion weiter zu Steroiden verarbeitet. Die wiederum regulieren wichtige Funktionen im Körper und sind dadurch außerordentlich wichtig für die Medizin.

Zum Beispiel ist Dexamethason, das erste gegen Covid-19 eingesetzte Medikament, ein solches Steroid. Außerdem sind Steroide auch wissenschaftlich eine Herausforderung. Ihr Aufbau gilt als Paradebeispiel für die ausgeklügelte und effiziente Maschinerie der Natur – und ist ein Testfall für die neue Verbindung von Enzymen und Metall. Diesen Syntheseweg je nach gewünschten Funktionen gezielt zu formen oder abzukürzen, sei einer seiner Träume, sagt Hartwig.

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