Definition des Meters : Die abenteuerliche Suche nach der Länge des Meters

Der Schrecken fuhr Pierre Méchain am Abend des 16. März 1794 in die Glieder. Nur ein paar einfache Kalkulationen hatten genügt, bis ihm klar wurde: Er musste irgendeinen furchtbaren Fehler gemacht haben. Die Landvermessungen, die er tagsüber am Montjuïc, dem Hausberg Barcelonas, vorgenommen hatte, passten nicht zu seinen Daten der geografischen Breite. Es gab eine unerklärliche Abweichung.
Doch die Rückkehr auf den Montjuïc war ihm verwehrt, denn zwischenzeitlich waren französische Truppen vor Barcelona aufmarschiert. Statt noch einmal nachzumessen, musste er Hals über Kopf die Stadt verlassen. Was für ein Unglück, würde sein Versagen doch den Erfolg der wichtigsten wissenschaftlichen Mission jener Zeit gefährden. Einer Mission, die allen Menschen der Welt dienen sollte. Es ging um nichts Geringeres als die präzise Bestimmung des »Meters«. Méchain wusste nicht ein noch aus.
Égalité auch für die Maßeinheiten!
Gut fünf Jahre zuvor, am ikonischen 14. Juli 1789, hatte das Pariser Volk mit dem Sturm auf die Bastille das Feuer der Französischen Revolution entzündet. Die Wut richtete sich gegen den feudal-absolutistischen Staat, gegen König Ludwig XVI., der über ein Land herrschte, das sich unzählige Aristokraten untereinander aufgeteilt hatten – jeder Einzelne selbst ein kleiner König, der auf die Sicherung seiner Macht bedacht war. Etwa, indem er eigene Maße und Gewichte definierte.
Diese Standards unterschieden sich innerhalb einer Provinz, einer Gemeinde, auch innerhalb eines Handwerks. Fachleute schätzen, dass im damaligen Frankreich rund 250 000 Maße in Gebrauch waren. Überregionaler Handel war fast unmöglich, auch weil lokale Maße und Gewichte als Mittel eingesetzt wurden, um fremde Händler vom eigenen Markt fernzuhalten.
Eine der ersten Maßnahmen, die die Parlamentäre der neuen Nationalversammlung kurz nach dem Sturm verkündeten, war denn auch die Einführung des Dezimalsystems. Nicht nur entsprach es dem Geist der Aufklärung, dem man sich ganz verschrieben hatte, es sollte endlich auch das allgegenwärtige Chaos beenden. Die Entscheidung hatte überdies eine höchst politische Komponente: »Liberté, égalité, fraternité«, das hatten sich die Revolutionäre auf die Fahnen geschrieben. Alle Menschen sollten vor dem Gesetz gleich sein – und die Maße und Gewichte sollten für alle gelten.
Das universale Maß
Undenkbar war unter diesen Umständen das Naheliegende, nämlich eines der unzähligen Maße und Gewichte zum Standard für alle zu erheben. Nein, das Maß aller Dinge musste eine universelle Größe sein, basierend auf einer natürlichen Konstante. Die Pariser Akademie der Wissenschaften hatte zunächst überlegt, ob der Weg, den ein Pendel innerhalb von einer Sekunde zurücklegt, jenes universelle Maß sein könne. Die Länge dieser Strecke beträgt gut 99 Zentimeter – ist aber abhängig von der Schwerkraft und variiert somit je nach geografischer Breite um ein paar Millimeter. Am Ende einigten sich die Gelehrten darauf, das Längenmaß vom Erdkörper selbst abzuleiten. Es solle dem zehnmillionsten Teil des Erdmeridianquadranten entsprechen – also der Strecke vom Pol zum Äquator.
Dieser Beschluss erging im Frühjahr 1791. Ein Jahr später, im Juni 1792, machten sich Pierre Méchain und Jean-Baptiste Joseph Delambre auf den Weg. Ihr Auftrag: die Vermessung des Längengrads zwischen Dünkirchen und Barcelona. Aus der Länge dieses Abschnitts sollte auf die Länge von Pol bis Äquator hochgerechnet und daraus der »Meter« abgeleitet werden.
Zwei Männer, zwei Charaktere
Zentraler Punkt der Mission war die Kathedrale von Rodez im Süden Frankreichs. Die Vermessung des nördlichen Abschnitts oblag dem 42-jährigen Delambre, der sich, anders als sein Kompagnon, zwar erst seit wenigen Jahren mit der Astronomie befasst hatte, gleichwohl aber innerhalb kurzer Zeit zu einem der führenden Himmelsforscher des Landes aufgestiegen war. Er begann seine Messungen in Dünkirchen und machte sich von dort auf die gut 740 Kilometer lange Reise nach Süden.
Der südliche Teil des Meridianbogens von Rodez nach Barcelona war mit 333 Kilometern viel kürzer, führte allerdings durch die rauen Pyrenäen und Teile Spaniens, die bis dahin nie vermessen worden waren. Diese Strecke übernahm Pierre Méchain.
Fehler konnte Méchain nicht verzeihen – schon gar nicht, wenn es die eigenen waren
Méchain war nur fünf Jahre älter als Delambre, frönte jedoch schon seit seiner Jugend der Astronomie. Vermutlich ist in unserer Zeit niemand dem »kleinen, dunkelhaarigen Mann mit zarten, blassen Gesichtszügen, die man ebenmäßig hätte nennen können, wären sie nicht von der Macht seiner Emotionen verzerrt worden« so nahegekommen wie Ken Alder. Der Historiker von der Northwestern University in Evanston, Illinois, hat die Meridianexpedition jahrelang erforscht, ist ihr sogar mit dem Fahrrad gefolgt. 2002 schrieb er mit »The Measure of All Things« (deutsch erschienen unter: »Das Maß der Welt«) eine umfassende und spannende Abhandlung über die Suche nach dem Urmeter.
Mit seinem Kollegen Delambre, so berichtet Alder, befand sich der erfahrene Méchain fachlich auf Augenhöhe. Beide waren brillante und methodisch äußerst gewissenhafte Wissenschaftler. Doch Delambre war selbstbewusst und pragmatisch. Und darin war er dem älteren Méchain überlegen. Denn dessen Drang zum Perfektionismus mündete nicht einfach in rationellerer oder professionellerer Arbeit, sondern stürzte ihn immer wieder in tiefe Selbstzweifel. Er vertraute seinen eigenen Leuten nicht, Fehler konnte er nicht verzeihen – schon gar nicht, wenn es die eigenen waren. Allein die Angst davor raubte ihm den Schlaf. Diese Expedition sollte ihn bis an den Rand der Lebensmüdigkeit führen.
Wie misst man die Länge eines Meridians?
Méchain und Delambre bedienten sich einer einfachen, bis heute bei Landvermessern üblichen mathematischen Methode, der Triangulation. Sie erlaubt es, Entfernungen zu ermitteln, ohne sie direkt zu messen, und basiert auf gedachten Dreiecken und der Bestimmung von Winkeln. Dafür bestiegen Méchain und Delambre einen Berggipfel nach dem anderen, erklommen Kirchtürme oder selbst gebaute Gerüste, von denen sie jeweils zwei andere Punkte des nächsten Dreiecks anvisieren konnten. Alles in allem triangulierten sie zwischen Dünkirchen und Barcelona 115 Dreiecke mit Seitenlängen von bis zu 50 Kilometern.
Jedes Dreieck baute auf dem anderen auf. Doch um aus den Winkelmessungen ein Längenmaß ermitteln zu können, mussten sie bei mindestens einem der Dreiecke die Länge einer Seite direkt bestimmen. Und zwar so präzise, wie es irgend geht. Dafür schritten sie eine mehrere Kilometer lange Messstrecke ab und legten währenddessen mit allergrößter Sorgfalt immer wieder knapp acht Meter lange Platin-Messing-Messlatten aneinander. Aus dieser nun bekannten Länge sollten die Längen aller anderen Dreiecksseiten und schließlich die Entfernung zwischen Dünkirchen und Barcelona bestimmt werden.
Überdies galt es noch Dinge wie Höhe der Messung, Lichtbrechung oder Erdkrümmung zu berücksichtigen. Doch das Prinzip war und ist solide: Sorgfältige Arbeit vorausgesetzt, ergibt sich aus der Kombination von trigonometrischen Prinzipien, mehrfachen Messungen zur Fehlerkorrektur und der Verknüpfung vieler Dreiecke eine präzise Entfernungsmessung.
Was dann noch fehlte, war die genaue Kenntnis der geografischen Breiten von Anfangs- und Endpunkt. Diese ließen sich jedoch aus der Position der Gestirne berechnen. Genau damit war Méchain am Montjuïc – dem einen dieser Endpunkte – beschäftigt, als ihm sein Fehler schlagartig bewusst wurde.
Ab durch die Revolution
Dass die Expedition nicht sieben Monate, sondern sieben Jahre dauerte, war vor allem den Wirren der Revolution geschuldet. Nicht selten zerstörten argwöhnische Bauern die mühsam errichteten Beobachtungsplattformen. Die Geodäten konnten von Glück sagen, wenn sie nicht für feindliche Spione gehalten wurden, sondern nur für sonderbare Gestalten, die früher oder später weiterziehen durften. Immerhin hatte die Nationalversammlung gerade erst die Guillotine als offizielles Hinrichtungswerkzeug eingeführt. Unter der folgenden Schreckensherrschaft der Jakobiner rollten im ganzen Land in nur einem Jahr wohl bis zu 40 000 Köpfe – mehr als die Hälfte davon ohne irgendein Gerichtsverfahren. Man kann sich kaum vorstellen, wie die beiden Forscher mit ihrem Gefolge und den ominösen Gerätschaften durch dieses gefährliche Durcheinander zogen.
Hinzu kamen Wind und Wetter – mal zitterten die Hände in bitterer Kälte, mal verzogen sich die Winkelmesser in brütender Hitze. Und dann wurde Pierre Méchain zu allem Überfluss beim Besuch einer Pumpanlage von einer außer Kontrolle geratenen Holzstange getroffen. Er wurde lebensgefährlich verletzt und stürzte in den kommenden Monaten der Tatenlosigkeit in tiefe Depressionen.
Méchains Nemesis
Ein halbes Jahr später, an jenem verhängnisvollen Sonntag im März 1794, saß der kaum genesene Pierre Méchain in seinem Hotel und zerbrach sich den Kopf über seinen Fehler. Ganz schlimm: Er hatte die falschen Messdaten bereits nach Paris geschickt. Seine desolate Persönlichkeit ließ es schlichtweg nicht zu, diesen Fehler öffentlich einzugestehen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihn in seinen Logbüchern zu vertuschen – auch, indem er Daten veränderte, hier und da rundete oder wegließ. Er fälschte nicht, er machte seine Ergebnisse plausibler. So kann man das wohl beschreiben.
In Méchains Briefen zeigte sich, wie bitterlich er litt. In der Folgezeit verzweifelte er an den Umständen, an sich und an der Welt. Und dann wurde Delambre auch noch als alleiniger Autor mit der Veröffentlichung der Ergebnisse beauftragt. Die Freundschaft der beiden zerbrach.
Auf Basis von Delambres Publikation wurde schließlich 1799 der erste offizielle Urmeter in Paris hergestellt und zum dauerhaft gültigen Standard erklärt. Für Méchain war die Sache damit jedoch noch nicht erledigt. 1803, vier Jahre nach seiner Rückkehr nach Paris, machte sich der mittlerweile 58-Jährige noch einmal auf zu einer Expedition. Vordergründig ging es um die Verlängerung des Meridianbogens bis zu den Balearen. Insgeheim hoffte er aber wohl, dank der neuen Ergebnisse auf die widersprüchlichen Daten aus Barcelona verzichten zu können. Doch Pierre Méchain wurde ein weiteres Mal Opfer allerlei politischer und bürokratischer Umstände. Vor allem aber seiner eigenen Besessenheit und zerstörerischer Selbstzweifel. Schließlich erkrankte er an Gelbfieber und starb am 20. September 1804. Das Wissen um seinen Fehler nahm er mit ins Grab.
So dachte er vielleicht auch nur. Mehr als 200 Jahre später fiel Ken Alder im Rahmen seiner Recherchen in den Logbüchern von Pierre Méchain eine handschriftliche Notiz entgegen. Sie stammte nicht von Méchain selbst, sondern von seinem Kompagnon Jean-Baptiste Joseph Delambre:
»Ich hinterlege diese Notiz an dieser Stelle, um meine Entscheidung, welche Version von Méchains Daten veröffentlicht werden soll, zu rechtfertigen. Denn ich habe der Öffentlichkeit nicht mitgeteilt, was sie nicht zu wissen braucht.«
Delambre hatte also von den Ungereimtheiten gewusst. Aber er hatte sie, aus Respekt vor seinem Freund oder der Mission, verschwiegen.
Epilog
Am 20. Mai 1875, 46 Jahre nach Méchains Tod, unterzeichneten in Paris Vertreter von 17 Nationen die »Meterkonvention« – und damit die Herstellung eines Standards aus einer Platin-Iridium-Legierung. 30 Kopien dieses Urmeters wurden an die Unterzeichnerstaaten verlost, eine davon liegt heute beim Landeseichamt in München, zwei werden von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig verwahrt.
Die Festlegung des Meters als zehnmillionster Teil der Entfernung zwischen Nordpol und Äquator ist natürlich willkürlich. Es war das Streben der Revolutionäre nach einem universellen Maß, das Anlass zu diesem abenteuerlichen Unterfangen gab – dessen ganze Absurdität offenkundig wird, betrachtet man, mit welcher Akribie Méchain und Delambre ans Werk gingen, obwohl auch jede beliebige und irgendwie praktische Länge ebenso geeignet gewesen wäre. Wie sich Méchains Schummelei auf das Endergebnis auswirkte, ist offen. Viel präziser hätten es die beiden allerdings kaum treffen können: »Nach heute möglichen Satellitenmessungen beträgt die Länge des Meridians zwischen Pol und Äquator genau 10 002 290 Meter«, schreibt Ken Alder. »Mit anderen Worten: Der von Delambre und Méchain berechnete Meter ist ungefähr 0,2 Millimeter zu kurz.«
PS: Seit 1983 entspricht ein Meter der Strecke, die das Licht im Vakuum innerhalb des Zeitintervalls von 1/299 792 458 Sekunden durchläuft.
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