Mexiko: Warum die Ikojts gegen die Windkraft kämpfen
Der Bug der Lancha hebt sich und springt über die Wellen. Wasser spritzt ins Boot, es ist warm und salzig. An den Ufern ist karge Vegetation zu erkennen. Die zahlreichen Inseln liegen wie große braune Dünen in einer Wüste aus Wasser. Von hier aus kann man die Barra Santa Teresa sehen, auf der der Windpark entstehen soll. Pelikane segeln vorbei.
Die Stellen, an denen die Fischer der Ikojts ihre Netze auswerfen, wechseln ständig. Sie orientieren sich dabei an den vom Wind hervorgerufenen Strömungen und Bewegungen der Fische. Die Kanäle zwischen den Inseln sind fischreich. Plötzlich, beim Einholen des Netzes, beginnt das Boot heftig zu schwanken. El Nortazo, der starke Nordwind, hat sich erhoben und pfeift hell durch die Maschen des Fischernetzes. Das Einholen muss nun schnell gehen, während das Boot von den Wellen hin und her geworfen wird.
Wenn der Nortazo weht, kann das Fischen gefährlich werden. Seine Böen können einen Lastwagen umwerfen, umso mehr die Lanchas, die Fischerbötchen in der Lagune. Vor allem während der Monate Dezember und Januar rauscht der starke Wind über den Isthmus von Tehuantepec. Hier ist Mexiko gerade einmal 260 Kilometer breit, im Norden der Golf von Mexiko, im Süden der Pazifik. Auf halbem Weg formen zwei Gebirgsketten einen natürlichen Korridor, der die besten Voraussetzungen dafür erfüllt, den Wind in erneuerbare Energie zu verwandeln.
Erneuerbare Energiequellen erleben seit der Jahrtausendwende einen starken Aufschwung, vor allem in Mexiko. Vom Jahr 2000 an hat sich das Land auf dem Markt der Windenergie etabliert, um seine Abhängigkeit von den sinkenden Einnahmen im Ölgeschäft zu verringern und Emissionen zu reduzieren. Innerhalb von knapp 20 Jahren wurden in ganz Mexiko 54 Windparks mit einer Leistung von 4935 Megawatt installiert. Und der Markt ist mit einem geschätzten Gesamtpotenzial von 71 000 Megawatt noch gut ausbaufähig. Allein in der Region Oaxaca stehen bereits 28 Windparks. Doch um den geplanten Megawindpark San Dionisio auf der schmalen Landzunge der Barra Santa Teresa, den zweitgrößten in ganz Lateinamerika, gibt es Streit. Und das schon seit fast zehn Jahren.
Fehde um das Windkraftwerk
Die Ikojts wehren sich mit Händen und Füßen gegen die Installation des Windparks. Die indigene Gruppe, deren Angehörige vor allem als Fischer leben, hat es dazu mit dem mexikanischen privatwirtschaftlichen Konsortium Mareña Renovables / Eólica del Sur aufgenommen.
»Mareña Renovables glaubt, dass sie hier einfach ankommen können und dass der Wind ihnen gehört, oder?«, sagt Pablo, ein Fischer aus San Mateo.
Wie ihre Nachbarn, die Binnizá, kritisieren die Ikojts, dass der Bau des Windparks unsauber und gewaltsam durchgedrückt werde. Ohne umfassende Information über das Projekt und ohne Befragung der Betroffenen oder durch Irreführung sei versucht worden, die lokalen Bevölkerungsgruppen über den Tisch zu ziehen. Bürgermeister würden gekauft und Gegnerinnen und Gegner des Projekts gezielt durch paramilitärische Gruppen eingeschüchtert. Erst am 21. Juni 2020 wurden bei einem Gewaltausbruch in San Mateo 15 Ikojts auf grausame Art zu Tode geprügelt und teilweise verbrannt. Die Anwohner von San Mateo führen den Vorfall auf die langjährige Fehde um das Windkraftprojekt zurück.
Massive Verstöße gegen nationales und internationales Recht seien das, finden die Indigenen. Verletzt würden unter anderem mehrere Artikel des von Mexiko ratifizierten »Übereinkommens über indigene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern« der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Es ist eine Einschätzung, der sich etwa auch die Coalition for Human Rights in Development anschließt. Der Zusammenschluss zahlreicher Nichtregierungsorganisationen hat es sich zum Ziel gesetzt, Menschenrechtsverletzungen in mit öffentlichem Geld geförderten Infrastrukturprojekten aufzudecken. Der Konflikt um den Windpark ist einer von 25 Fallberichten in ihrer jüngsten Veröffentlichung, dem 2019 erschienenen Report »Uncalculated Risks«. Minuziös protokolliert die Organisation darin die Unregelmäßigkeiten im Genehmigungsverfahren, das gewaltsame Vorgehen gegen die Protestierenden und den Mangel an staatlicher Rückendeckung für die Gemeinden.
Wir kennen das Meer und den Wind
Die Dörfer der Ikojts, San Dionisio del Mar, San Mateo del Mar, San Francisco del Mar und Santa María del Mar, liegen alle an der Lagune. Es gibt mehrere kleine Inseln, wie den Cerro Cristo, auf dem sich eine heilige Stätte der Ikojts befindet, und den Strand Playa Copalito, von dem die Fischer zu ihren Fangfahrten ablegen. Vom Pazifischen Ozean ist die Lagune durch zwei schmale Halbinseln getrennt. Eine weitere Landzunge, die Barra Santa Teresa, die an ihrer schmalsten Stelle nur rund 100 Meter breit ist, ragt mehrere Kilometer weit in die Lagune hinein. Ginge es nach dem Windparkunternehmen, sollen auf dieser elegant geschwungenen Nehrung mehr als 100 Windenergieanlagen entstehen.
»Wir kennen das Meer und den Wind. Das Unternehmen kennt sie nicht«, erklärt Santiago aus San Mateo. Und tatsächlich lieferten die Ikojts schon zu präkolumbischen Zeiten Garnelen, Fisch und andere Meeresprodukte für die Händler der aztekischen Salzroute. Noch heute ist der Fischfang in San Dionisio eine wichtige Einkommensquelle, obwohl – wie in vielen indigenen Dörfern Mexikos – auch die »remesas« zu einer zentralen Säule der lokalen Ökonomie geworden sind: die Geldsendungen der abgewanderten Gemeindemitglieder.
Als der Ethnologe Oliver D. Liebig 2012 das erste Mal von den Konflikten um die Windenergie zwischen den indigenen Gruppen und dem Staat hörte, ging er mit der Erwartung nach San Dionisio, die Erklärung sei im Wind selbst zu finden; es handle sich um einen Nutzungskonflikt oder um die Frage, wem der Wind gehöre. Doch auf seine Fragen bekam er von den Ikojts unerwartete Antworten.
»Fragte ich nach erneuerbaren Energien, erzählten sie vom Fischen. Fragte ich nach dem Wind, erzählten sie von der Lagune, den Fischen und Garnelen. Als ich begann, mich nach den Fischen und Garnelen zu erkundigen, sprachen sie von den Mangroven, in denen diese laichen, und von den Strömungen, die in der Lagune entstehen«, sagt Liebig. »Es stellte sich heraus, dass für die Ikojts Laichgründe, Strömungen, Mangroven und Wellen weitaus mehr im Mittelpunkt standen als der Windpark selbst.«
Jenseits politischer Konflikte
Um die indigenen Perspektiven auf den geplanten Windpark zu verstehen, verbrachte Liebig zwischen 2013 und 2017 ein Jahr bei den Ikojts in San Dionisio und führte eine stationäre teilnehmende Beobachtung durch. Dazu führte er Interviews und offene Gespräche mit den Menschen vor Ort, aber er nahm auch ganz praktisch am Fischfang teil, bei der Feldarbeit, bei Festen und Ritualen. Sein Ziel war es, die sozialen und ökologischen Verflechtungen zu verstehen, die durch den Windpark in Bewegung geraten waren, und vor allem, wie sich die Ikojts in ihrer Umwelt wahrnehmen. Die Ergebnisse erschienen im Februar 2020 in seinem Buch »Der Geist des Windparks«.
Don López, ein Bewohner von San Dionisio, erzählte Liebig: »Wir sind die Ikojts. Wir leben an diesem Ufer des Mar muerte [toten Meeres, gemeint ist die Lagune]. Weil wir hier geboren sind, wachsen wir hier auf. Unsere Großeltern, unsere Vorfahren, die Urgroßeltern. Wir haben el Mar gesehen, und es gibt uns Unterhalt.«
Die Sonne brennt herunter, und der Wind fegt durch die Straßen von San Dionisio. Das Städtchen ist nach einem Schachbrettmuster angelegt mit einem Versammlungsraum im Zentrum. Nur wenige seiner staubigen Straßen sind asphaltiert. An die Stelle der palmbedeckten Lehmziegelbauten von einst treten immer häufiger Betonhäuser. Im Norden reichen die bereits gebauten Windparks bis an die Lagune von San Dionisio heran.
»Unsere Halbinsel ist sandig. Es ist Mangrovengebiet. Es ist ein Ökosystem«, sagt José. »Allein die Tatsache, dass sie an einer so engen Stelle so tief ausheben müssen, da sagt man sich, na ja, und wie wollen sie das an einer so engen Stelle machen? Denn die Barra Santa Teresa ist an ihren breitesten Stellen nur 500 Meter breit … und es gibt die Mangroven und endemische Arten. Hier kommen auch Zugvögel durch, und da fragt man sich, wie ist es möglich, dass wir davon reden, ›saubere Energie‹ zu erzeugen, wenn wir damit ein Ökosystem zerstören?«
Der politische Wille, die Windkraft in Mexiko auszubauen, ist groß. Entsprechend kommen die für die Genehmigung erforderlichen Regierungsgutachten zum immer gleichen Schluss: dass keine Probleme zu erwarten sind. Unabhängige Studien über die Umweltfolgen der Windparks gibt es kaum. Dabei werden die Windkraftanlagen in ein biologisch reiches Ökosystem gebaut. Der Isthmus von Tehuantepec ist ein Hort der Biodiversität in Mexiko. Hier, an der pazifischen Südküste der Region, besteht durch die Winde und die durch sie entstehenden Strömungen ein hohes Nährstoffangebot an Plankton vor der Küste, was zu reichen Fisch- und Garnelenpopulationen in der Lagune führt. Hier leben endemische Arten wie der Tehuantepec-Hase. Zugvögel machen hier Halt, und Meeresschildkröten nutzen die sandigen Strände zur Eiablage.
»Der Windpark ist das Ende für uns Fischer«
Ihre Windenergieprojekte versprechen den privatwirtschaftlichen Konsortien satte Gewinne. Die lokale Bevölkerung aber, erklärt Liebig, könne weder mitgestalten noch mitverdienen. Die in Aussicht gestellten Pachteinnahmen sind den Ikojts zu gering, weniger als umgerechnet zehn Euro pro Hektar und Jahr bekommen die Landbesitzer. Und die Offerte des Windparkbetreibers, 1,4 Prozent der gesamten generierten Energie der Region zugutekommen zu lassen, kann den befürchteten Verlust der eigenen Lebensweise und der Zukunft ebenso wenig ausgleichen. »Das führt auch dazu, dass sie die Auswirkungen auf Mangroven, Lagune und Fischfang als besonders bedrohlich empfinden und dass die Angebote der Konsortien für die Indigenen keine Alternative darstellen.« Dabei könnte deren Wissen helfen, die potenziellen Auswirkungen der Windparks auf Mangroven, Lagune und Fischfang abzufedern. Und sie könnten die zähen und teilweise gewaltsamen Konflikte besänftigen. »Gerade bei einem Vorhaben erneuerbarer Energien sollten die lokalen indigenen Gruppen aktiv und mit einer angemessenen Beteiligung einbezogen werden«, meint der Ethnologe.
Dass es dazu nicht kommen würde, haben die Ikojts schnell begriffen. Das Megaprojekt hinter ihrem Dorf auf der Barra Santa Teresa werde alles verändern, glauben sie. Mateo, selbst ein Fischer, erwartet, dass die Windturbinen ihm und den anderen Fischern den Garaus machen werden. Er schüttelt den Kopf: »Sie werden Energie mit Wind erzeugen, sie sagen, dass das nicht kontaminiert. Aber ich muss kein großer Experte sein, um zu verstehen, dass es kontaminiert. Wenn wir nach La Venta gehen und sehen, wie an den Ventilatoren das Öl herunterläuft. Was passiert da? Ich frage mich, verschmutzt dieses Öl? Es verschmutzt, und zwar ziemlich viel!«
Alejandro hingegen stört sich an den Signalleuchten der Turbinen, die nachts blinken. »Das irritiert die Fische und Garnelen.« Aus Erfahrung wissen die Fischer, dass bereits kleine Reflexionen des Sonnenlichts den Tieren Gefahr signalisieren. »Ja, sie haben Angst vor dem Licht. Und wenn sie die Turbinen errichten, haben die Lichter.« Auch das Sirren der Rotoren und Vibrationen vertreibe die Fische, meint Alejandro.
Bei seiner Feldforschung erkennt Liebig, dass der Begriff der »Kontamination« für die Ikojts weit mehr bedeutet als das herabtropfende Schmieröl. Ihre an den Fischfang geknüpfte Lebensweise bestimmt ihre Identität. Die Lagune gehört dazu, ebenso wie der Wind und die Mangroven. Sie bilden die Lebensgrundlage der Ikojts. An dieses Gefüge knüpfen die Ikojts ihre Geschichte und ihr Schicksal. Für sie hat sich daraus eine Gemeinschaft gebildet, die ihnen stets das Überleben gesichert hat. Durch den Windpark droht für sie die Zerstörung dieser für sie wichtigsten Beziehungen, des sozioökologischen Gleichgewichts von menschlichen und nicht menschlichen Akteuren.
»Wenn sie die [Windräder] aufstellen wollen«, meint Tonio, »dann sollen sie das auf den Hügeln hier machen. Aber nicht am Meer. Denn das ist unsere Lebensquelle.«
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