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Astronomie: Milliarden frei fliegender Planeten

Seit Jahren fahnden Forscher nach vagabundierenden Planeten, die zu keinem Sternsystem gehören. Sind sie nur eine Illusion? Oder gar der kosmische Normalfall?
Planet ohne Stern

Bekanntlich gibt es Planeten in allen möglichen Varianten; selbst in unserem Sonnensystem ist die Vielfalt beachtlich: rote, blaue, mit Atmosphäre oder ohne, manche von ihnen bieten festen Boden unter den Füßen, andere bestehen nur aus Gas. Auf mindestens einem gibt es sogar Leben.

Weiter draußen im Kosmos geht es noch viel wilder zu. Da gibt es Planeten, auf denen regnet es Eisen, oder sie bestehen aus Diamant und Graphit. Auf manchen ist es auf der einen Seite immer Nacht und auf der anderen Seite immer Tag, weil sie ihrem Zentralgestirn stets mit derselben Seite zugewandt sind – ähnlich der Konstellation des irdischen Monds und der Erde.

Aber eines haben alle diese vollkommen unterschiedlichen Typen gemeinsam: Sie umkreisen (mindestens) einen Stern. Mal mehr, mal weniger weit entfernt von ihm. Mit einer Umlaufbahn, die mal mehr, mal weniger elliptisch ist. Planeten sind also immer an ihr Zentralgestirn gebunden. Ein Exemplar ohne Stern, das macht keinen Sinn. Dachte man.

Die abtrünnigen Himmelskörper

Seit einigen Jahren häufen sich jedoch die Hinweise, dass es auch Planeten gibt, die ganz alleine durchs All fliegen. Keine Umlaufbahn, kein Stern. Stattdessen eine endlose Reise durch die Milchstraße. Streng genommen kann es sich dabei gar nicht um Planeten handeln. »Die Nomenklatur ist Teil des Problems«, sagt Joachim Wambsganß von der Universität Heidelberg. Die Definition eines Planeten sieht nämlich vor, dass er sich in einer Umlaufbahn um einen Stern befindet. Wie soll also das sternlose Dingsda heißen? Nomade? Abtrünniges Etwas? Explanet?

»Da steckt dann ja schon eine Theorie zur Entstehung drinnen, nämlich, dass sich ein solches Objekt ehemals in einer Umlaufbahn um einen Stern befand«, sagt Wambsganß.»Man könnte es ein ungebundenes Objekt planetarer Masse nennen«, schlägt der Heidelberger Astronom vor, auch wenn er selbst zugibt: »Das ist pragmatisch, aber unromantisch.«

Vielleicht sollte man noch etwas pragmatischer sein und einfach »frei fliegender Planet« sagen. Selbst wenn dies einigen Astronomen, die den Planetenbegriff sehr eng fassen, sauer aufstoßen dürfte, ist weitgehend klar, was damit gemeint ist: ein Objekt, das so massereich ist wie ein Planet, vielleicht auch ausschaut wie ein Planet, dem aber ein Stern und eine Umlaufbahn fehlen und das somit frei durch unsere Galaxie fliegt.

Linsende Vagabunden

Im Jahr 2011 haben Takahiro Sumi von der japanischen Universität Osaka und Kollegen erstmals Hinweise darauf gefunden, dass es frei fliegende Planeten geben könnte. Beobachtet haben die Astrophysiker zunächst 50 Millionen Sterne. Sie interessierten sich dabei aber nicht für die Sterne selbst, sondern hielten auch nach so genannten Mikrogravitationslinsen Ausschau.

Der Gravitationslinseneffekt ist ein Phänomen, der auf Albert Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie beruht. Demzufolge verzerren Objekte das Licht dahinterliegender Leuchtquellen auf Grund ihrer Masse. Sie lenken es ab wie eine optische Linse. Bei Mikrogravitationslinsen ist, wie der Name schon sagt, der Linseneffekt eher gering ausgeprägt. Aber auch hier sieht man einen Effekt: Die dahinterliegende Leuchtquelle scheint vorübergehend heller zu werden.

In diesem Fall waren das manche der 50 Millionen Hintergrundsterne. Ein Planet, der von uns aus gesehen vor einem solchen Stern vorüberzieht, mag zwar selbst unsichtbar sein, führt jedoch bei dem Hintergrundstern zu einem Anstieg und Abfall der Helligkeit.

© J. Skowron / Astronomical Observatory, University of Warsaw
Mikrolinsenereignis

Tatsächlich kann man mit dem Mikrogravitationslinseneffekt auch ganz normale Planeten entdecken, also solche, die an ihren Stern gebunden sind. Zwar wurden mit der Technik, gemessen am prozentualen Anteil aller bislang entdeckten Exoplaneten, bislang relativ wenige Exoplaneten entdeckt. Aber die Methode bietet den Vorteil, dass Astronomen mit ihrer Hilfe auch relativ massearme Objekte aufspüren können, die selbst überhaupt nicht leuchten. Planeten im Erdenformat zum Beispiel.

Was aber führte nun Sumi und seine Kollegen dazu, in ihrem Artikel davon auszugehen, zehn vielleicht völlig ungebundene, also frei fliegende Planeten entdeckt zu haben? Nun – der dazugehörige Stern fehlte. Denn auch solch ein Stern sollte bei der Hintergrundquelle ein charakteristisches Schwanken in der Helligkeitskurve hervorrufen.

Frei oder nur fern?

Allerdings ist noch ein anderes Szenario vorstellbar: Die zehn Kandidaten könnten keine Solokünstler sein, sondern Planeten, die sich einfach in einer sehr großen Umlaufbahn um ihren Stern befinden. Dann würde es nämlich ein paar Jahre dauern, bis der Stern ebenfalls die Hintergrundquelle passiert, oder er zieht auf Grund einer geometrisch ungünstigen Lage gar nicht daran vorbei.

Przemek Mróz vom California Institute of Technology erklärt die Problematik mit Hilfe von astronomisch gesinnten Außerirdischen: »Wenn Jupiter oder Saturn eine Mikrolinse wären, würde man auch die Sonne in der Lichtkurve der Mikrolinse erkennen. Aber Mikrolinsenereignisse durch Uranus und Neptun würden aussehen, als ob es sich dabei um frei fliegende Planeten handelt, weil sie so weit von der Sonne entfernt sind.«

Deshalb sprachen auch Sumi und Kollegen von der Möglichkeit, dass es sich bei ihren Entdeckungen entweder um frei fliegende Planeten oder aber um Planeten in einer großen Umlaufbahn handeln könnte. Ein versprengter Uranus oder aber ein einsamer Wanderer, ganz allein im All – keine Frage, welches Szenario ansprechender klingt. »Die meisten Menschen haben nur den Teil mit den frei fliegenden Planeten wahrgenommen«, sagt Joachim Wambsganß mit einem Seufzer.

Kein Wunder – denn die Geschichte klingt auch zu gut. Laut diesen Beobachtungen nämlich wäre unsere Galaxie auf einmal mit extrem vielen Soloplaneten bevölkert. Das Team um Sumi rechnete nämlich hoch und schätzte so, dass es demzufolge pro Stern in unserer Galaxie fast zwei jupiterähnliche, frei fliegende Planeten geben könnte. Wenn man von 100 Milliarden Sternen ausgeht, käme man so auf rund 200 Milliarden nomadenhafte Jupiter, die alleine durchs Weltall fliegen.

Allerdings waren es Mróz und seine Kollegen, die diese schwindelerregende Anzahl 2017 mit Hilfe neuer Beobachtungen und einer verbesserten Statistik ein gutes Stück nach unten korrigierten. Ihnen zufolge kommt lediglich auf jeden vierten Stern ein solcher frei fliegender Gigant. Dafür aber nutzte das Team Daten aus dem Beobachtungsprogramm OGLE (Optical Gravitational Lensing Experiment), um masseärmere frei fliegende Planeten in Erdenformat aufzuspüren: Bislang konnte Mróz zehn solcher Kandidaten ausmachen.

Wie Planeten zu Wanderern werden

Das ist auf den ersten Blick eine eher übersichtliche Anzahl an Kandidaten, aber Mróz und seine Kollegen gehen davon aus, dass derartige Nomaden – oder die Pendants in großer Entfernung von ihrem Zentralgestirn – etwa so zahlreich wie die Sterne in der Milchstraße sind. »Wenn solche Kandidaten viel seltener als Sterne wären, hätten wir viel weniger Mikrolinsenereignisse beobachtet«, sagt der Forscher.

Also doch hundert Milliarden, so Pi mal Daumen? Während man sich langsam an den Gedanken gewöhnt, dass da ganz schön viel alleine und einfach so durch unsere Galaxis zu driften scheint, stellt sich die Frage: Wo kommen die alle überhaupt her? Das können Forscher bislang nicht erklären. Sie können ja noch nicht einmal sagen, ob diese Planeten tatsächlich frei fliegend sind. Aber prinzipiell sind drei Szenarien denkbar.

Möglichkeit Nummer 1: Jupitergroße frei fliegende Planeten könnten beim Kollaps einer Gas- und Staubwolke entstehen – ähnlich, wie ein Stern entsteht, nur in sehr viel kleinerem Maßstab. Derartige Objekte wären also tatsächlich nie ein richtiger Planet in einer Umlaufbahn gewesen. Ob es sie wirklich gibt, ist eine offene Frage. Vor allem, seit Mróz und seine Kollegen gezeigt haben, dass sie, wenn es sie denn gibt, sehr selten sind.

Möglichkeit Nummer 2: Masseärmere frei fliegende Planeten könnten ihre Karriere als ganz normaler Planet begonnen haben, indem sie in einer protoplanetaren Scheibe um einen jungen Stern entstanden sind. In den kommenden Millionen oder Milliarden von Jahren könnten sie durch eine Verkettung ungünstiger Umstände aus dem Sternsystem befördert worden sein – zum Beispiel auf Grund von anderen Planeten, Wechselwirkungen in Doppelsternsystemen oder sogar eines vorbeifliegenden Sterns.

Die dynamischen Wechselwirkungen in jungen Sternhaufen haben beispielsweise Simon Portegies Zwart von der niederländischen Universität Leiden und Kollegen untersucht und 2019 dazu eine Studie veröffentlicht. Sie simulierten die Vorgänge im Trapez-Sternhaufen im Orionnebel, einer Sternentstehungsregion. So kamen sie zu dem Schluss, dass auch dort der ein oder andere Planet aus seiner Bahn geworfen werden könnte – und es in der Galaxis insgesamt wohl 50 Milliarden solcher frei fliegenden Planeten geben könnte.

Möglichkeit Nummer 3: Selbst gegen Ende der Karriere eines Sternsystems kann sich ein Planet nicht in Sicherheit wiegen. Denn auch unsere Sonne wird eines Tages, so in ein paar Milliarden Jahren, zu einem Roten Riesen. Rote Riesen sind nicht nur riesig und rot, sondern verlieren auch bis zur Hälfte ihrer Masse in Sternwinden. Das wiederum könnte die Umlaufbahnen der äußeren Planeten destabilisieren, und sie könnten wegdriften. »Eines Tages könnte das auch Uranus und Neptun passieren«, sagt Mróz.

Was da draußen wirklich ist

Um die Erde muss man sich vor diesem Hintergrund übrigens keine Sorgen machen. Unser Planet ist zu diesem Zeitpunkt vermutlich schon von der Sonne verschluckt worden, die sich zu einem Roten Riesen aufgebläht hat. Damit besteht nicht die Gefahr, dass er aus dem Sonnensystem hinausbefördert wird und als Vagabund endet.

Auch für die Eisriesen am Rande des Sonnensystems gibt es noch Hoffnung. All diese Szenarien für die Entstehung frei fliegender Planeten sind bisher völlig hypothetisch. Das liegt unter anderem daran, dass bisher niemand sagen kann, ob es diese kosmischen Einzelgänger wirklich gibt. »Deshalb mag ich frei fliegende Planeten. Ich denke, sie erzählen eine Geschichte, die kompliziert und einzigartig ist«, sagt Zwart. Dennoch, auch diese Frage bleibt: Ist es wirklich eine Geschichte«– oder doch eher ein Märchen?

Denn die bislang gefundenen frei fliegenden Planeten sind lediglich Kandidaten. Das Einzige, was man halbwegs bestimmen kann, ist ihre Masse. Nichts ist sonst über sie bekannt, nicht ihre Größe, ihre Herkunft, ihre Bahn. Noch einmal genauer hinschauen bringt auch nichts, denn Mikrogravitationslinsen sind nur ein einziges Mal sichtbar, wenn sie gerade zufällig einen dahinterliegenden Stern passieren. Danach verschwinden sie auf Nimmerwiedersehen in die Weiten des Weltalls.

Trotzdem könnte die Zukunft ein wenig mehr Klarheit bringen. Einerseits wird der Nachfolger des Hubble-Weltraumteleskops, das James Webb Space Telescope, im infraroten Bereich des elektromagnetischen Spektrums direkt Ausschau nach den Wärmesignaturen von frei fliegenden Jupitern halten können. Somit könnte geklärt werden, ob es sie wirklich gibt. Andererseits werden die geplanten Infrarotteleskope WFIRST und Euclid zusammenarbeiten können, um über den Parallaxeneffekt die Masse sowie die Entfernung von Nomadenkandidaten genauer zu bestimmen.

Und schließlich wird die nächste Generation der Großteleskope mit ihren Spiegeldurchmessern von 30 Metern – wie etwa das Extremely Large Telescope der europäischen Südsternwarte ESO – nicht nur die Mikrogravitationslinsenereignisse sehen; sie wird auch ausmachen können, ob zu einem frei fliegenden Kandidaten nicht doch ein Stern in weiter Entfernung dazugehört. Ein paar Jahre Geduld also, und wir werden herausfinden, ob die Planeten in unserer Galaxis alle in wohlgeordneten Bahnen verlaufen oder ob wir nicht doch von Milliarden einsamen Wanderern umgeben sind.

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