Misophonie: Hypersensibel für die Geräusche der anderen

Eine Ziehklinge ist ein etwa handgroßes Metallstück mit scharfer Klinge. Man kann das Gerät übers Holz ziehen oder schieben, um feine Späne von der Oberfläche zu entfernen. Elisabeth Franke bringt damit Ahorn und Fichte in Form: So baut sie Geigen. Wenn sie mit der Ziehklinge übers Holz fährt, schabt und kratzt es gewaltig. Sie liebt das.
Es gibt allerdings Klänge, die die Geigenbauerin zur Weißglut treiben: Wenn ihr Mann im Bett neben ihr atmet. Oder wenn die Tochter schmatzt. »Jetzt iss doch mal mit geschlossenem Mund!«, habe sie ihr Kind angefaucht. Da war die Kleine noch nicht mal drei. »Du bist widerwärtig«, habe sie ihrem Mann entgegengeschleudert, als der einfach nur Luft holte. Elisabeth Franke wirkt eigentlich nicht wie ein aggressiver Mensch.
Meist sind es menschengemachte Geräusche, die Menschen mit Misophonie in den Wahnsinn treiben. Oft sind es solche, die man mit dem Mund erzeugt: Schmatzen, Schlucken, Schlürfen, Atmen, vermeintlich harmlose und leise Geräusche. Das ist auch Betroffenen wie Elisabeth Franke klar. Es ändert aber nichts daran, dass diese Geräusche bei ihr Wut, Ekel oder Verzweiflung hervorrufen. Misophonie, das ist der Hass auf ganz bestimmte Geräusche, die fast alle anderen Menschen überhören.
Was das Geräusch zur Qual macht
Wie laut die Geräusche sind oder in welchem Frequenzspektrum sie liegen, scheint dabei egal zu sein. Misophonie folgt keinem physikalischen Muster, sagt die Psychologin Anne Möllmann, die sich auf die Behandlung von Misophonie-Betroffenen spezialisiert hat. Es ist der Kontext, der den Reiz zur Qual macht. Auch der Psychiater Damiaan Denys von der Universität Amsterdam sagt, dass es nicht um das Geräusch als solches geht. Was ihn fasziniert: Hundegebell oder Babygeräusche scheinen kein Problem zu sein. Das Schmatzen oder Atmen einer erwachsenen Person hingegen schon. »Die Leute werden wütend, weil sie denken: Derjenige, der das Geräusch macht, sollte sich bewusst sein, dass es für jemand anderen störend ist«, sagt Denys. Dieses Verhalten werde als »verantwortungslos« empfunden.
Häufig werden genau jene Geräusche zum Trigger, die von besonders nahestehenden Personen verursacht werden. Das können Partner oder Kinder sein, vielleicht auch Nachbarn. Es scheint keine Rolle zu spielen, ob man die geräuschverursachende Person mag oder nicht. Ganz im Gegenteil: Elisabeth Franke sagt, dass die schönsten Momente mit ihren Kindern für sie zur Hölle wurden. »Misophonie trifft oft die engsten Beziehungen«, sagt Anne Möllmann, die an der Universität Witten/ Herdecke arbeitet. »Weil man die Geräusche dort am besten kennt und am häufigsten hört.«
Interessanterweise sind auch Geräusche, die Misophoniker selbst erzeugen, kein Problem. Elisabeth Franke kann kratzen und schaben, was das Zeug hält. Erst das schmatzende Kind wird für sie zum Problem. Oder der Partner, der so leise atmet, dass es kaum zu hören ist. Damiaan Denys sagt, dass Misophoniker aber auch mehr darauf achten, welche Geräusche sie anderen zumuten. Er erzählt von einem Betroffenen, der sich eine besondere Art angewöhnt hat, Chips zu essen: indem er sie sich einzeln auf die Zunge legt und schmelzen lässt.
In manchen Fällen können auch technische Geräusche zum Trigger werden: das Klackern von Schuhabsätzen. Das Ticken der Uhr. Das Klicken des Kugelschreibers. Und auch visuelle Reize können Trigger sein: das Schlackern mit überschlagenen Beinen. Oder das sichtbare Mahlen des Kiefers beim Essen. Misokinesie heißt das dann. Hass auf Bewegung.
Reiz und Reaktion stehen in einem grotesken Verhältnis
Fest steht: Die Reaktion der Betroffenen steht in einem grotesken Kontrast zum Trigger. »Ich glaube, die Geräusche sind für andere kaum wahrnehmbar«, sagt Elisabeth Franke. Als sie mal wieder am Esstisch ihrem Ärger Luft machte, habe ihr Mann geantwortet: »Ich höre gar nichts, was meinst du denn?« Bei ihr dagegen herrschte Verzweiflung. Stress pur innerhalb von Millisekunden.
»In den meisten Fällen führen Menschen mit Misophonie ihre Aggression nicht aus, weil sie wissen, dass das unverhältnismäßig ist«, sagt der Psychiater Damiaan Denys. »Aber sie spüren den Drang, jemanden zu töten, jemanden einen Bleistift ins Auge zu stechen, jemanden zu verletzen.« Sie denken darüber nach, doch sie tun es nicht.
Dass die Betroffenen so viel Wut, Aggression, Ekel oder Verzweiflung verspüren, hat vielleicht etwas damit zu tun, dass sich die Gefühle in ihnen anstauen. »Viele Betroffene versuchen jedes Mal, diese schnell einschießenden Gefühle zurückzuhalten«, sagt Anne Möllmann. »Das kostet unfassbar viel Kraft.« Wut sei eine Basisemotion, die dann auftritt, wenn wir unsere Grenzen verletzt sehen. Eine Gegenreaktion, wenn wir etwas nicht mehr aushalten. Das lässt sich auch objektiv feststellen: Die Herzfrequenz geht hoch. Die Schweißproduktion ebenfalls. Der Körper will kämpfen. Oder einfach nur weg.
»Menschen mit Misophonie scheinen die physikalischen Eigenschaften von Geräuschen genauso wie andere auch zu verarbeiten, aber sie repräsentieren sie anders im Gehirn«Joel Berger, Neurowissenschaftler
Das Problem: Die Betroffenen leiden. Massiv. Sie gehen nicht mehr ins Kino. Fahren nicht mehr mit dem Zug. Sie geben ihr Studium oder ihren Job auf. Sie schlafen getrennt vom Partner. Ziehen um. »In unseren Augen ist es eine Erkrankung. Die betroffenen Menschen können kein normales Leben führen«, sagt Damiaan Denys.
Darunter leiden natürlich auch die Angehörigen. Und weil den Betroffenen klar ist, dass ihre Reaktionen unangemessen sind, fühlen sie sich oft nicht nur ohnmächtig, sondern auch schuldig. Sätze wie »Jetzt stell dich nicht so an!«, »Reiß dich doch mal zusammen!« oder »Andere stört das doch auch nicht!« hätten ihr Leiden nur noch schlimmer gemacht, sagt Elisabeth Franke.
Forschende haben noch nicht ganz verstanden, wie die akustischen Reize bei Misophonikern eine derart starke Reaktion hervorrufen. Folgt man Damiaan Denys, dann ist das Klangerlebnis bei Misophonikern völlig verzerrt. In einer EEG-Studie aus dem Jahr 2014 hat sein Kollege Arjan Schröder Hinweise dafür gefunden, dass im Gehirn von Misophonikern schon die frühe Verarbeitung von Geräuschen gestört ist. In einem Test, bei dem Probanden regelmäßig Piep-Töne vorgespielt wurden, war das so genannte N1-Potential verringert, ein Marker für die automatische Reaktion des Gehirns auf ein Geräusch, bevor man dieses bewusst wahrnimmt. »Misophoniepatienten haben auf einer tiefen neurologischen Ebene eine andere Art, Geräusche zu erleben«, sagt Denys. »Schon auf der Wahrnehmungsebene scheint es einen Unterschied zu geben – noch bevor die Geräusche den präfrontalen Kortex erreichen.«
»Die betroffenen Menschen können kein normales Leben führen«Damiaan Denys, Psychiater
Joel Berger findet diese Interpretation nicht ganz überzeugend. Er ist Neurowissenschaftler an der University of Iowa; Misophonie ist einer seiner Forschungsschwerpunkte. Er glaubt, der EEG-Befund ließe sich auch anders erklären: Die Probanden bekamen bestimmte regelmäßig wiederkehrende Töne vorgespielt, und dazwischen wurden ihre Misophonie-Trigger eingestreut. Die Reaktion auf letztere könnte schlicht damit zusammenhängen, dass anstelle der erwarteten Töne ein anderes Geräusch auftauchte.
»Menschen mit Misophonie scheinen die physikalischen Eigenschaften von Geräuschen genauso wie andere auch zu verarbeiten«, sagt er, »aber sie repräsentieren sie anders im Gehirn.« Ein Fund, den sein Kollege Sukhbinder Kumar im Jahr 2021 gemacht hat: Wenn Misophoniker ihre Trigger hören, zeigen sie im Vergleich zu Kontrollprobanden zwar keinen Unterschied im primären auditorischen Kortex, jedoch eine Überaktivierung im motorischen Kortex. »Als ob die Betroffenen unabsichtlich die Bewegung des anderen zu sehr nachvollziehen.«
Dass Menschen die Bewegungen anderer Personen im Gehirn spiegeln, ist normal. Es könnte allerdings sein, dass das Gehirn von Misophonikern die Bewegungen anderer Menschen viel zu stark spiegelt und so ein Konflikt mit der eigenen Bewegungsrepräsentation entsteht, so Berger. Passend zu dieser These empfinden es Misophoniker oft als hilfreich, die Bewegung des Gegenübers nachzuahmen – beispielsweise selbst Kaubewegungen zu machen.
Verschiedene Teile der motorischen Großhirnrinde sind für bestimmte Körperteile zuständig. Joel Berger untersucht im Moment, ob die Überaktivierung im Motorkortex tatsächlich widerspiegelt, durch welche Geräusche Menschen getriggert werden. Mit anderen Worten: ob bei Menschen, die sich durch schmatzende Lippen gestört fühlen, ein anderes Areal überaktiv ist als bei jenen, die heftig auf das Klicken eines Kugelschreibers reagieren.
Im Jahr 2017 hat Sukhbinder Kumar in einer bildgebenden Studie gezeigt, dass Menschen mit Misophonie auf ihre Trigger mit einer übermäßigen Aktivierung des vorderen Inselkortex und damit verknüpfter Regionen reagieren. Die Psychiater Arjan Schröder und Damiaan Denys kritisierten in einem Kommentar zwar die unsauberen Einschlusskriterien der Studie. Aber als sie Betroffenen im Hirnscanner Videos mit kritischen Geräuschen vorspielten, fanden auch sie eine erhöhte Aktivierung in der Inselregion sowie weiterer Regionen, die für die Verarbeitung von Geräuschen zuständig sind. Ihre Schlussfolgerung: Bei Menschen mit Misophonie reagiert das Netzwerk, das für die Erkennung und Auswahl emotional relevanter Informationen zuständig ist, übermäßig auf bestimmte Reize. Der vordere Inselkortex ist ein zentraler Knotenpunkt im Salienznetzwerk. Das ist für die Wahrnehmung von interozeptiven Reizen und die Verarbeitung von Emotionen verantwortlich.
Vielleicht sind Misophoniker also sehr feinfühlig, was die Eigenwahrnehmung ihres Körpers angeht. Dazu passt, dass Misophoniker die Trigger als sehr invasiv wahrnehmen, wie Joel Berger beschreibt. »Das Problem mit diesen Regionen ist nur, dass es unzählige Gründe gibt, warum sie aktiviert werden können«, schränkt Berger ein. Möglicherweise handle es sich auch um eine bestimmte Form von Empathie, die hier repräsentiert wird, mutmaßt er. Etwa motorische Empathie, also ein Verständnis für die Bewegungen des Gegenübers.
Damiaan Denys betont, dass es sich bei all den Beobachtungen im Gehirn nur um statistische Korrelationen handelt. Die Studien seien zwar valide. Doch es seien nicht viele und die Stichproben klein. »Das ist für mich nicht genug, um zu sagen, dass das Gehirn diese Symptome verursacht«, sagt er. Die beobachteten Auffälligkeiten im Gehirn könnten ebenso das Resultat einer lange bestehenden Misophonie sein.
Probleme mit der Emotionsregulation
Für die Psychologin Anne Möllmann ist klar, dass Probleme mit der Emotionsregulation ebenfalls eine Rolle spielen. Menschen mit Misophonie falle es sehr schwer, sich von bestimmten Geräuschen wieder abzulenken. »Diese Reize haben eine magnetische Wirkung«, sagt Möllmann. In einer Studie aus dem Jahr 2024 haben Forschende mehr als 4000 Menschen zu Misophonie und ihrer Fähigkeit, Emotionen zu kontrollieren, befragt. Teilnehmenden mit Misophonie fiel es deutlich schwerer, ihre Gefühle im Griff zu behalten. Dieses Unvermögen stand zudem in einem starken Zusammenhang mit der Sensibilität für Triggergeräusche sowie den Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen.
Misophonie beginnt häufig in der späten Grundschulzeit oder frühen Pubertät. Betroffenen wird dies oft erst Jahre später in der Rückschau klar. Elisabeth Franke erinnert sich an eine Situation am Esstisch, da war sie etwa 13 oder 14 Jahre alt. All das Klappern und Schmatzen, sie konnte es nicht ertragen. Irgendwann habe sie ihren Teller genommen, auf den Boden geschmettert und sei aus dem Zimmer gerannt. »Es war einfach pure Verzweiflung. Ich wollte da raus. So schnell wie möglich.«
Diese Tischsituation sei für viele Misophoniker ganz typisch, sagt Damiaan Denys. Es gehe dabei um einen inneren Konflikt, der am Esstisch abläuft, aber nicht auf den Tisch kommen darf: Auf der einen Seite sind die Kinder genervt auf Grund eines Geräuschs. Auf der anderen Seite können sie nicht viel tun, können der Situation nicht entkommen. »Sie fühlen sich unwohl und würden eigentlich gerne etwas kritisieren – doch es geht nicht«, sagt Anne Möllmann. Außerdem gibt es Hinweise auf familiäre Häufung, so die Psychologin.
In psychologischen Tests zeigten Misophoniepatienten oft Merkmale von Perfektionismus. »Ich würde mich aber nicht festlegen, was da Henne und was Ei ist«, sagt Möllmann. Wenn sie für bestimmte Geräusche sensibilisiert sind, entwickeln sie auch höhere Ansprüche an ihre Umwelt und wie sich andere verhalten sollten. Gleiches gilt wohl für einen Befund aus dem Jahr 2024, wonach Misophoniker zudem häufiger über Angstzustände und Impulsivität berichten.
Misophonie tritt oft gemeinsam mit anderen psychischen Erkrankungen auf, darunter ADHS, Angst- und Zwangsstörungen, Depression, Autismus und Posttraumatische Belastungsstörung. Einige hätten sogar Merkmale, die denen der Misophonie ähneln, sagt Damiaan Denys. Dazu zählt er Autismus, ADHS, soziale Phobie und eine generelle Hypersensitivität für Geräusche. Rund 30 Prozent der Menschen, die mit der Verdachtsdiagnose Misophonie zu ihm gekommen sind, litten eigentlich unter einer anderen psychischen Erkrankung.
Was bei Misophonie hilft
Laut einem Review aus dem Jahr 2023 gibt es bislang nur wenige Untersuchungen zur Behandlung von Misophonie. Einzelne Veröffentlichungen beschreiben Interventionen wie kognitive Verhaltenstherapie oder Expositionstherapie, Psychopharmaka oder technische Hilfsmittel wie Musikkopfhörer und Ohrstöpsel.
Was hilft, um nicht in Rage zu geraten: Situationen vermeiden, in denen Trigger auftreten können. Betroffene Kinder beispielsweise sollten nicht gezwungen werden, gemeinsam am Esstisch zu sitzen oder mit ins Kino zu gehen, sagt Cornelia Schwemmle, Fachärztin für Phoniatrie und Pädaudiologie an der Universität Gießen. Elisabeth Franke erzählt, sie habe irgendwann nicht mehr mit der Familie zusammen gegessen. »Aber das war furchtbar«, sagt sie, »weil ich diese Momente eigentlich total geschätzt habe.« Eine weitere Maßnahme, so Cornelia Schwemmle: Kopfhörer zur Triggerabdämpfung. Oder Hilfsmittel wie ein Springbrunnen im Esszimmer, der das Schlürfen und Schmatzen durch sein Plätschern überdeckt. »Damit man den Trigger nicht mehr in dieser Intensität wahrnehmen muss.«
Da bei vielen Menschen mit Misophonie zu viel Stress eine Rolle spielt, können außerdem Entspannungsverfahren Linderung bringen, sagt Anne Möllmann. Das hat auch Elisabeth Franke so erlebt. Sie kann sich jetzt wie auf Knopfdruck herunterbringen. Anne Möllmann empfiehlt zu prüfen: Gibt es im Alltag zu viele Anforderungen? Wechseln sich anspannende und entspannende Phasen ab? Kann man Entspannungsverfahren lernen und regelmäßig durchführen? Wenn die kritischen Geräusche mit einem Trauma zusammenhängen, kann zudem EMDR – eine Desensibilisierung begleitet von Augenbewegungen – hilfreich sein.
Im Rahmen der kognitiven Verhaltenstherapie findet unter anderem eine Auseinandersetzung mit der eigenen Wahrnehmung statt. Menschen mit Misophonie sollen beobachten, was da in ihnen vorgeht, wenn sie Triggergeräusche hören – und diese Gedanken ändern. Elisabeth Franke erzählt, das sei für sie hilfreich gewesen: die Schuld nicht mehr bei anderen zu suchen, sondern zu überlegen, was da gerade in ihr selbst abgeht.
In Amsterdam werden Misophoniker im Rahmen eines zwölfwöchigen Programms desensibilisiert. Wenn Menschen beispielsweise das Geräusch von Chips nicht ertragen, sollen sie sich ein Geräusch überlegen, das dem krachender Chips ähnelt, aber mit einem positiven Gefühl verbunden ist – zum Beispiel das Geräusch von Fußstapfen im Schnee. Das Chipsgeräusch und das Schneegeräusch werden dann zusammen auf positiv assoziierte Bilder gelegt. So werden die Teilnehmenden trainiert, das Chipsgeräusch anders wahrzunehmen. Helfen könne zudem die digitale Manipulation von Geräuschen, sagt Anne Möllmann: in die Länge ziehen, mit anderer Musik vermischen. Außerdem gut: den Trigger mit positiv besetzten Reizen koppeln. Also das Schmatzen vom Bruder mit einem schönen Tiervideo. Das Atmen der Mutter mit einem angenehmen Lied.
»Wir ertragen einander nicht mehr«Damiaan Denys, Psychiater
Es gebe da eine Frage, die ihm nicht aus dem Kopf gehe, sagt Damiaan Denys. Warum haben wir Misophonie so spät erkannt? Warum wurde das Phänomen nicht schon früher in der psychiatrischen Literatur beschrieben? Er habe viel Literatur gewälzt – deutsche, französische, alles Mögliche. Fehlanzeige. Die Hypothese des Psychiaters: Misophonie müsse etwas mit dem Phänomen Urbanisierung zu tun haben. Mit der Zunahme der Bevölkerung in der Moderne. Mit der Tatsache, dass Menschen jetzt viel enger zusammenleben. Und es keine Rückzugsräume mehr gibt. »Wir ertragen einander nicht mehr«, sagt Denys. Misophonie sei auch ein Symptom davon.
Misophonie gilt bislang nicht als Erkrankung. Es ist auch nicht ganz klar, wie viele Menschen betroffen sind. Schätzungen bewegen sich zwischen 5 und 18 Prozent, sagt Joel Berger. Drei bis fünf Prozent, schätzt dagegen Damiaan Denys. Rund fünf Prozent, sagt Anne Möllmann. Das Problem: Es gibt unterschiedliche Fragebögen und Kriterienkataloge. Manchmal sind die Kriterien nicht präzise formuliert. Oft wird Misophonie mit einer anderen Störung verwechselt. Erst 2022 hat eine Gruppe von Fachleuten eine gemeinsame Definition veröffentlicht.
Ist Misophonie überhaupt eine Krankheit?
Ein Grund, warum man zurückhaltend ist, Misophonie zu den psychischen Störungen zu zählen, ist die Gefahr der Stigmatisierung und Pathologisierung. Laut Anne Möllmann wird Misophonie von einigen Fachleuten und Betroffenen etwa als eine Form von Neurodiversität diskutiert. »Es gibt noch keine Festlegung, ob man den Begriff Misophonie nur für krankheitswertige Ausprägungen benutzt oder auch für Varianten, die die Betroffenen kaum stören oder einschränken.« Bei den Hörstörungen passt Misophonie auch nicht wirklich rein; von normalhörend bis schwerhörig scheint bei den Betroffenen alles dabei zu sein.
Für viele Menschen mit Misophonie ist es erleichternd, einen Namen für ihr Leiden zu erhalten. Sich verstanden zu fühlen. Nicht allein zu sein. Damiaan Denys erinnert sich an eine 80-jährige Patientin. Mit ungefähr 18 Jahren habe sie Misophonie entwickelt, sei von der Schule geflogen, in eine Psychiatrie geschickt worden. Ihr ganzes Leben habe man sie für verrückt erklärt. Kurz vor ihrem Lebensende habe sie ihn dann angerufen und unbedingt mit ihm sprechen wollen. »Jetzt, bevor ich sterbe, weiß ich endlich, was es ist«, habe sie gesagt. Ein großer Trost.
Im Jahr 2013 hat Damiaan Denys gemeinsam mit seinen Kollegen erstmals Diagnosekriterien für Misophonie definiert; 2020 erhielt er den Ig-Nobelpreis für seine Forschung. »Ig« steht für »ignoble«, »unwürdig«. Ein Preis mit Augenzwinkern, der Menschen erst zum Schmunzeln, dann zum Nachdenken bringen soll. Er könne das nicht ganz nachvollziehen, sagt Denys. Für die Betroffenen sei Misophonie alles andere als komisch. Für einige sei es sogar ziemlich schmerzhaft, dass ihr Leiden andere zum Lachen bringt. Man könne die Augen schließen, wenn man nichts sehen möchte. Man könne weggehen, wenn man nicht berührt werden möchte. Doch die Ohren kann man nicht verschließen.
Elisabeth Franke hat inzwischen gelernt, mit der Misophonie zu leben. Vollends verschwinden wird sie wohl nicht; die Trigger werden bleiben. Aber: »Wenn die Geräusche meiner Kinder nicht da wären, wären auch meiner Kinder nicht da. Wie schrecklich wäre das denn!«
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