Erziehung: Jedes Wort wie ein Schlag

Der sechsjährige Tilo spitzt Bleistifte an, pausenlos. Sobald er mit einem durch ist, schmeißt er ihn weg. Keiner der Stifte ist am Ende gut genug für ihn – so wie er selbst nicht gut genug ist. »So empfand es der Junge«, berichtet Lars Otto White, »denn das wurde ihm zu Hause vermittelt.« White ist Kinder- und Jugendtherapeut sowie Professor an der Universität Bremen. Tilo, der eigentlich anders heißt, war einer seiner jungen Patienten.
»Das Kind hat zu Hause Gewalt erlebt«, sagt White. Keine körperliche, denn geschlagen wurde er nicht, sondern verbale Gewalt. »Psychische Kindesmisshandlung« lautet der Fachbegriff.
Eine einheitliche Definition, was genau dazu zählt, gibt es nicht. White versteht darunter Verhaltensweisen, die das Gefühl von Geborgenheit nehmen, den Selbstwert herabsetzen und die Autonomie des Kindes bedrohen. Was damit konkret gemeint ist: zum Beispiel die Drohung eines Elternteils, das Kind wegzugeben oder es rauszuwerfen, wenn es sich nicht verhält wie gewünscht. Ein Kind als »Nichtsnutz« zu bezeichnen oder ihm immer wieder zu verstehen zu geben, dass es zu nichts zu gebrauchen sei oder alles kaputt mache, was es in die Hand nehme. Bestrafungen und Verbote, die die Autonomie einschränken und etwa Kontakte zu Gleichaltrigen verhindern, gehören ebenfalls dazu.
»Bei Tilo ging es in erster Linie um Geborgenheit und den daran geknüpften Selbstwert, da die Eltern bereits bei kleinsten Auseinandersetzungen drohten, ihn rauszuschmeißen«, berichtet White.
»Sind die Eltern im Stress oder befinden sich in einer Krise, fehlt ihnen mitunter eine Alternative«Martina Huxoll-von Ahn, Pädagogin
Wie viele Kinder in Deutschland davon betroffen sind, lässt sich nicht eindeutig sagen. Fachleute vermuten eine hohe Dunkelziffer. »Scham kann auf Täter- wie auf Opferseite dazu führen, Vorkommnisse zu verharmlosen oder zu verdrängen«, so White. UNICEF, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, geht davon aus, dass jedes dritte Kind weltweit betroffen ist. Emotionale Gewalt oder Vernachlässigung wäre damit die verbreitetste Form von Gewalt gegen Minderjährige.
Der Trend geht weg von körperlicher Misshandlung
Zum gleichen Ergebnis kommen auch White und sein Team in einer vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten Studie aus dem Jahr 2022. Für Deutschland geht er allerdings von einer niedrigeren Zahl aus. Darauf weisen ebenfalls zwei bevölkerungsrepräsentative Untersuchungen aus den Jahren 2011 und 2017 hin. Beide wurden mit identischer Methodik durchgeführt, so dass sie gut vergleichbar sind: Die jugendlichen und erwachsenen Befragten gaben Auskunft über ihre Kindheit, zum Beispiel wie oft sie von Familienangehörigen als »dumm«, »faul« oder »hässlich« bezeichnet wurden. Der verwendete Fragebogen erlaubt zudem eine Einteilung in verschiedene Schweregrade, gemessen an der Häufigkeit der Vorfälle. Das Ergebnis von 2011: Knapp fünf Prozent hatten in der Kindheit moderate bis schwere Formen von emotionaler Misshandlung erlitten. Im Jahr 2017 waren die Zahlen auf rund sechseinhalb Prozent gestiegen – bei den Jungen auf gut vier Prozent und bei den Mädchen auf knapp neun Prozent. Dazu kamen noch jeweils rund 12 bis 13 Prozent, die zu den weniger ausgeprägten Fällen gezählt wurden.
Die Anzahl psychischer Misshandlungen scheint also in den vergangenen Jahren zugenommen zu haben. Das mag auf den ersten Blick verwundern, in einer Zeit, in der sich immer mehr Menschen für eine bedürfnisorientierte Erziehung einsetzen und Gewalt zumindest im öffentlichen Diskurs klar verpönt ist. Doch Martina Huxoll-von Ahn vom Kinderschutzbund (DKSB) wundert sich nicht darüber. Sie vermutet eine Art Verlagerung: Bei der körperlichen Kindesmisshandlung habe ein starkes Umdenken eingesetzt. Gaben in einer Umfrage im Jahr 2005 noch 76 Prozent der Eltern an, ihr Kind schon mal auf den Po geschlagen zu haben, waren es 2016 nur noch 45 Prozent. In einer anderen Befragung fanden im Jahr 2020 noch 43 Prozent einen Klaps auf den Hintern angebracht. Und: Je jünger die Befragten, desto mehr lehnten sie körperliche Strafen ab. Schwere Körperstrafen wie eine »Tracht Prügel mit Bluterguss« hielten lediglich 0,3 Prozent der Befragten für in Ordnung.
»Die Entscheidung, selbst nicht handgreiflich zu erziehen, ist eine gute Entwicklung«, sagt die Pädagogin Huxoll-von Ahn. »Sind die Eltern im Stress oder befinden sich in einer Krise, fehlt ihnen allerdings mitunter eine Alternative.« Statt körperlich zu werden, schlagen sie dann verbal zu. Viele der heutigen Eltern sind zudem selbst autoritär und mit verbaler Gewalt erzogen worden. In Momenten der Überforderung können sie dann leicht in alte Muster verfallen, die sie von zu Hause kennen – auch wenn sie ihre Kinder eigentlich anders erziehen wollen.
»Hier kann es helfen, sich die eigene Erziehungsbiografie vor Augen zu führen«, rät der Psychotherapeut Lars Otto White: Sich selbst besser zu verstehen und etwaige wunde Punkte zu kennen, ermöglicht es mitunter, in schwierigen Situationen anders zu reagieren. »Merkt ein Vater beispielsweise, dass er durch den Job gestresst nach Hause kommt und ihn bereits der Gedanke anstrengt, später noch ein warmes Abendessen zubereiten zu müssen, kann er seine Partnerin oder seinen Partner bitten, das zu übernehmen – oder einfach Brote servieren«, schlägt White vor. »Im Grunde geht es darum, den Anspruch an sich selbst als Elternteil nicht zu hoch zu schrauben.«
Einen wesentlichen Grund für das Umdenken in der Erziehung sieht Martina Huxoll-von Ahn in der Einführung des Paragrafen 1631 im Jahr 2001. Dieser spricht allen Kindern in Deutschland das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung zu. Auch White sieht in dem Paragrafen einen Meilenstein. Der Gesetzestext erklärt allerdings nicht nur körperliche Bestrafungen für unzulässig, sondern auch »seelische Verletzungen« und »entwürdigende Maßnahmen«. Diese sind dem Experten zufolge jedoch viel schwieriger festzustellen. Zudem fehle eine einheitliche Definition. »Solange hier keine Einigkeit besteht, bleiben Maßnahmen auf Grund von emotionaler Misshandlung, etwa vom Jugendamt, in der Regel aus«, sagt White. Hier müsse also nachjustiert werden.
»Zur psychischen Misshandlung wird das Verhalten erst, wenn es kontinuierlich stattfindet und nicht gemeinsam repariert wird«Lars Otto White, Psychologe
Das heißt jedoch nicht, dass Eltern, die mal klare Grenzen setzen und dabei die Stimme erheben, den Nachwuchs damit automatisch emotional misshandeln. »Zur psychischen Misshandlung wird das Verhalten erst, wenn es kontinuierlich stattfindet und nicht gemeinsam repariert wird«, erklärt der Psychologe White. Bezeichnen Eltern ihr Kind beispielsweise als »Nichtsnutz« oder schreien im Streit »Hör auf zu heulen!« und merken, dass sie damit einen Fehler gemacht haben, können sie die Beziehung in der Regel mit einer zeitnahen Entschuldigung reparieren und das Vertrauen des Kindes wiederherstellen. Finden solche Richtigstellungen jedoch nicht statt oder gehören die Herabwürdigungen oder Drohungen zum Alltag, fühlt sich das Kind hingegen nicht mehr sicher. Seine Psyche nimmt also Schaden – und in diesem Fall sprechen Fachleute von psychischer Misshandlung.
Die Folgen von verbaler Misshandlung
Dass solche Äußerungen dem Kind schaden, darin sind sich Experten und Expertinnen einig. Die genauen Auswirkungen sind allerdings gar nicht so einfach festzustellen. »Emotionale Misshandlung und körperliche Gewalt finden nicht selten gleichzeitig statt«, erklärt White. In den meisten Studien werden die beiden Gewaltformen daher nicht genauer unterschieden. White und sein Team haben das in einer eigenen Untersuchung getan. In ausführlichen Interviews befragten sie 778 Kinder und Jugendliche zwischen 3 und 16 Jahren, vermittelt unter anderem durch Einwohnermelde- und Jugendämter in München und Leipzig. Von rund 300 war bereits bekannt, dass sie in irgendeiner Form misshandelt wurden. Fast 250 berichteten ebenso von emotionaler Gewalt. Diese kam somit nicht nur am häufigsten vor, sie ging auch einher mit den schwerwiegendsten Auswirkungen für die psychische Gesundheit: Jüngere Kinder zeigten vor allem »externalisierendes«, also nach außen gerichtetes Verhalten wie Aggressivität, Einschlafprobleme, Auffälligkeiten im Essverhalten oder Einnässen. Jugendliche neigten hingegen stärker zu »internalisierenden«, nach innen gerichteten Reaktionen wie Ängsten, Depressionen und Essstörungen. Manche entwickeln dann über die Jahre eine Posttraumatische Belastungsstörung. Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine Auswertung von Forschenden aus den USA und Großbritannien im Jahr 2023.
Ungeliebt, abgelehnt, hilflos
Verbale Feindseligkeit ist das schädlichste Merkmal einer autoritären Erziehung. Das meldete die britische Wohltätigkeitsorganisation »Words Matter« 2023. In ihrem Auftrag hatte ein Forschungsteam aus England und den USA 150 Studien gesichtet sowie eine Umfrage unter mehr als 1000 britischen Eltern und ihren Kindern ab elf Jahren durchgeführt. Fast zwei Drittel der Eltern räumten verbale Aussetzer ein, und eines von zehn Kindern hörte nach eigenen Angaben sogar täglich böse Worte. Die meisten Kinder empfanden es als besonders verletzend, wenn sie als nutzlos oder dumm bezeichnet wurden. Solche Äußerungen hatten kurz- und langfristige Folgen: Die Kinder fühlten sich ungeliebt, abgelehnt, verachtet, hilflos oder verängstigt. Ihre Lebensfreude, ihr Selbstwertgefühl und ihre Selbstkontrolle sanken, und sie entwickelten mehr Verhaltensauffälligkeiten, Probleme in der Schule und mit Gleichaltrigen.
Eine Längsschnittstudie an US-Schulen mit knapp 1000 Jugendlichen und ihren Eltern belegte sogar, dass harsche Worte auch bei sonst liebevollen und unterstützenden Eltern und starker Bindung mehr Depressionen und Verhaltensprobleme nach sich zogen. Das Kind »aus Liebe« oder »zu seinem eigenen Besten« anschreien: Das mindere den Schaden dabei nicht, berichten die Forschenden.
Oft wirkt sich das körperlich aus. White und seine Kollegen analysierten die Haare von mehr als 500 Kindern im Alter von 3 bis 16 Jahren auf Cortisol, ein Stresshormon. In den Proben der verbal oder körperlich misshandelten Kinder lag der Cortisolspiegel unter den normalen Werten: »Der Körper antwortet auf chronischen Stress quasi mit Erschöpfung, womöglich um andere Körpersysteme vor einer dauerhaft hohen Cortisolausschüttung zu schützen«, erklärt der Psychologe. Die möglichen Folgen: neurobiologische Veränderungen, die sich in einer gesteigerten Aggressivität, Hyperaktivität oder Ängstlichkeit äußern, aber zudem ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Erwachsenenalter.
Umso wichtiger ist es, die betroffenen Kinder rechtzeitig therapeutisch zu versorgen. Behalten die Eltern das Sorgerecht, geht es in der Arbeit mit ihnen oft erst mal darum, Bewusstsein zu schaffen, sagt Psychotherapeut White: »Ihnen muss klar werden, was eine Drohung wie ›Ich werfe dich raus‹ bei einem Kind anrichten kann.«
Tilos Eltern waren bereits einen Schritt weiter. Als sie in Whites Sprechstunde saßen, wussten sie schon, was bei ihnen schieflief – aber nicht, wie sie daran etwas ändern konnten. »Alle drei steckten in ihrem Geschrei fest«, sagt der Therapeut. »Hier ging es darum, Hoffnung zu geben.« Wichtig war dabei zunächst, den Eltern zu vermitteln, dass sie nicht jede schwierige Situation mit ihrem Sohn perfekt meistern müssen. Ganz im Sinn des »good-enough parenting«, das der englische Psychoanalytiker Donald W. Winnicott prägte: Demnach gibt es keine perfekte Erziehung – die Eltern sollten nur ihr Bestmögliches tun, Kinder könnten demnach sogar von den Schwächen und Fehlern der Eltern lernen. Vorausgesetzt, diese können ihr Verhalten reflektieren und ihre eigenen Einsichten mit den Kindern teilen.
White versuchte, Tilos Eltern zu vermitteln, wie sie nach emotional heftigen Äußerungen auf ihr Kind zugehen, die eigene Überforderung eingestehen und das gebrochene Verhältnis wiederherstellen können. In dem Moment, als den Eltern das gelang, bekam der Sechsjährige die Chance zu verstehen, dass er nicht das Problem war und dass ein Streit keinen Beziehungsabbruch bedeuten muss.
Wege aus der Not
Denken Sie manchmal daran, sich das Leben zu nehmen? Erscheint Ihnen das Leben sinnlos oder Ihre Situation ausweglos? Haben Sie keine Hoffnung mehr? Dann wenden Sie sich bitte an Anlaufstellen, die Menschen in Krisensituationen helfen können: an den Hausarzt, niedergelassene Psychotherapeuten oder Psychiater oder die Notdienste von Kliniken. Kontakte vermittelt der ärztliche Bereitschaftsdienst unter der Telefonnummer 116117.
Die Telefonseelsorge berät rund um die Uhr, anonym und kostenfrei: per Telefon unter den bundesweit gültigen Nummern 0800 1110111 und 0800 1110222 sowie per E-Mail und im Chat auf der Seite www.telefonseelsorge.de. Kinder und Jugendliche finden auch Hilfe unter der Nummer 0800 1110333 und können sich auf der Seite www.u25-deutschland.de per Mail von einem Peer beraten lassen.
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