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Glaziologie: Mit angezogener Handbremse

Das Eis Grönlands schmilzt - so viel ist sicher. Aber wie stark und schnell? Gleicht mehr Schnee die Verluste zum Teil auch wieder aus? Und was bedeutet das alles für das Weltklima? Die Wissenschaft versucht derzeit viel, um diese Fragen zu beantworten. Und erlebt dabei manch Überraschendes.
Einsam im Eis
Noch ist das grönländische Inlandeis das zweitgrößte Paket gefrorenen Wassers auf der Erde – und den steigenden Temperaturen zum Trotz wird es das auch noch in Jahrhunderten sein. Schließlich umfasst der weiße Riese ein Volumen von 2,85 Millionen Kubikkilometern Eis, das sich an manchen Stellen bis zu 3400 Meter Mächtigkeit auftürmt. Sollte es komplett schmelzen, stiegen die Meeresspiegel weltweit um mehr als sieben Meter und überfluteten unter anderem weite Teile Norddeutschlands und Floridas, Bangladesch oder Südvietnams Mekong-Delta.

Grönlands Eisschild | Der Klimawandel nagt Grönlands Eisschild von den Rändern her an.
Bis das aber so weit ist, dürfte noch einige Zeit vergehen. Rund 100 Gigatonnen Wasser strömen derzeit jährlich per Saldo zusätzlich in den Nordatlantik, weil sich die Atmosphäre über Grönland erhitzt und das Eis abtaut oder wärmere Meeresströmungen an den Gletschern an der Küste nagen. Das eine scheint dabei das andere zu beschleunigen, und über Rückkopplungseffekte schmilzt immer noch mehr Eis ab und lässt den Meeresspiegel steigen – so zumindest die Theorie der Klimaforscher.

Vorsicht ist aber angebracht, mahnen Roderik van de Wal von der Universität in Utrecht und sein Team, denn viele Vorhersagen basieren nur auf kurzzeitigen Beobachtungen, die die tatsächlichen Bedingungen nicht widerspiegeln. Radaraufnahmen durch Satelliten zeigten beispielsweise, dass im südöstlichen Grönland viele Eiszungen schneller zum Meer fließen als vor ein paar Jahren. Der Schuldige: Schmelzwasser von der Oberfläche sickert durch so genannte Gletschermühlen, durch Spalten und Risse in den Bauch und schließlich zur Basis des Gletschers, wo es wie ein Schmiermittel wirkt. Während der Eiskörper von oben her ausdünnt, gleitet er unten auf dem Wasserfilm von Widerständen befreit und durch den höheren Wasserdruck angetrieben schneller zum Arktischen Ozean. Dort angekommen, speit er immer wieder große Brocken in die See, die letztlich ebenfalls dahinschwinden.

Vollgas und Bremse

Auch van de Wal und seine Kollegen können derartige Prozesse von ihrem Beobachtungsgebiet auf der Westseite Grönlands bestätigen. Mit Hilfe von Satelliten und GPS-Messungen überwachen sie seit Jahren, wie stark es am Rand des Jakobshavn Isbræ schmilzt und was das für die Fließgeschwindigkeit des Gletschers bedeutet. Schließlich zählt er zu den bislang schnellsten und produktivsten Eiszungen der Erde. In letzter Zeit hat sich der Abtrag an seiner Front im Schnitt deutlich gesteigert und beträgt nun bis zu 5,6 Meter pro Jahr.

GPS-Gerät im Eis | Mit Hilfe von GPS-Sensoren überwachten die Forscher die Bewegungen im Eis.
Sein Tempo ist dagegen während der letzten 17 Jahre gesunken – trotz des zusätzlichen Gleitmittels in Form von Schmelzwasser, notierten die Forscher überrascht. Übers ganze Jahr hinweg betrachtet, strömt der Gletscher nun um ein Zehntel langsamer als 1991, als die Überwachung begann. Warum der Jakobshavn Isbræ ganz anders reagiert als vermutet, entzieht sich aber noch der Kenntnis von van de Wals Mannschaft. Die abnehmende Eismächtigkeit könnte eine Rolle spielen oder auch die abgeflachte Hangneigung des Gletschers, denn beides nimmt Tempo heraus.

Sie wirken sich allerdings erst über das ganze Jahr gesehen aus, wie ein detaillierter Blick verrät, denn seit 2005 melden GPS-Geräte auf dem Eis stündlich ihre Standortverändungen. Setzt Anfang Mai die Schmelze ein, nimmt die Eiszunge Fahrt auf und legt den ganzen Sommer hinweg an Tempo zu. Allerdings nicht kontinuierlich: Von Woche zu Woche treten Schwankungen von bis zu 30 Prozent auf – ein hektischer, und in diesem Ausmaß bislang unbekannter, Wechsel zwischen Vollgas und Bremse.

Den nervösen Fuß auf den Pedalen mimen wohl die Spalten im Eiskörper, die durch das Tauwasser schnell aufreißen und sich ebenso rapide wieder schließen, wenn eine etwas kühlere Periode folgt. In diesen kurzen Phasen während des Sommers bilden sie sich aber nie vollständig zurück: Geht wieder ein milderes Lüftchen, klaffen sie bald wieder auf und dehnen sich noch weiter aus. Der Gletscher macht quasi einen Satz nach vorne. Irgendein Puffer bremst ihn im Herbst und Winter allerdings wieder aus, und zwar stärker als zuvor, damit die Jahresgeschwindigkeit unter dem Mittel liegt. Dies herauszufinden, haben sich die Glaziologen als nächstes zum Ziel gesetzt. Bestätigen sich die Daten in größerem Rahmen, könnte dies die Klimaforscher etwas beruhigen: Zumindest von schnelleren Gletschern droht weniger Gefahr überfluteter Küsten.

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