Direkt zum Inhalt

News: Mit viel Fingergespür

Menschen, die nicht hören können, sind keineswegs taub, denn sie können Musik machen und Konzerte besuchen, ganz wie hörende Menschen auch. Dabei bedient sich das Gehirn von Gehörlosen eines Tricks und macht sich den ansonsten brachliegenden Teil der Großhirnrinde zunutze, der eigentlich dem Hören dient.
Wer in Rochester ein Konzert oder Musical besuchen möchte, kann sich durchaus auf dem Campus des National Technical Institute of the Deaf wiederfinden. So sonderlich es im ersten Moment klingt, aber die technische Universität für Gehörlose ist bekannt für ihre musikalischen Ereignisse.

Doch so erstaunlich ist das gar nicht, denn schließlich kann ja jeder gehörlose Mensch wenigstens Vibrationen spüren, und etwas anderes sind Schallwellen schließlich auch nicht. Dass Gehörlose ihre akustischen Sinneseindrücke allerdings derart perfektionieren, dass sie ein Konzert genauso genießen können wie hörende Menschen, ist schon faszinierend.

Der Grund dafür liegt im Gehirn, das sich selbst in erstaunlicher Art und Weise zu optimieren weiß. Dean Shibata von der University of Washington und seine Kollegen hatten zehn gehörlose Studenten sowie elf hörende Kommilitonen gebeten, sich in die enge Röhre ihres funktionellen Kernspinresonanztomografen zu begeben, wo sie sodann einen vibrierenden Plastikstab in die Hand bekamen.

Bei allen Studenten, egal, ob sie hören konnten oder nicht, feuerten die Neuronen in genau jener Region, die für die Verarbeitung von Vibrationen zuständig sind. Doch bei den Gehörlosen fanden die Reize ihren Weg zusätzlich auch in den auditorischen Cortex, jenem Teil der Großhirnrinde, der dem Hören dient, der sich bei den hörenden Teilnehmern des Experiments aber überhaupt nicht rührte. Wenn man so will, hören die Gehörlosen also doch.

Shibata sieht darin ein weiteres Mal eine Bestätigung für die Fähigkeit des Gehirns, an sich ungenutzte Bereiche in Beschlag zu nehmen. Denn die Gehirnfunktionen sind nicht genetisch festgelegt, und das Gehirn ist auch nicht fest und unveränderbar "verdrahtet". Vielmehr zielt es auf die Optimierung seiner Bereiche, und da Schallwellen nichts anderes sind als hörbare Vibrationen, liegt es nahe, dass sich das Gehirn Gehörloser zur Wahrnehmung akustischer Vibrationen des brachliegenden auditorischen Cortex bedient.

An jener Universität für Gehörlose in Rochester werden diese Ergebnisse übrigens kaum Erstaunen hervorrufen. Wer dort ein Konzert besucht, kann entweder mit den Ohren hören oder bekommt einen Ballon in die Hand. Der verstärkt die akustischen Vibrationen des Orchesters und beschert den Gehörlosen über die Fingerkuppen einen Musikgenuss, der dem des hörenden Publikums in nichts nachsteht.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.