Direkt zum Inhalt

Wetter im Archiv: Mit Wein Europas Klimageschichte entschlüsseln

Historische Aufzeichnungen der Weinqualität und anderer Naturphänomene enthalten Informationen über das Wetter der Vergangenheit. Computermodelle erzeugen daraus überraschend genaue Klimarekonstruktionen vergangener Jahrhunderte.
Eine Hand hält ein Weinglas mit Rotwein vor einer malerischen Landschaft aus grünen Hügeln und einem klaren Himmel bei Sonnenuntergang. Die Szene vermittelt Ruhe und Genuss in der Natur.
In der Qualität von Jahrgangsweinen ist Europas Klimageschichte verschlüsselt. Nun beginnen Fachleute, diesen Datenschatz zu heben.

»Wer mir Wein bringt, sehe mich freundlich an, sonst trübt sich der Eilfer im Glase.« Mit Eilfer oder Elfer meinte Goethe in diesem Zitat aus dem »West-östlichen Divan« den Spitzenwein des Jahrgangs 1811. Bis heute gilt er als einer der besten Weinjahrgänge aller Zeiten. Nach wie vor existieren wenige wohlgehütete Flaschen des »Kometenweins«, wie er wegen des im selben Jahr sichtbaren Kometen Flaugergues auch genannt wird. Ihre herausragende Qualität verdanken diese Weine einem klimatisch besonderen Jahr: Frühling und Sommer waren in Mitteleuropa heiß. Vor allem April, Juni, Juli und August waren im Vergleich zum damaligen Klima zum Teil deutlich zu warm.

Seit Jahrhunderten ist bekannt, dass das Wetter im Sommer und die Qualität des jeweiligen Jahrgangs zusammenhängen. Je wärmer der Sommer, desto mehr Zucker enthalten die Trauben und desto gehaltvoller wird auch der Wein – was die Zeitgenossen minuziös vermerkten. Dagegen waren noch zu Goethes Zeiten Temperaturmessungen selten und aus früheren Jahrhunderten gibt es so gut wie keine Daten. Doch können wir stattdessen die Weinqualität als Indikator für das Klima herbeiziehen?

Für die agrarischen Gesellschaften der Vergangenheit hatte der Wein eine große Bedeutung. Er war nicht nur ein berauschendes Getränk, sondern auch ein stärkendes Nahrungsmittel. Schon in der »Ilias« des Homer, einem der ältesten literarischen Zeugnisse der Menschheit, spielt der Wein eine wichtige Rolle. Im klassischen Griechenland und dem antiken Rom stand er bei religiösen Zeremonien im Zentrum. Der berühmte Falerner, Lieblingswein der Römer, diente gar als Zahlungsmittel. Städte und Herrschaften des Mittelalters hatten ihre Weingüter, handelten mit Wein und nahmen oft einen Teil des Zehnten als Wein entgegen. Es erstaunt daher nicht, dass die Weinqualität seit früher Zeit aufgeschrieben und bereits im 19. Jahrhundert wissenschaftlich gemessen wurde.

Eine Flasche Kometenwein

So präsentierte eine Arbeitsgruppe um den Historiker Christian Pfister von der Universität Bern in einer im Juni 2024 erschienenen Arbeit, an der ich ebenfalls beteiligt war, eine Zeitreihe der Weinqualität aus Daten von Luxemburg, Ostfrankreich, der Schweiz und Deutschland. Dank solcher Aufzeichnungen können wir heute tatsächlich aus der Weinqualität das Klima rekonstruieren, insbesondere die Temperatur in den für die Beerenreifung entscheidenden Monaten von April bis August. So zeichnet sich deutlich die Klimaerwärmung der letzten 50 Jahre in Form steigender Qualität ab. Doch die Kurve erlaubt sogar Aussagen zur Temperatur einzelner Sommer zurück bis ins 14. Jahrhundert.

Klimainformation aus historischen Dokumenten

Die historische Weinqualität in der Klimaforschung zu verwenden ist neu. Dagegen nutzte man bereits vor 150 Jahren andere Indikatoren wie das Datum der Weinlese als Indikator für die Sommertemperatur; das Datum der Blüte gab Aufschluss, wie warm der Frühling war. Phänologische Daten nennt man solche Zeitreihen über das Eintreten jahreszeitlicher Pflanzenphasen. Welche Pflanzen als wichtig genug galten, um ihre Phasen zu dokumentieren, ist von Kultur zu Kultur unterschiedlich. Die längste phänologische Reihe der Welt ist diejenige der Kirschblüte in Kyoto, die bis ins Jahr 800 zurückreicht.

Auch andere jahreszeitliche Phänomene schrieb man auf, in Europa wie auch in Asien und später in Nordamerika. Um die Wintertemperaturen zu rekonstruieren, eignen sich ganz besonders das Zufrieren und Auftauen von Flüssen, Seen oder Meereshäfen, Eisphänologie genannt. Auch dazu finden wir lange Aufzeichnungsreihen, denn gefrorene Gewässer eignen sich als Transportwege, während zugefrorene Häfen nicht angelaufen werden können. Die vielleicht längste Reihe des Gefrierens, diejenige des Suwa-Sees in Japan, reicht ins 15. Jahrhundert zurück.

Doch kaum ein Umweltphänomen wurde so lange so genau dokumentiert wie der Wein, so dass man mit seinen Pflanzenphasen lückenlose Datenreihen bilden kann. Solche phänologischen Reihen sind Teil dessen, was man in der Klimaforschung als Dokumentendaten bezeichnet: Klimareihen, die auf von Menschen aufgezeichneten Phänomenen beruhen. Das können auch Chroniken oder Wettertagebücher sein.

Zwar sind solche Reihen schon lange bekannt, trotzdem hat die Paläoklimatologie lange Zeit vor allem auf Jahrringe von Bäumen als Indikator gesetzt. Je nachdem, wie gut die Bedingungen während der Wachstumsmonate eines Jahres sind, entsteht ein etwas breiterer oder schmalerer Ring, so dass die Abfolge der Ringe im Idealfall eine Art Fingerabdruck des Klimas an einem Ort liefert. Chronologien von Jahrringreihen gibt es viele, auch von Orten, die weit entfernt sind von den Bevölkerungszentren. Auch gibt es im Bereich der Jahrringforschung dank neuen Analysetechniken immer detailliertere Klimaindikatoren.

Omiwatari | Beim Zufrieren des Suwa-Sees in Japan bildet sich ein Eisrücken. Sein Erscheinen, Omiwatari genannt, wird seit dem 15. Jahrhundert aufgezeichnet.

Aber Dokumentendaten sind oft von hervorragender Qualität, denn schon vor Jahrhunderten konnten Menschen zum Beispiel beurteilen, ob ein Weinjahrgang etwas taugt oder nicht oder ob der Fluss vor der Haustür zugefroren ist. Anders als bei Daten aus der Natur können wir bei solchen Angaben auch mit hoher Genauigkeit sagen, von wann sie stammen, denn nahezu immer ist in Tagebüchern, Listen und Chroniken das genaue Datum verzeichnet. Eisphänologie erlaubt überdies eine Rekonstruktion des Winters, während die Jahrringe von Bäumen vor allem Aufschluss über die Sommermonate geben, in denen ein Baum neues Holz bildet. Dokumentendaten gibt es außerdem dort, wo Menschen lebten und sich bewegten, und Wetternotizen entstanden besonders dann in großer Zahl, wenn extreme Witterung herrschte.

Historische Dokumente kombiniert mit Supercomputern

Aber wie können wir nun aus solchen Daten das Klima rekonstruieren? Lange verwendete man dazu ganz einfache statistische Verfahren. Man passte die historische Reihe an eine zeitlich überlappende Temperaturreihe an, und fertig war die Rekonstruktion. In den letzten Jahren haben sich aber die Methoden zur Klimarekonstruktion stark geändert. Einerseits wurden die statistischen Herangehensweisen immer komplexer. Dazu kamen neue numerische Methoden. So erlaubt die Technik der Datenassimilation, historische Reihen mit Simulationen eines Klimamodells zu verknüpfen (siehe »Klimarekronstruktion aus phänologischen Daten«). Noch relativ neu ist der Einsatz von künstlicher Intelligenz, aber Rekonstruktionen, die auf maschinellem Lernen beruhen, werden vermutlich schon bald in größerer Zahl verfügbar werden.

Klimarekonstruktionen sind meist jährlich aufgelöst und messen je eine Klimavariable (Temperatur, Niederschlag, Trockenheit) in einer Jahreszeit. Manche stellen noch einzelne Jahreszeiten oder Monate dar. Aber atmosphärische Prozesse spielen sich auf der Skala des Wetters ab, also innerhalb von Tagen. Außerdem sind es oft Wetterereignisse, welche die größten Auswirkungen verursachen. Gewünscht wären daher tägliche Rekonstruktionen, und diese sollten mehr als Temperaturfelder umfassen, sondern auch die Luftdruckverteilung und den Wind.

Klimarekronstruktion aus phänologischen Daten

Um zum Beispiel aus dem Zeitpunkt der Weinlese oder dem Gefrieren von Gewässern Datem über Wetter und Klima zu gewinnen, nutzt man die Datenassimilation. Diese Technik kam bereits bei der Apollo-Mondlandung zum Einsatz. Dabei korrigiert man eine Modellsimulation laufend anhand von Beobachtungen und rechnet dann weiter. Seit den 1980er Jahren findet sie auch in der Meteorologie Verwendung und ist die Basis jeder Wettervorhersage. Wichtig ist dabei, die Fehler der Beobachtungen und der Fehler der Modellvorhersage genau zu kennen, denn im Modell sind die Fehler einzelner Variablen und Gitterpunkte stark voneinander abhängig. Eine einzelne Beobachtung korrigiert auf diese Weise den gesamten Modellzustand. So entsteht eine optimale Schätzung dieses Zustands, welche die Beobachtungen innerhalb derer Fehlerbreite wiedergibt und physikalisch wie statistisch konsistent ist.

Wie Daten in Modelle fließen

Aber man kann die Methode auch auf vergangene Daten anwenden, dann spricht man von Reanalysen. Diese gehören zu den meistverwendeten Daten in der Meteorologie und Klimatologie. Lange waren solche Reanalysen nur mit Daten aus den letzten Jahrzehnten möglich: Die Methode benötigte Messungen aus höheren Atmosphärenschichten, um zufrieden stellende Ergebnisse zu liefern. Neuere Verfahren liefern allein mit Luftdruckmessungen am Boden bereits gute Resultate. So können Datensätze erzeugt werden, die wesentlich weiter zurückreichen: aktuell bis 1806.

Für Klimarekonstruktionen verwendet man eine vereinfachte Art der Datenassimilation. Zuerst rechnet man die gesamten Simulationen und simuliert darin die Beobachtungen. Beispielsweise das Datum der Weinernte, Jahrringe oder Monatsmittelwerte von Messungen. Man vergleicht dann simulierte und beobachtete Klimaindikatoren und passt den gesamten Modellzustand so an, dass beobachtete und simulierte Indikatoren bestmöglich übereinstimmen. Dort, wo viele Daten einfließen, sind die Rekonstruktionen genauer, dort wo wenige Informationen vorliegen, stammt die Information vor allem aus dem Modell. Aber selbst dort sind die Rekonstruktionen physikalisch und statistisch konsistent.

Genau dies sollen neue Rekonstruktionstechniken möglich machen. Ein sehr einfaches Verfahren ist der Analogansatz, mit welchem man bis weit ins 18. Jahrhundert zurück das Wetter jedes einzelnen Tages rekonstruieren kann. Dazu braucht es tägliche Wetterkarten für einen möglichst langen Zeitraum. Dann wird anhand der vorhandenen Messungen des zu rekonstruierenden Tages der ähnlichste Tag in diesem Zeitraum gesucht. Die Wetterkarte dieses Tages, allenfalls noch etwas zu den historischen Messdaten hin korrigiert, ist dann die Rekonstruktion. Ein aufwändigeres Verfahren ist Datenassimilation (siehe »Klimarekronstruktion aus phänologischen Daten«) und wiederum maschinelles Lernen. Die Methoden lassen sich fast beliebig kombinieren.

Zurück zum von Goethe erwähnten Sommer 1811. Wie sieht das nun für dieses Beispiel aus? In der monatsweise aufgelösten Klimarekonstruktion »Modern Era Reanalysis«, in welche rund 600 Dokumentenreihen, etwa 1000 Baumringreihen und Tausende von Temperatur-, Druck- und Niederschlagsmessreihen einfließen, zeigt sich dieser Sommer als generell warm und gebietsweise heiß. In Tschechien, der Slowakei und Südpolen war es von April bis August ungefähr 2,5 Grad Celsius wärmer als in den vorangehenden 30 Jahren. Das ist ungefähr so viel wie April bis August 2018 wärmer waren als in den vorangehenden 30 Jahren.

Das Wetter des Jahres 1811 | Mit Hilfe historischer Daten kann man das Wetter des Weinjahres 1811 überraschend genau simulieren. Temperaturabweichung relativ zum Zeitraum von 1781 bis 1810 in April bis August 1811 (links). Die Symbole zeigen die in die Rekonstruktion eingeflossenen Daten. Temperatur und Luftdruck am 27. August 1811 (rechts).

Der Sommer 1811 rangiert in Österreich und Polen, wo es lange Temperaturmessreihen gibt, immer noch in den Top Ten der heißesten Sommer, auch wenn der genaue Temperaturwert natürlich unsicher ist. Auffällig war eine frühe Hitzewelle im Juni und dann drei starke Hitzewellen im August. Eine Wetterrekonstruktion für den 27. August 1811 aus der sechsstündlichen Wetterrekonstruktion »Twentieth Century Reanalysis« ist in »Das Wetter des Jahres 1811« dargestellt. Das Hochdruckgebiet über Finnland brachte warme Luft aus Südosteuropa nach Polen. So ließe sich nun das Wetter dieses Sommers Tag für Tag analysieren.

Der Sommer 1811 war umso bemerkenswerter, als er in eine sonst sehr kalte Zeit fiel – die so genannte Kleine Eiszeit, die im ausgehenden 19. Jahrhundert endete. Berühmt sind die Gemälde der niederländischen Meister, in denen sich die eisigen Winter dieser Periode niederschlugen. Ihren Höhepunkt erreichte die Kaltphase in den europäischen Weinregionen jedoch um das Jahr 1800, wie die Weindaten sehr eindrücklich zeigen. 10 der 40 Jahre zwischen 1782 und 1821 zählen zu den schlechtesten fünf Prozent der letzten 600 Jahre. Umso mehr sticht 1811 als einziges gutes Weinjahr hervor.

Dürren, Vulkanausbrüche und Kaltwinter

Man kann mit diesen Daten jedoch noch viel mehr machen, als bloß einen heißen Sommer zu dokumentieren. Die Klima- und Wetterrekonstruktionen umfassen nämlich nicht nur Temperatur und Niederschlag auf der Erdoberfläche, sondern auch die dreidimensionale atmosphärische Zirkulation. Wir können also beispielsweise untersuchen, ob ein bestimmter Typus von Dürren mit einer Verlagerung des polaren Jetstreams einhergeht. Diese Zone starker Winde zieht sich in Höhen von acht bis zwölf Kilometern rund um den Globus, und seine genaue Lage bestimmt das Wetter in Europa. Nördlich des Strahlstroms herrscht Polarluft vor, südlich davon dominieren warme, subtropische Luftmassen. Tatsächlich lag der Jetstream laut Rekonstruktion im Sommer 1811 weiter nördlich als sonst.

Oder wir können erforschen, wie ein Vulkanausbruch in den Tropen die Monsunsysteme und letztlich das Klima in Europa modifizieren kann. Tatsächlich spielte eine Reihe von tropischen Vulkanausbrüchen eine wichtige Rolle für die kühle Periode, in welche das Jahr 1811 eingebettet ist. Am bekanntesten ist wohl der Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien im Jahr 1815, welcher 1816 in Europa zum »Jahr ohne Sommer« führte. Solche Ereignisse sind selten. Daher sind lange Datensätze wie die Jahrhunderte zurückreichenden Aufzeichnungen über die Weinqualität für diese Forschungsfragen besonders wertvoll.

In den Wetterrekonstruktionen können wir beispielsweise untersuchen, welche spezielle Abfolge von Wetterereignissen 1740 in Mitteleuropa zum kältesten Jahr der letzten 600 Jahre geführt hat. Ähnliche Abfolgen könnten auch heute oder in der Zukunft vorkommen – wenngleich ausgehend von einem deutlich wärmeren Grundzustand des Klimas.

Solche detaillierten Rekonstruktionen enthüllen auch die meteorologischen Vorgänge, welche zu einem Jahrhundert- oder Jahrtausendhochwasser führen. In einer Arbeit in der Fachzeitschrift »Nature Geoscience« vom Februar 2025 konnten wir zum Beispiel entschlüsseln, wie es zu dem schweren Rheinhochwasser in Basel von 1801 kam. Am 31. Dezember dieses Jahres trat nach heftigen Regenfällen der Fluss über die Ufer und überschwemmte Teile der Stadt. Auch flussabwärts in Deutschland verursachte die Flut erhebliche Schäden. Im Oberrheingraben standen mehr als 250 Quadratkilometer Ackerland unter Wasser.

Solche extremen Ereignisse sind eng an die Stärke und Lage des Jetstreams gekoppelt. Wir rekonstruierten den Zustand dieses atmosphärischen Windbandes zwischen den Jahren 1421 und 2023; unsere Modelle zeigen, dass der Jetstream im Winter 1801/02 deutlich Richtung Äquator verschoben war. Dadurch zog zwischen November und Januar eine ganze Serie von Tiefdruckgebieten in den Alpenraum und brachte große Mengen Niederschläge.

Solche Jahrhunderte zurückgehenden Analysen machen es möglich, vorhergesagte Auswirkungen des Klimawandels und aktuell beobachtete Veränderungen im historischen Kontext zu betrachten. So zeigen unsere Daten, dass sich der Jetstream bisher keineswegs besonders ungewöhnlich verhält – seine Lage und Stärke schwankte in einem vergleichbaren Ausmaß wie in den letzten 600 Jahren. Angesichts des Klimawandels, der in Europa und anderswo heftigere Starkregenereignisse bringen wird, sind solche Untersuchungen wichtiger denn je, wie zum Beispiel auch das schwere Hochwasser im Ahrtal zeigte.

Historische Wetterextreme können als Grundlage für den so genannten Storyline-Ansatz dienen. Anders als bei klassischen Klimaanalysen, die statistische Aussagen über die Häufigkeit bestimmter Ereignisse machen, betrachtet man dabei physikalisch konsistente und plausible Ereignisketten, welche extreme Schäden hervorbringen könnten. Das betrifft keineswegs nur Starkregen und Überschwemmungen, sondern auch Stürme und Hitzewellen.

Überflutungsfläche des Hochwassers von 1868 | Vergleich der damaligen und heutigen Auswirkungen eines historischen Starkregenereignisses in der Magadinoebene in der Schweiz. Die resultierende Überschwemmung von 1868 simuliert mit einem hydraulischen Modell ausgehend von Wetterrekonstruktionen für den tatsächlichen Zustand 1868 (oben). Simulierte Überflutungsfläche mit der heutigen Bebauung und den heutigen Hochwasserschutzmaßnahmen (unten).

Nicht zuletzt kann man Wetterrekonstruktionen für nachgelagerte Forschungszweige weiterverwenden. Sie geben uns oft Informationen darüber, wie sich Wetter und Klima für die davon betroffenen Menschen auswirken. Das reicht von der Modellierung landwirtschaftlicher Erträge über die Feuerwettergefahr bis zu Sturmschäden, von Simulationen der Schneedecke bis hin zu Überschwemmungen. Dies hilft uns, die Folgen des bisherigen und kommenden Klimawandels besser zu verstehen, denn solche vergangenen Ereignisse werden nun zum Testgelände für die Gegenwart und Zukunft. Vergangene Stürme fegen im Modell über die heutigen Städte, vergangene Hochwasser fluten im Modell Talebenen mit der heutigen Bebauung und Infrastruktur. Interessant ist auch der Vergleich mit den Schäden in der Vergangenheit, denn nicht jedes extreme Wetter- oder Klimaereignis hatte auch extreme Auswirkungen.

Überschwemmungen einst und jetzt

Die neuen Möglichkeiten der Klima- und Wetterrekonstruktion verändern das Feld rasant. Supercomputer sind zum Werkzeug der Klimageschichte geworden. Dadurch ist aber interessanterweise auch die gute alte Archivarbeit wieder gefragt. Neue technische Möglichkeiten der Klimarekonstruktion sowie neue oder verfeinerte Fragestellungen, beispielsweise zu Extremen, führen letztlich dazu, dass historische Daten großen Wert für die aktuelle Klimaforschung bekommen. Die Daten über die Weinqualität, bisher fast ausschließlich ein Fall für die Geschichtswissenschaft, sind ein gutes Beispiel dafür.

Auch kurze Reihen, die lange kaum beachtet wurden, sind für die Wetterrekonstruktion auf einmal wieder interessant. Luftdruckmessungen zum Beispiel sind mindestens so wertvoll wie Temperaturmessungen. So gelang es zum Beispiel, anhand nur weniger Luftdruckmessungen das Sturmtief zu rekonstruieren, das 1825 eine verheerende Sturmflut an der Nordseeküste verursachte. Um das Klima der Vergangenheit zu enträtseln, schaut man nicht mehr nur auf Baumringe oder Eiskerne, sondern geht wieder zurück ins Archiv. Das ist wichtig, denn in Archive zu gehen, ist eine Kulturfähigkeit, die es zu erhalten gilt – gerade in Zeiten von Computermodellen und ChatGPT. Es braucht nicht nur die Archive selbst, sondern auch alle zur Erschließung nötigen Hilfsmittel und vor allem auch Expertinnen und Experten, welche die Daten einordnen können.

Tatsächlich sind die historischen Aufzeichnungen über den Wein als Informationsquelle für das Klima der Vergangenheit noch keineswegs ausgereizt. In Bern wertet Christian Pfister inzwischen einen weiteren Archivschatz aus. Er betrachtet nun nicht die Weinqualität, sondern die Mengen an Wein, die in europäischen Anbaugebieten geerntet und über lange Zeiträume erfasst wurden. So verzeichnete die Stadt Metz jahrhundertelang die angelieferten Ernten und schuf eine fast ununterbrochene Zeitreihe, die vom Jahr 1416 bis ins 20. Jahrhundert reicht. Und auch in anderen Regionen wurden Weinmengen protokolliert – Heilbronn zum Beispiel erhob an den Stadttoren Abgaben auf Wein, über die ab dem Jahr 1519 Aufzeichnungen existieren.

In ihrem Buch »Klima und Gesellschaft in Europa. Die letzten tausend Jahre« rekonstruieren der Historiker Christian Pfister und der Klimatologe Heinz Wanner anhand von Klimasimulationen, historischen Dokumenten und geschichtlichen Aufzeichnungen das letzte Jahrtausend europäischer Klima- und Kulturgeschichte.

Solche Daten sind weit schwieriger auszuwerten als Angaben über die Qualität. Schwere Frostereignisse können selbst eine gute Ernte dezimieren, und Kriege wie der Dreißigjährige Krieg führen ebenfalls zu Unterbrechungen in den Datenreihen. Doch kombiniert man diese Messungen mit der dokumentierten Weinqualität, erhält man aussagekräftige Daten, die teilweise bis ins späte 12. Jahrhundert zurückreichen. So könnte zum Beispiel ein genauerer Blick auf die mittelalterliche Warmzeit möglich werden, die ihren Höhepunkt vermutlich im 13. Jahrhundert erreichte. 850 Jahre Klimawahrheit im Wein werfen möglicherweise neues Licht auf eine der rätselhaftesten und umstrittensten Perioden in Europas Klimageschichte.

WEITERLESEN MIT »SPEKTRUM +«

Im Abo erhalten Sie exklusiven Zugang zu allen Premiumartikeln von »spektrum.de« sowie »Spektrum - Die Woche« als PDF- und App-Ausgabe. Testen Sie 30 Tage uneingeschränkten Zugang zu »Spektrum+« gratis:

Jetzt testen

(Sie müssen Javascript erlauben, um nach der Anmeldung auf diesen Artikel zugreifen zu können)

  • Quellen

Pfister, C. et al.: 600 years of wine must quality and April to August temperatures in western Europe 1420–2019. Climate of the Past 20, 2024

Imfeld, N. et al.: A 258-year-long data set of temperature and precipitation fields for Switzerland since 1763. Climate of The Past 19, 2023

Brönnimann, S. et al.: Past hydroclimate extremes in Europe driven by Atlantic jet stream and recurrent weather patterns. Nature Geoscience 18, 2025

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.