Zellbiologie: Die Macht der Mitochondrien

Im Biologieunterricht habe ich gelernt, dass Mitochondrien die winzigen »Kraftwerke« der Zellen sind, deren Hauptaufgabe darin besteht, Energie aus Sauerstoff und Nahrung zu produzieren. Diese Vorstellung von einer Art biologischem Ladegerät hatte mich allerdings nicht auf die äußerst vielfältigen Facetten der lebenswichtigen Organellen vorbereitet. 2011 sah ich Mitochondrien das erste Mal unter dem Mikroskop. Dank eines hinzugefügten Farbstoffs leuchteten sie intensiv, sodass ich ihr Verhalten gut studieren konnte. Sie waren sehr geschäftig, wanderten hin und her, verformten und berührten sich gegenseitig – ich war fasziniert.
Eine weitreichende Erkenntnis der Biologin Lynn Margulis half mir, meine Beobachtungen besser zu verstehen. Sie postulierte 1967, dass Mitochondrien von einem Bakterium abstammen. Eine Urform heutiger komplexer Zellen hatte es demnach vor etwa 1,5 Milliarden Jahren geschluckt, aber nicht verdaut, sodass es in ihr weiterlebte – zum beiderseitigen Vorteil. Margulis nannte das Endosymbiose. Die Mitochondrien erschlossen der größeren Wirtszelle eine neue Möglichkeit, Energie zu gewinnen: durch Nutzung des Sauerstoffs, der sich damals bereits durch Fotosyntheseprozesse in der Atmosphäre angereichert hatte.
Damit begann eine wesentliche Weiterentwicklung biologischer Zellen, die zunehmend miteinander kommunizierten und zusammenarbeiteten. Letztlich entstanden so auch die vielzelligen Organismen bis hin zu uns Menschen. In gewisser Weise wurden Zellen durch die Mitochondrien »sozial«, weil das Überleben jeder einzelnen davon jetzt von dem der anderen abhing.
Erstaunlicherweise lassen die Mitochondrien selbst einen gewissen Grad an »sozialem Verhalten« erahnen, wie meine Kollegen und ich entdeckt haben. Sie leben in Gemeinschaften, die sich meist um den Zellkern herum gruppieren. Und sie kommunizieren sowohl innerhalb ihrer eigenen Wirtszelle miteinander als auch über unterschiedliche Zellen hinweg. In schlechten Zeiten unterstützen sie sich gegenseitig und sorgen generell dafür, dass die Mitochondrien-Gemeinschaft gedeiht. Darüber hinaus produzieren sie die nötige Wärme, um die Körpertemperatur konstant zu halten. Sie empfangen Informationen aus der Umwelt, etwa über Luftverschmutzung oder Stressauslöser, verarbeiten diese und senden ihrerseits Signale aus, beispielsweise Moleküle, die Prozesse innerhalb der Zelle und sogar im gesamten Körper regulieren.
Funktionieren Mitochondrien nicht richtig – wenn sie etwa nicht ausreichend Energie für bestimmte biochemische Reaktionen bereitstellen – kann das zu ganz unterschiedlichen Krankheiten wie Diabetes, Krebs, Autismus und neurodegenerativen Störungen führen. Im Lauf des Lebens werden sie durch Stress und andere Belastungen geschädigt und tragen so dazu bei, dass wir altern und letztendlich sterben. Um solche Prozesse zu verstehen, sollte man sich näher mit Mitochondrien und ihrem »Sozialleben« befassen.
Vielseitige Energieversorger
Wir erben unsere Mitochondrien von unserer Mutter – genauer gesagt von ihrer Eizelle. Mitochondrien haben ihre eigene, ringförmige DNA, die aus nur 37 Genen besteht (im Unterschied zu den tausenden Genen der Chromosomen im Zellkern) und von zwei Membranen umgeben ist. Die innere der beiden erscheint ungewöhnlich: Sie enthält dicht gepackte Proteine und schlägt viele Falten, so genannte Cristae. Dort finden zentrale chemische Reaktionen des Energiestoffwechsels statt.
In den 1960er Jahren fanden die beiden britischen Biochemiker Peter Mitchell und Jennifer Moyle heraus, wie sich Sauerstoff mit Elektronen aus dem Kohlenstoff der Nahrung in den Cristae verbindet. Dabei wird Energie frei, wodurch sich ein elektrischer Spannungsunterschied über die Membran hinweg bildet. Diese Spannung treibt letztlich alle möglichen Prozesse im Körper an: vom Aufrechterhalten der Körpertemperatur über die Herstellung von Biomolekülen bis hin zum Denken. Eine zentrale Aufgabe der Mitochondrien ist die Produktion großer Mengen eines Moleküls namens Adenosintriphosphat, kurz ATP, das als mobiler Energielieferant für Hunderte von biochemischen Reaktionen in jeder Zelle dient.
Nach meiner Promotion begann ich in der Arbeitsgruppe des Genetikers und Evolutionsbiologen Douglas Wallace am Center for Mitochondrial and Epigenomic Medicine am Children's Hospital of Philadelphia zu forschen. 1988 hatte Wallace die erste Verbindung zwischen einer Mutation in der mtDNA eines Menschen mit einer bestimmten Krankheit nachgewiesen. In der Folge klärte er einige weitere grundlegende Beziehungen zwischen der Biologie der Mitochondrien und verschiedenen Erkrankungen sowie dem Alterungsprozess auf und legte damit den Grundstein für das Gebiet der mitochondrialen Medizin.
Berührung tut gut
In Philadelphia arbeitete ich mit der Postdoktorandin Meagan McManus zusammen. Sie wollte herausfinden, wie defekte Mitochondrien Herz-Kreislauf- und neurologische Erkrankungen verursachen können. McManus bat mich, mit einem Elektronenmikroskop die Mitochondrien im Herzen von Mäusen mit einer bestimmten mtDNA-Mutation, die zu Herzversagen führt, darzustellen. Unser Team experimentierte zu jener Zeit mit einer dreidimensionalen Mikroskopiemethode auf Basis der Elektronentomografie, sodass es sich anbot, diese dafür zu nutzen. Ein paar Wochen später führte mir der Projektleiter Dewight Williams von der University of Pennsylvania rekonstruierte dreidimensionale Filmaufnahmen von Mitochondrien und ihren Cristae vor.
Selbst bei sehr krank erscheinenden Mitochondrien sahen die Cristae an jenen Stellen gesund aus, wo die Mitochondrien einander berührten
Einige Mitochondrien in den Herzen der kranken Mäuse wiesen gezackte, höchst unregelmäßige Cristae auf. Ihr ungesundes Aussehen war mir auf zweidimensionalen Bildern bereits aufgefallen. Doch im Dreidimensionalen zeigte sich etwas, das ich zuvor nie erkannt hatte: Selbst bei sehr krank erscheinenden Mitochondrien sahen die Cristae an jenen Stellen gesund aus, wo die Mitochondrien einander berührten. Es schien, als unterstützten sie sich gegenseitig dabei, ihre Struktur aufrechtzuerhalten. An diesen Kontaktpunkten befanden sich auch mehr Cristae als an jeder anderen Stelle desselben Mitochondriums. »Das muss Meagan sehen!«, dachte ich und eilte zum Labor auf der anderen Seite des Campus.
Während ich das Video erneut startete, erzählte ich McManus, was ich wenige Minuten zuvor beobachtet hatte: »Die Mitochondrien beeinflussen sich gegenseitig!« Wir sahen uns die Aufnahme mehrmals an. Dann rief McManus aufgeregt: »Und die Cristae richten sich zwischen den Mitochondrien aus!« Sie zeichnete mit dem ausgestreckten Finger eine Linie quer über eine Kontaktstelle zwischen den Mitochondrien.
© Martin Picard
Elektronenmikroskopische Darstellung der Ausrichtung der Cristae zwischen verschiedenen Mitochondrien in unterschiedlichen Schnittebenen
Ich hatte tausende Elektronenmikroskopaufnahmen von den Besten ihres Fachs studiert. Nie hatte ich gesehen, dass sich Cristae eines Mitochondriums an denen eines anderen orientieren. Dabei hatte ich früher bereits eine Veröffentlichung der russischen Wissenschaftler Lora E. Bakeeva und Vladimir P. Skulachev aus dem Jahr 1983 gelesen, in der sie »zwischenmitochondriale Kontakte« beschreiben und in der Folge nachwiesen, dass solche Kontakte nach körperlicher Anstrengung zunahmen – möglicherweise um die Energieeffizienz zu steigern.
Wie hatten wir alle dabei diese strukturierte Ausrichtung der Cristae übersehen können? In Lehrbüchern wurden sie meist als nebeneinanderliegende Plättchen dargestellt. Doch in unseren Aufnahmen bildeten die Cristae parallel verlaufende Bänder, die sich wellenförmig über die Mitochondrien hinweg zogen. Es sah fast so aus, als würden die Cristae ihren Nachbarn helfen, sich zu organisieren, um das typische, regelmäßige Muster einzunehmen.
Im nächsten Treffen der Arbeitsgruppe erwähnte ich, die Muster würden mich an Eisenspäne erinnern, die um einen Magneten herum angeordnet sind. Und tatsächlich enthalten Cristae Eisen-Schwefel-Cluster, die paramagnetisch sein könnten. In dem Fall könnte der Stromfluss über die Cristae hinweg elektromagnetische Felder hervorrufen – und diese würden dann die Orientierung der Cristae beeinflussen. Natürlich ist das nur eine spekulative Hypothese, die aber die bis jetzt einleuchtendste Erklärung für die gleichmäßige Ausrichtung der Cristae benachbarter Mitochondrien liefert.
Heilende Verschmelzung
Diese Entdeckung veränderte meine Sicht auf Mitochondrien nachhaltig. Nachdem ich die Zellorganellen Hunderte von Stunden lang studiert sowie mit anderen Fachleuten auf dem Gebiet zusammengearbeitet hatte, war klar: Mitochondrien teilen Informationen untereinander, was sich direkt in den Mustern ihrer Cristae zeigt. Darüber hinaus zeigte sich an Zellen mit Mitochondriendefekten aufgrund von mtDNA-Mutationen, dass gesunde Mitochondrien intakte mtDNA an mutierte Mitochondrien abgeben können. Wird die Energieversorgung knapp, verschmelzen Mitochondrien zu langen Strängen, um mtDNA auszutauschen. Auf ähnliche Weise können einzelne Mitochondrien, die keine oder mutierte mtDNA enthalten, mit gesunden Organellen fusionieren und so ihre normale Funktion wiederherstellen.
Ein solcher Zusammenschluss macht nicht nur die Mitochondrien selbst widerstandsfähiger, sondern auch die Zellen, die sie enthalten. Ohne die Möglichkeit dazu häufen die Mitochondrien mtDNA-Defekte an und sterben schließlich ab, und genauso ergeht es den betroffenen Zellen. Beim Menschen hängt ein Mangel an Mitofusin 2 – ein Protein in der äußeren Mitochondrienmembran, das die Verschmelzung unterstützt – mit Neurodegeneration zusammen, also dem vorzeitigen Absterben von Nervenzellen. Und Mäuse, deren Mitochondrien im (zum »Belohnungssystem« des Gehirns gehörenden) Nucleus accumbens nicht mehr fusionieren können, verhalten sich ängstlicher.
Im Jahr 2016, kurz nachdem ich mein eigenes Labor an der Columbia University gegründet hatte, besuchte ich das Wellcome Center for Mitochondrial Research von Doug Turnbull in Newcastle. Ich saß wieder am Elektronenmikroskop, diesmal gemeinsam mit der britischen Doktorandin Amy Vincent. Wir untersuchten Muskeln aus dem Unterschenkel einer Frau mit einer mtDNA-Mutation, die bei ihr eine seltene mitochondriale Erkrankung verursacht hatte. Die Mutation ähnelte derjenigen, die McManus bei Mäusen gefunden hatte.
Vor unseren Augen lagen mitochondriale Nanotunnel: dünne Membranausstülpungen ähnlich jenen, mit denen Bakterien ihre ringförmige DNA austauschen
Was Vincent und ich an diesem Nachmittag entdeckten, eröffnete eine weitere neue Forschungsperspektive. Vor unseren Augen lagen mitochondriale Nanotunnel: dünne Membranausstülpungen ähnlich jenen, mit denen Bakterien ihre ringförmige DNA austauschen. Vincent und ich sahen zum ersten Mal in menschlichen Zellen, wie Mitochondrien dünne röhrenförmige Strukturen einander entgegenstrecken – ähnlich wie die fühlerartigen Ausstülpungen, mit denen manche Zellen nach einer günstigeren Umgebung oder einer Nachbarzelle tasten. Wir untersuchten dutzende weitere Muskelproben und stellten fest, dass Personen, deren Mitochondrien nicht richtig funktionieren, vermehrt solche Nanotunnel aufweisen. Es war, als würden angeschlagene Mitochondrien mit mtDNA-Mutationen auf diese Weise nach Hilfe suchen.
Noch bemerkenswerter ist vielleicht, dass auch Mitochondrien aus verschiedenen Körperteilen miteinander kommunizieren. Und zwar über Steroidhormone, deren erster Syntheseschritt in Mitochondrien abläuft. Das betrifft etwa die in den Nebennieren stattfindende Herstellung von Cortisol, das den Blutzuckerspiegel erhöht und darüber die Stressreaktion ankurbelt. Genauso ist es mit der Bildung von Testosteron, Östrogen und Progesteron in den Fortpflanzungsorganen. Mitochondrien im Gehirn wiederum verfügen über Rezeptoren, die auf Stress- sowie Sexualhormone ansprechen.
Ähnlich wie unsere Organe spezialisieren sich also auch Mitochondrien und sehen in verschiedenen Geweben und Zelltypen daher unterschiedlich aus. Die Zusammensetzung ihrer Proteine variiert, sie bewegen sich auf jeweils andere Weise. Und je nach Zelle, in der sie sich befinden, unterscheiden sie sich darin, wie sie Informationen wahrnehmen, verarbeiten und weitergeben. Die Spezialisierung dient höchstwahrscheinlich dazu, dass sie effizienter werden. Dadurch braucht der Organismus weniger Energie, um zu überleben.
Mitochondrienkartierung im Gehirn
Meine Kollegen und ich haben kürzlich die erste Kartierung von Mitochondrien im menschlichen Gehirn erstellt. Selbst innerhalb dieses einen Organs gibt es verschiedenste Arten von Mitochondrien – etwa in den diversen Teilen der Großhirnrinde sowie in tiefer liegenden, subkortikalen Hirnregionen. Das Gehirn verbraucht in Ruhe rund 20 Prozent der Körperenergie, obwohl es nur zwei Prozent der gesamten Körpermasse ausmacht. Daher benötigt es eine effiziente Energiequelle. Diesbezüglich haben wir herausgefunden, dass die Mitochondrien in jünger entwickelten Gehirnbereiche – das sind jene mit dem höchsten Energieverbrauch – besonders auf das Bereitstellen von Energie spezialisiert sind.
Selbst innerhalb einer Zelle können Mitochondrien sehr unterschiedlich aussehen. In Neuronen finden sich beispielsweise »dendritische« Mitochondrien. Sie sitzen in den dünnen Fortsätzen der Nervenzellen, den Dendriten, mit denen sie Signale von anderen Zellen empfangen. Derartige Mitochondrien erscheinen als stabile Filamente, die mehrere Kopien der mtDNA beinhalten und sich über 10 bis 30 Mikrometer erstrecken – erstaunliche Ausmaße für diese Art von Struktur.
© Martin Picard
Mitochondrien-Filamente in Dendriten von Nervenzellen
»Axonale« Mitochondrien wiederum bewegen sich entlang der langen Hauptfortsätze, der Axone, welche Signale an andere Neurone weiterleiten. Sie sind in der Regel nur bis zu einem Mikrometer lang, eher stämmig und verfügen oft über keine mtDNA. Zytoplasmatische Mitochondrien schließlich liegen nahe beim Zellkern und gleichen einer Zwischenform von dendritischen und axonalen Organellen. Ähnliche Gruppen spezialisierter Mitochondrien finden sich in Muskel- und Fettzellen.
Diese Erkenntnisse veranlassten die Verhaltensneurowissenschaftlerin Carmen Sandi von der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Lausanne und mich 2021, Mitochondrien als »soziale Organellen« zu bezeichnen. Falls der Begriff »sozial« für eine Zellorganelle bei Ihnen Stirnrunzeln verursacht, sind Sie damit nicht allein. Trotzdem argumentieren Sandi und ich, dass Mitochondrien alle Merkmale sozialer Wesen aufweisen: Sie bewohnen eine gemeinsame Umgebung, kommunizieren miteinander, bilden Gruppen, können sich synchron verhalten, sind voneinander abhängig und spezialisieren sich auf bestimmte Aufgaben.
Informationsverarbeitung im Kollektiv
In der Folge haben Orian S. Shirihai von der University of California in Los Angeles und ich mehr als 400 Studien analysiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass ein solches Kollektiv von Mitochondrien als eine Art »mitochondriales Informationsverarbeitungssystem« arbeitet, kurz MIPS genannt. Das bedeutet: Mitochondrien übersetzen hormonelle, metabolische, chemische und andere eintreffende Informationen in Änderungen des elektrischen Membranpotenzials ihrer Cristae. Das wiederum beeinflusst die Produktion von Botenmolekülen, die die Gene der Zelle regulieren und das Zellverhalten steuern. So wie wir Menschen Nachrichten auf unserem Handy lesen, das elektrische Signale empfängt und diese in für uns verständliche Informationen auf dem Bildschirm umwandelt, können Zellkerne ihre Umgebung mittels des MIPS »lesen«.
Mitochondrien sind für die Zelle so etwas wie die Hauptplatine eines Computers, die alle wichtigen Bausteine miteinander verbindet
Mitochondrien haben also keineswegs nur unterstützende Funktionen wie die eines Ladegeräts. Stattdessen sind sie für die Zelle eher so etwas wie die Hauptplatine eines Computers, die alle wichtigen Bausteine miteinander verbindet. Es braucht ausreichend Energie und die passenden Signale, damit die Gene im Zellkern den jeweiligen Anforderungen entsprechend aktiviert oder inaktiviert werden. Und genau dafür sorgen die Mitochondrien. Mein Kollege Timothy Shutt von der University of Calgary in Kanada bezeichnet sie gern als »CEO der Zelle« beziehungsweise als »Chief Executive Organelle«. Denn Mitochondrien verarbeiten nicht nur Informationen, sondern erteilen auch Befehle. Sie bestimmen, ob sich die Zelle teilt, zu einem speziellen Zelltyp ausdifferenziert oder stirbt. Tatsächlich haben Mitochondrien ein Vetorecht über Leben und Tod. Wenn das MIPS es für notwendig erachtet, löst es den programmierten Zelltod aus – quasi eine Form der Selbstaufopferung zum Wohl des gesamten Organismus.
Mitochondrien sind derart überlebenswichtig, dass Zellen sie in schwierigen Zeiten manchmal anderen zur Verfügung stellen. Eine solche Organellenspende kann eine geschädigte Zelle vor dem Tod retten und so helfen, Gewebe zu reparieren, aber auch zum Beispiel das Immunsystem aktivieren. In Tumoren scheinen Krebszellen mit Immunzellen um Mitochondrien zu konkurrieren und sie als eine Art Biowaffe einzusetzen. Eine internationale Initiative unter der Leitung von Jonathan R. Brestoff von der Washington University School of Medicine in St. Louis, USA, an der ich beteiligt war, hat kürzlich eigens eine Terminologie konzipiert, um das aufstrebende Gebiet von Mitochondrientransfer und -transplantation zu beschreiben.
Entscheidender Faktor für die Gesundheit
Das klingt alles schön und gut, mag nun mancher denken, aber was bedeutet das konkret für unsere Gesundheit oder Lebenserwartung? Die kurze Antwort lautet: Im Prinzip könnte alles, was mit Mitochondrien zu tun hat, mit Gesundheit zusammenhängen. Diabetes, neurodegenerative Krankheiten, Krebs und sogar psychische Erkrankungen werden zunehmend auch als Stoffwechselstörungen angesehen, an denen defekte Mitochondrien beteiligt sind. Und damit eröffnen sich neue Wege, Therapien zu entwickeln.
Mitochondrien beeinflussen die Gesundheit – oder die Entstehung einer Krankheit – auf verschiedene Weise. Der erste Weg ergibt sich aus ihrer Rolle als Energieproduzent. Wenn wir in einem Stromkreis die Eingangsspannung zu stark erhöhen, kann er durchbrennen. Ähnlich verhält es sich, wenn unsere Zellen zu viel Glukose oder Fett ausgesetzt sind – oder gar beidem gleichzeitig. Die Mitochondrien zerfallen dann oft in kleinere Teile, reichern mtDNA-Defekte an und senden Signale, die die Zelle vorzeitig altern oder absterben lassen. Experimente an Zellen sowie Mäusen haben gezeigt: Verhindert man einen solchen Mitochondrienzerfall auf Grund von übermäßiger Glukose- und Fettaufnahme durch Medikamente oder Genveränderungen, schützt das vor der gefürchteten Insulinresistenz, die typisch für Diabetes Typ II ist.
Auch Krebs könnte auf einem gestörten Zellstoffwechsel beruhen. So können Tumorzellen Glukose selbst ohne Sauerstoff zur Energieproduktion verwerten. Dies deutet darauf hin, dass entweder etwas mit ihren Mitochondrien nicht stimmt oder dass sie die Organellen lieber für das Vorantreiben der Zellteilung einsetzen – und damit für ihre ungehemmte Vermehrung.
Ein zweiter Weg läuft über den Einfluss der Mitochondrien auf die Genexpression: Mitochondriale Signale steuern die Aktivität von mehr als zwei Drittel aller Gene in den Chromosomen der Zellkerne. Mutationen in der mtDNA verändern entsprechend, welche Gene in welchem Umfang exprimiert werden. Auf diese Weise können sie das Verhalten und die Stressresistenz von Zellen und letztlich des gesamten Organismus beeinflussen.
Kranke Mitochondrien können äußerst merkwürdig aussehen – etwa bei Menschen mit bestimmten mtDNA-Defekten, die seltene mitochondriale Erkrankungen verursachen. Hier erscheinen vor allem die Cristae fremdartig, beispielsweise wie Kornkreise mit regelmäßigen geometrischen Formen. Tatsächlich können solche abnormalen Formen und Funktionen der Mitochondrien als Biomarker dienen und mögliche Ursachen für kognitive und neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson und andere anzeigen. Auch manche Betroffene mit Autismus-Spektrum-Störung weisen Defekte in den Mitochondrien auf.
Eine dritte Spur führt zu Entzündungen. Wenn Zellen verletzt oder gestresst sind, kann mtDNA in das Zytoplasma oder sogar ins Blut gelangen. Zusammen mit Caroline Trumpff von der Columbia University, Anna Marsland und Brett Kaufman von der University of Pittsburgh und anderen Kollegen habe ich herausgefunden, dass psychischer Stress die Menge an frei zirkulierender mtDNA im Blut erhöht. Ausgelöst wurde der Stress hierbei durch die Aufgabe, eine fünfminütige Rede vor Publikum zu halten. Menschen auf Intensivstationen, die schwer krank sind, weisen oft sehr hohe mtDNA-Werte im Blut auf. Da mtDNA-Ringe bakterieller DNA ähneln, werden sie von Immunzellen als Eindringlinge betrachtet und angegriffen, was zu Entzündungen führen kann. Und Entzündungen spielen nachweislich bei zahlreichen chronischen Erkrankungen eine Rolle, einschließlich Krebs und Neurodegeneration.
Glücklicherweise gibt es ein paar recht einfache Möglichkeiten, die Gesundheit unserer Mitochondrien zu erhalten
Wie man seine Mitochondrien fit hält
Wie genau defekte Mitochondrien zu körperlichen und psychischen Erkrankungen führen, ist noch nicht geklärt. Glücklicherweise gibt es aber ein paar recht einfache Möglichkeiten, die Gesundheit unserer Mitochondrien zu erhalten. Eine davon ist körperliche Bewegung. Wenn man sich verausgabt, verbrauchen Zellen mehr Energie, und das Membranpotenzial der Mitochondrien steigt an. Ist man nach dem Training außer Atem, heißt das: Die Mitochondrien arbeiten hart. Nun sind Gehirn und Körper evolutionär darauf gedrillt, die Zukunft zu antizipieren und sich auf mögliche Entwicklungen vorzubereiten. Daher produziert der Körper dann für etwaige zunehmende sportliche Beanspruchungen zusätzliche Mitochondrien und sorgt dafür, dass diese gut funktionieren.
Überraschenderweise könnten auch soziale Kontakte die Gesundheit unserer Mitochondrien im Gehirn fördern, wie eine groß angelegte Studie unter der Leitung von David A. Bennett vom Rush Medical College in Chicago zeigte. Das Team bat Hunderte von Menschen im Alter von mindestens 65 Jahren aus der Region Chicago, jedes Jahr Fragebögen auszufüllen, Kognitionstests zu absolvieren und Blutproben abzugeben, solange sie lebten. Nach ihrem Tod wurden ihnen die Gehirne entnommen, um die dort enthaltenen Mitochondrien zu untersuchen. Caroline Trumpff versuchte anhand dieser Daten herauszufinden, ob positive mentale Zustände wie Lebenssinn, Optimismus und Verbundenheit – oder aber negative Zustände wie Stressempfindungen, Depressionen und soziale Isolation – damit zusammenhängen, wie gut Mitochondrien Energie umwandeln.
Was Trumpff entdeckte, war erstaunlich: Die Menge der energieumwandelnden Proteine in den Mitochondrien des präfrontalen Kortex veränderte sich parallel zur Anzahl der positiven (mehr solcher Proteine) und negativen (weniger Proteine) Erfahrungen, die die Menschen im Jahr vor ihrem Tod gemacht hatten. Diese Erkenntnis passte zu den Ergebnissen früherer Studien, denen zufolge sich Misshandlungen im Kindesalter, chronischer Stress und die Stimmungslage auf die Mitochondrien in den Immunzellen des Bluts auswirken. Auch wenn ein ursächlicher Zusammenhang bisher nicht eindeutig belegt ist, könnte unser Gemütszustand also die biologischen Vorgänge in unseren Mitochondrien beeinflussen – und damit, wie gut sie Energie bereitstellen können.
Die Auswirkung der Ernährung
Eine weitere Maßnahme ist die Ernährung, speziell die »ketogene Diät«. Hierbei darf kein raffinierter Zucker gegessen werden, und die Kohlenhydratzufuhr wird begrenzt. Stattdessen bevorzugt man eiweiß- und fettreiche Nahrung. Eine solche Veränderung wirkt nachweislich dauerhaft gegen Insulinresistenz und Diabetes Typ II. Eine ketogene Ernährung wird außerdem bereits seit Jahrzehnten eingesetzt, um epileptische Anfälle zu reduzieren und damit das Gehirn von Kindern und Erwachsenen mit schwer behandelbarer und sonst unheilbarer Epilepsie zu »stabilisieren«. Sie scheint sogar den mentalen Zustand und die kognitiven Funktionen von Menschen mit Alzheimer zu verbessern, da sie die Kommunikation zwischen Gehirnregionen stärkt, welche sich mit zunehmendem Alter allmählich verschlechtert. Dies könnte auch erklären, warum manche Personen besser schlafen, wenn sie sich ketogen ernähren.
Erste Ergebnisse einer Pilotstudie mit 21 Teilnehmenden bescheinigen der Ernährungsweise zudem eine positive Wirkung bei bipolarer Störung und Schizophrenie. Zahlreiche weitere klinische Studien zur ketogenen Diät bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie, Depressionen, Angstzuständen und Zwangsstörungen laufen derzeit weltweit. Und eine neue Studie mit 28 995 Personen in den USA, von denen 4484 erhebliche Depressionssymptome aufwiesen, bestätigte die schützende Wirkung einer zuckerarmen Ernährung auf die psychische Gesundheit: Mitwirkende, deren Ernährung weniger Kohlenhydrate und Zucker als Fette und Eiweiße enthielt, entwickelten weniger als halb so häufig Depressionen wie jene, die sich relativ zuckerreich ernährten.
Wie kommt das zustande? Letztlich dreht sich hier wieder alles um die Mitochondrien. Ketogene Ernährung führt zunächst dazu, dass die Leber andere Organe im Körper effizienter mit Energie versorgt. Wenn man fastet oder sich ketogen ernährt, entzieht die Leber den Fettpolstern oder der Nahrung Fette und zerlegt sie in kleinere Einheiten, die Ketonkörper genannt werden; daher auch der Name ketogen. Dieser Prozess findet in den Mitochondrien der Leberzellen statt. Danach gelangen die Ketonkörper über den Blutkreislauf zu den Organen, von denen einige – darunter das Gehirn – Ketonkörper gegenüber anderen Stoffen wie Glukose, Proteinen und unzerlegten Fetten zur Energiegewinnung in ihren Mitochondrien bevorzugen.
Die Umsetzung von Ketonkörpern könnte dem Gehirn nützen, weil sie einen ziemlich direkten Energietransfer zwischen Mitochondrien ermöglicht
Der Grund dafür könnte eine höhere Effizienz sein. Die Standard-Energiequelle Glukose beispielsweise muss eine Reihe von Hürden überwinden, bevor sie zu den Mitochondrien der Neurone gelangt: Sie macht einen Umweg über Astrozyten, quert mehrere Membranen und durchläuft verschiedene enzymatische Reaktionen. Ketonkörper hingegen werden direkt von den Mitochondrien in den Neuronen aufgenommen und dort zur Energiegewinnung genutzt. Diese Route ist weitaus weniger kompliziert.
Die Ketose – die Umsetzung von Ketonkörpern – könnte demnach dem Gehirn nützen, weil sie einen ziemlich direkten Energietransfer zwischen Mitochondrien ermöglicht. Ketone im Blut bilden damit einen Kommunikationskanal zwischen den produzierenden und den konsumierenden Mitochondrien und tragen so zu deren »sozialem Verhalten« im gesamten Körper bei.
Alles ist im Fluss
Sobald wir Mitochondrien als dynamische Energie- und Informationsverarbeiter betrachten, eröffnet sich eine neue Perspektive auf das Leben als ein energetischer Prozess. Entsprechend verändert sich zwangsläufig unser Körper permanent. Er stößt ständig Zellen ab oder tötet sie und bildet neue. Aber auch unsere Psyche wird davon beeinflusst. So färbt Energiemangel die geistige Verfassung, wenn man beispielsweise »hangry« ist – ein englisches Kofferwort aus »hungry« und »angry«, also hungrig und (dadurch verstärkt) wütend.
Der Energiefluss durch Ihre Mitochondrien könnte all diesen neuen Erkenntnissen zufolge ein Schlüssel zu guter Gesundheit und einem sinnvollen Leben sein. Wenn Sie daher das nächste Mal auf eine verlockende Süßigkeit verzichten, spazieren gehen, im Fitnessstudio trainieren oder sich entscheiden, Zeit mit jemandem zu verbringen, der Ihnen wichtig ist, unterstützen Sie damit womöglich Ihre Mitochondrien bei ihrer lebenswichtigen Arbeit.
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