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Molecular Farming: Impfstoffe vom Acker

In Zukunft könnte die Landwirtschaft nicht nur Nahrung, sondern auch Medikamente herstellen. Auch gegen Covid-19 wurde jetzt ein pflanzlicher Impfstoff zugelassen. Die WHO indes sperrt sich gegen das neue Präparat.
Transfektion bei N. benthamiana.

Beinahe wäre 2019 eine Weltpremiere geglückt. Der erste rein in Pflanzen hergestellte Impfstoff für Menschen stand kurz vor der Zulassung durch die kanadische Gesundheitsbehörde – doch dann kam Corona. Der auf Infektionskrankheiten spezialisierte Mikrobiologe Brian Ward von der McGill University, der das in der Pflanze Nicotiana benthamiana produzierte Grippevakzin bei der Firma Medicago Inc. mitentwickelt hatte, steuerte um. Seine Pflanzen stellen nun für Medicago den Corona-Impfstoff Covifenz her, der in Kanada erhältlich ist.

Pflanzen zu Wirkstofffabriken umzufunktionieren, bezeichnet man als Molecular Farming. Die Technik ist zwar seit 1989 bekannt, doch sie fristet ein Nischendasein. Viele Fachleute haben Vorbehalte gegen die Methode. So war Brian Ward damals empört, als ihm der wohl größte Skeptiker in der kanadischen Gesundheitsbehörde, dessen Namen er nicht nennt, vorgeschlagen hatte, sein Team könne das auf die Arzneimittelproduktion ausgelegte Gewächshaus doch zu einer Blumenfabrik umfunktionieren.

Deswegen war Ward außerordentlich besorgt, als er im Jahr 2009 dem ersten Menschen einen Impfstoff aus einer Biotech-Pflanzenproduktion injizierte. »Hätte dieser erste Proband auch nur geniest – ich hätte ihn mit nach Hause genommen und gesund gepflegt«, erinnert er sich an die nervenaufreibende Phase I des strengen Zulassungsprozesses. Sein Proband blieb gesund. Und 2022 gestand Wards größter Skeptiker ein, nun doch von der Methode überzeugt zu sein – dank des jetzt von Wards Team neu entwickelten Corona-Impfstoffs.

Pflanzen als Hightech-Fabrik

Drei mögliche Missverständnisse gilt es auszuräumen. Bei diesem »pflanzlichen« Impfstoff handelt es sich keineswegs um ein Esoterik-Gebräu – und es entsteht auch nicht in einem gentechnisch veränderten Organismus (GVO). Ward und Medicago funktionierten Nicotiana benthamiana vielmehr nachträglich zu einer lebenden Produktionsanlage für Medikamente um; Fachleute nennen eine solche Pflanze »transient transformiert«. Oder alternativ: Es fand eine »transiente Expression« oder auch »transiente Transfektion« statt. Genetisch veränderte Nachkommen entstehen dabei nicht.

Außerdem haben die zur Impfstoffproduktion verwendeten Pflanzen auch nichts mit Krebs verursachenden Tabakerzeugnissen zu tun: Nicotiana benthamiana wird weder geraucht noch geschnupft oder gekaut – im Gegensatz zu ihrer nahen Verwandten Nicotiana tabacum, der Tabakpflanze. Beide gehören zur gleichen Gattung, sind aber unterschiedliche Arten. Der Gattungsname Nicotiana geht auf Jean Nicot zurück, der im 16. Jahrhundert Tabak in Frankreich einführte, ursprünglich ironischerweise tatsächlich als Heilpflanze.

Aber vielleicht wird auch die Tabakpflanze eines Tages mehr mit Heilung als mit Raucherlungen assoziiert werden können. Denn sowohl Nicotiana tabacum als auch die damit nicht zu verwechselnde Nicotiana benthamiana eignen sich beide hervorragend zum so genannten »Molecular Farming« – der biotechnologischen Produktion wertvoller Proteine in Nutzpflanzen. Ihre Produkte können in der Medizin, Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie Verwendung finden.

Die jüngste Zulassung eines Produkts dieser Technik ist besagter Corona-Impfstoff Covifenz, der im Februar 2022 die dritte und letzte Phase des Zulassungsprozesses bestand. Laut einer von Medicago finanzierten Studie in der Fachzeitschrift »The New England Journal of Medicine« im Mai 2022 schützt der neue Covid-Impfstoff mit einer Effizienz von 69,5 Prozent vor symptomatischen Infektionen und bis zu 78 Prozent vor moderaten bis schwere Verläufen.

Warum die WHO den Corona-Impfstoff ablehnt

Die Weltgesundheitsorganisation WHO indes hat die weltweite Eilzulassung des Medikaments im März 2022 abgelehnt und erwägt sogar die generelle Abweisung. Das allerdings nicht aus wissenschaftlichen oder medizinischen Gründen, sondern aus politischen: Der Zigarettenhersteller Philip Morris International Inc. hält nämlich Firmenanteile an Medicago.

Das Rahmenübereinkommen der WHO zur Eindämmung des Tabakgebrauchs (»Framework convention on tobacco control, FCTC«) verpflichtet die weltweiten Vertragsparteien zur Einhaltung gewisser Richtlinien, die einer Zulassung widersprechen könnten. So müssen etwa die Vertragsparteien gemäß Artikel 5.3 der Rahmenkonvention sicherstellen, dass ihre Gesundheitspolitik vor kommerziellen und anderen persönlichen Interessen der Tabakindustrie geschützt ist.

Besonders Vertreter von Anti-Tabak-Initiativen begrüßen die derzeitige WHO-Haltung mit dem Argument, dass die Tabakindustrie nicht als Partner in der öffentlichen Gesundheitspolitik fungieren dürfe, weil deren Interessen im direkten Konflikt zur Gesundheit stehen.

Andere haben kein Verständnis dafür, dass aus politischen Gründen gezögert wird, einen lebensrettenden Impfstoff auf den weltweiten Markt zu lassen. Viele Akteure aus der Wissenschaft stehen auf der Seite des neuen Impfstoffs – nicht nur weil das neue Herstellungsverfahren bahnbrechend ist. Im April 2022 veröffentlichte der Molekularbiologe Julian Ma, Direktor des Institute for Infection and Immunity at St George's, University o Immunität der St George's Universität London, einen offenen Brief an die WHO, der von mehr als 200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auf der Welt unterschrieben wurde; darunter praktisch von sämtlichen Repräsentanten der globalen Gemeinschaft des Molecular Farming.

In dem Brief kritisieren die Wissenschaftler die politische Ablehnung des pflanzenbasierten Impfstoffs und plädieren stattdessen für eine schnelle Zulassung zum Wohle aller. Sie argumentieren, dass der neue Covid-Impfstoff der Bewerbung von Tabakwaren gar nicht dienen könne, weil Nicotiana benthamiana für Tabakprodukte überhaupt nicht geeignet sei. Phillip Morris International habe darüber hinaus nur einen kleinen Anteil an der auf Impfstoffe spezialisierten Pionierfirma Medicago.

Es sei ohnehin nichts Schlechtes daran, die Tabakindustrie in ihrem Bemühen zu motivieren, von ihrem Businessmodell mit ungesunden Raucher-Produkten abzurücken. In dem Zusammenhang verweist Mas offener Brief auch auf Philip Morris als Forschungspartner in europäischen Horizont-2020-Projekten, in denen Medizinprodukte in Tabakpflanzen entwickelt werden.

DNA und Unterdruck

Der Protestbrief schließt mit dem Hinweis, diese spezielle Pflanzenplattform sei schnell genug und könne auch kurzfristig die nötigen Mengen Impfstoff liefern, um eine wirklich globale Immunisierung im Kampf gegen Covid zu erzielen.

Standardmäßig werden proteinbasierte Medikamente mit Hilfe von Hefen und Bakterien hergestellt oder mittels tierischer Zellen wie den Eizellen des chinesischen Zwerghamsters (CHO-Zellen). Wirkstoffe auf diese Weise biotechnisch herzustellen, ist oft notwendig, um den weltweiten dringenden Bedarf an Arzneien zu decken. Denn einige komplexe Stoffe lassen sich auf chemischen Weg entweder überhaupt nicht oder zumindest nicht in den benötigten Mengen herstellen, wie etwa das weltweit benötigte Insulin für Diabetiker, das früher aus dem Bauchspeicheldrüsengewebe von Schweinen gewonnen werden musste: Erst dank der Produktion durch gentechnisch veränderte Hefezellen oder Bakterien steht das Hormon Insulin nun in großen Mengen zur Verfügung.

Transiente Transfektion | Anders als bei klassischen gentechnischen Verfahren kommt bei der transienten Transfektion das Erbgut mit einer Bakterienlösung ins Blatt. Dazu reicht bereits leichter Druck.

Gegenüber klassischen biotechnischen Verfahren hat Molecular Farming eine Reihe von Vorteilen, die die Technik attraktiv machen. Insbesondere ist es viel schneller als klassische biotechnische Verfahren mit gentechnisch veränderten Organismen, weil man sich diese Veränderung schlicht spart. Bei der »transienten Transfektion« injiziert man jungen Pflanzen lediglich den genetischen Bauplan eines Proteinwirkstoffs. Dieser Bauplan, eine DNA-Sequenz, wird im Vorfeld im Labor konstruiert und in Bakterien eingebracht, die wiederum in die Pflanzenzellen eindringen können.

Den Prozess des DNA-Transfers über die Bakterien in die Pflanzenzellen nennt man Transfektion. »Transient« (vorübergehend) heißt, dass die eingebrachte DNA nur temporär in den Zellen vorliegt und nicht stabil in das Genom der Pflanze integriert wird. In den Pflanzenzellen dient dann die DNA-Sequenz als Vorlage für die Synthese des Zielproteins, im Fall von Medicago der Produktion des Corona-Spikes.

Bei Medicago greifen Roboter mehrere hundert etwa 18 Zentimeter große, sechs Wochen alte Exemplare von Nicotiana benthamiana, drehen sie um und tauchen sie kopfüber in die bakterielle Lösung ein. In dem Container wird durch Luftentnahme ein Unterdruck erzeugt, damit die Pflanzenblätter wie ein zusammengedrückter Schwamm erst kollabieren. Deshalb saugen sich die Blätter, sobald der Druck wieder aufgebaut wird, mit der Lösung voll. Millionen Bakterien werden in das Blattgewebe der Pflanzen eingesogen. »So wird jede Pflanzenzelle transfiziert«, erklärt Brian Ward. »Das dauert nur zwei Minuten, danach bringt der Roboter die Pflanzen ins Gewächshaus, wo sie bereits nach einer Woche das gewünschte Protein im Blatt produzieren – dann muss man nur noch die Blätter abschneiden und die Proteine extrahieren. Aus bloß einem Durchgang mit der Gruppe an transfizierten Pflanzen erhalten wir typischerweise genug Wirkstoffe für etwa eine halbe Million Impfdosen.«

Pflanzenzellen sind einfacher zu handhaben als tierische

Pflanzen lassen sich beim Molecular Farming auch durchaus genetisch verändern, so dass die gewünschten Wirkstoffe stabil in ihren Nachkommen vorhanden sind. Im letzteren Fall ließe sich der Wirkstoff sogar auch in den Samen der genetisch veränderten Pflanze speichern und transportieren, bis sie wieder gebraucht und aufgezogen werden. Das ist der zweite Vorteil der pflanzenbasierten Biotechnik – man kann die Produktion problemlos vervielfachen, denn alles, was man dazu braucht, ist zusätzliche Anbaufläche.

Ob nun genetisch verändert oder per transienter Transfektion eben nicht genetisch verändert – in jedem Fall produziert der in die Pflanzen eingebrachte Bauplan spezielle Proteine. Ein solches Protein kann beispielsweise ein Antikörper oder ein Spike-Protein aus der Virushülle sein, so wie beim Corona-Impfstoff.

»Als man das Ende der 1980er Jahre rausgefunden hat, war es eine Sensation, dass Pflanzen Antikörper produzieren können. Heute ist das Alltag«Stefan Schillberg, Leiter des Aachener Fraunhofer-Instituts für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie IME

»Auch andere Wirkstoffe (Proteine) wie therapeutische Antikörper, Impfstoffe, Hormone und Enzyme lassen sich in der Regel nicht durch chemische Synthese herstellen«, erläutert Stefan Schillberg, Professor für Molekularbiologie und Leiter des Aachener Fraunhofer-Instituts für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie IME. »Die zelluläre Maschinerie von Mikroben, Tier- oder auch Pflanzenzellen wird dazu gebraucht. Aber«, fügt er hinzu, »nicht in jeder Zelle lässt sich jedes Protein produzieren: Eine Pflanzenzelle kann vieles, was auch eine tierische Zelle kann, ist aber einfacher zu handhaben. Denn Pflanzen sind einfach zu kultivieren. Sie brauchen nur Licht, Wasser und Nährstoffe.« Außerdem ist die Pflanzenvielfalt groß: Wenn eine bestimmte Pflanze nicht das gewünschte Protein herstellen kann, dann gibt es viele Pflanzen-Alternativen, mit denen man es probieren könnte. Das sei allerdings sehr zeitaufwändig.

Zwei weitere Vorteile sind weniger offensichtlich, aber nicht zu unterschätzen. Pflanzen enthalten zum einen nahezu keine Krankheitserreger, die auf den Menschen irgendwann übertragbar sein könnten. Dazu sind tierische und pflanzliche Zellen zu unterschiedlich, so dass pflanzenbasierte Techniken die größte Biosicherheit bieten.

Darüber hinaus können Pflanzenzellen komplexere Proteine produzieren als Mikroben. »Einen Antikörper kriegt man nicht in Bakterien produziert, weil das Bakterium nicht die Eigenschaft hat, diese Ketten zusammenzubauen«, erläutert Schillberg. »Die Pflanze kann das überraschenderweise. Als man das Ende der 1980er Jahre herausgefunden hat, war es eine Sensation, dass Pflanzen Antikörper produzieren können. Heute ist das Alltag.«

Molecular Farming gegen Pandemien

Doch dieses Potenzial von Molecular Farming als Plattform zur Arzneimittelproduktion ist noch längst nicht allgemein anerkannt. Schillberg veröffentlichte daher bereits 2019 mit Kollegen aus England, Spanien und Deutschland eine Übersichtsstudie im Fachjournal »Trends in Plant Science« darüber, wie Pflanzen mittels Molecular Farming sehr wirksam zur Bekämpfung von Pandemien eingesetzt werden könnten.

Das internationale Expertenteam stellt dabei drei Hauptanwendungsbereiche vor: erstens zur Produktion von Diagnostika, zum Beispiel Antikörper zum Nachweis von Infektionen. Zweitens zur Produktion von Impfstoffen und drittens die Produktion von Virostatika – Proteine, die die Virusvermehrung bremsen und mit denen man die Symptome der Krankheit mildern kann.

Zum Antikörpernachweis können als Reagenzien beispielsweise Proteine der Virushülle dienen, die in Pflanzen produziert werden. Sie binden im Bluttest an die Sars-CoV-2-spezifischen Antikörper eines Patienten, der die Virusinfektion schon einmal durchlebt hat. Nach dem gleichen Prinzip entstehen auch Virusproteine für Impfstoffe, zum Beispiel das Spike-Protein des Virus, das sich bei Covifenz zu einer virusartigen Form, den virusähnlichen Partikeln (englisch: virus-like particles, VLPs) zusammenlagert.

Antikörper-Schnelltest | Schnelltests, die eine aktuelle oder frühere Infektion mit einem Krankheitserreger nachweisen können, basieren auf biotechnisch produzierten Antikörpern.

Mögliche antivirale Medikamente aus Pflanzen wären zum Beispiel Lektine. Sie binden spezifisch an Zuckerstrukturen der viralen Oberflächenproteine und verhindern, dass das Virus an der Wirtszelle andocken kann. So wird die Virusvermehrung gehemmt, die Infektion verlangsamt und das Immunsystem gewinnt mehr Zeit, um zu reagieren. Lektine werden auch gegen das HI-Virus eingesetzt.

Doch trotz seines Potenzials spielt Molecular Farming noch keine Rolle bei der Pandemiebekämpfung mit proteinbasierten Medikamenten. Die Methode steht in Konkurrenz zu anderen Produktionssystemen in Hefen, Bakterien und tierischen Zellen, die in der Pharmaindustrie etabliert sind. Dabei habe das Molecular Farming nicht nur in Pandemien gute Einsatzchancen, erklärt Schillberg, sondern insbesondere in Notfallszenarien, wo schnell Impfstoffe gebraucht werden: »Zum Beispiel, um bestimmte Infektionen zu bekämpfen, die häufig viral sind. Da wären Pflanzen ideal, da sie mittels der transienten Expression das Protein sehr schnell innerhalb weniger Tage produzieren können.«

Pflanzentechnik gegen Ebola und Erbkrankheiten

Obgleich das Molecular Farming insgesamt noch um Aufmerksamkeit zu ringen scheint: Einige mittels Molecular Farming hergestellte Medikamente konnten bereits auf dem Weltmarkt an Bedeutung gewinnen, seit die Methode 1989 erstmals veröffentlicht wurde.

Das wirtschaftlich derzeit wichtigste Beispiel ist die Produktion des Enzyms β-Glucocerebrosidase in Karottenzellen. Patienten, denen dieses Enzym fehlt, erkranken an der Gaucher-Krankheit. Sie sind nicht in der Lage, bestimmte Stoffwechselprodukte abzubauen, was sogar tödlich enden kann. Dieses Enzym braucht zu seiner Funktionalität eine bestimmte Zuckerkette am Protein, die Pflanzen besonders gut herstellen können. Heute als ELELYSO vermarktet, erhielt es im Jahr 2012 seine Zulassung, einer von zwei großen Durchbrüchen für das Molecular Farming in dem Jahr.

Ebenfalls 2012 nämlich entwickelten Fachleute im Rahmen des EU-Projekts »Pharma-Planta«, eines internationalen Konsortiums mit Schillbergs Team, eine so genannte GMP-konforme ((GMP = Good-Manufacturing-Practice) Entwicklungsplattform für pharmazeutische Proteine mittels Molecular Farming, die dann auch in der EU zugelassen wurde – eine wichtige Voraussetzung für zukünftige Anwendungen der Technik. Das gelang mit der erfolgreichen klinischen Phase-I-Studie für einen HIV-neutralisierenden Antikörper in Tabakpflanzen (Nicotiana tabacum).

Das bekannteste Beispiel allerdings ist der Antikörpercocktail »ZMapp« gegen Ebola, der ebenfalls in Tabakpflanzen hergestellt wird. Er machte 2014 Schlagzeilen, als er während der Ebola-Epidemie in Westafrika eine Notzulassung zur Anwendung und für klinische Studien in Liberia erhielt.

Auch Medicagos neu zugelassener Impfstoff Covifenz gilt in der Molecular-Farming-Gemeinschaft als sehr wichtiger Durchbruch. Medicago habe anschaulich demonstriert, dass es mit der transienten Expression möglich ist, Impfstoffe sehr schnell in ausreichender Menge bereitzustellen, erklärt Schillberg. In diesem Fall hält er die transiente Expression sogar für die sinnvollste Pflanzenplattform und betont: »Es ist ein Alleinstellungsmerkmal der Pflanze – kein anderes System kann Medikamente in dem Maßstab, der Größenordnung und gleichzeitig in der Schnelligkeit liefern!«

Verpasst die WHO eine Chance?

Fachleute räumen der Molecular-Farming-Technologie deswegen große Chancen ein. Die deutsche Firma Icon Genetics beschäftigt sich schon länger mit der klinischen Anwendung von Impfstoffen, die Produktionssysteme dieser Firma stellten auch das erfolgreiche ZMapp her. Icon Genetics hat verschiedene Produkte in der klinischen Testung, wie etwa seit 2010 personalisierte Krebsimpfstoffe, die für jeden Patienten individuell hergestellt werden. Die Firma sieht auch hierin einen zukünftigen Anwendungsfall für Molecular Farming, da diese Produktionssysteme nicht nur schneller, sondern auch flexibler als andere Techniken sind.

Auch Icon Genetics unterzeichnete den offenen Brief an die WHO. Schillberg bringt die Stimmung der internationalen Wissenschaft auf den Punkt: »Wohl alle aus der Molecular-Farming-Forschung finden es schade, dass die WHO die Möglichkeit, ein Medikament zu bekommen, das auf neuartige Weise produziert und so schnell verfügbar ist, aus Gründen ablehnt, die für die Wissenschaft nicht nachvollziehbar sind.«

»Da guckt die Tabakindustrie schon mal nach Alternativen zur Zigarettenproduktion, und dann verwehrt die WHO das denen? Wäre der Impfstoff in Salat statt in Nicotiana benthamiana produziert worden und statt Philipp Morris hätte Iglo mitinvestiert, hätte doch kein Mensch etwas dagegen gesagt …« Bislang (Stand: Mai 2022) blieb der Protestbrief internationaler Wissenschaftler von der WHO unbeantwortet.

Nichtsdestoweniger sind Fachleute zuversichtlich, dass die Zulassung des Impfstoffs einen wichtigen Beitrag dazu leistet, Molecular Farming in der Biotechnologie zu etablieren. »Ich glaube, dieses Ereignis ist ein Türöffner – einerseits für andere Firmen, neue Produkte zu platzieren, und andererseits für Investoren, in pflanzenbasierte Produkte zu investieren«, meint Rita Abranches während einer Fachkonferenz der Internationalen Forschungsgemeinschaft für Molecular Farming (International Society for Plant Molecular Farming, ISPMF) im Mai 2022.

Die Molekularbiologin ist Projektleiterin des Pflanzenzellbiologie-Labors ITQB NOVA, eines an der Universität Lissabon angegliederten Forschungsinstituts. Sie erklärt den symbolischen Wert des Durchbruchs, der von der WHO-Entscheidung unberührt bleibt: »Die kanadische Zulassung weckt Hoffnungen und Gelegenheiten für unsere ganze Molecular-Farming-Gemeinschaft, so wie es Protalix BioTherapeutics aus Israel 2012 mit der Gaucher-Krankheit tat und 2014 ZMapp gegen das Ebola-Virus. Denn positive Ergebnisse schaffen langfristig ein Bewusstsein.«

Medizin aus Moos

Dem stimmt Schillberg zu. Mit ihm und vielen weiteren Koautoren veröffentlichte Rita Abranches in der Fachzeitschrift »Plant Biotechnology Journal« 2021 einen detaillierten zweiteiligen Review darüber, was Molecular Farming gegen viele endemische, epidemische und pandemische Infektionskrankheiten leisten könnte, an denen Milliarden Menschen leiden. Allerdings seien noch viele Barrieren zu überwinden; darunter auch eine »Trägheit in der Industrie«, was derzeit noch die breite gewerbliche Aufnahme und den koordinierten internationalen Großeinsatz für Impfstoffe und andere biotechnologische Herstellungen behindert.

»Klinische Studien kosten viel Geld. Und das muss von privaten Investoren kommen«Ralf Reski, Universität Freiburg

Diese Erfahrung machte auch Ralf Reski, Professor für Pflanzenbiotechnologie an der Universität Freiburg. Er ist ebenfalls Unterzeichner des offenen Briefs an die WHO und Gastgeber der letzten ISPMF-Konferenz, die sich auf Molecular Farming mit Moosen konzentrierte. Moose können menschliche Proteine durch gentechnische Veränderungen herstellen, oftmals in höherer Qualität und Reinheit als tierische Zellen – in diesen Fällen spricht man von »Biobetters«.

Ein Beispiel ist der humane Faktor H, ein komplexes Glykoprotein aus dem Blutplasma, das die Regulation des angeborenen Immunsystems beeinflusst. Ein Faktor-H-Mangel kann zu übermäßigen Entzündungen und Gewebeschäden führen, weswegen Reskis Team sich intensiv mit der biotechnologischen Produktion dieses Moleküls im Moosbioreaktor beschäftigt. Im Gegensatz zu Tabakpflanzen werden die Moose nicht in Gewächshäusern, sondern in Bioreaktoren vermehrt, die denen aus der Produktion mit tierischen Zellen ähneln. »Somit vereint das Molecular Farming in Moosen das Beste aus zwei Welten – den Pflanzen und den mikrobiellen beziehungsweise tierischen Produktionssystemen«, erklärt Reski.

Mit dieser Technologie als Grundlage hat er bereits 1999 die Firma greenovation Biotech gegründet, die 2020 in eleva umfirmiert wurde. Reski hofft, dass Faktor H auch gegen Long Covid helfen könnte, und eleva plant, möglichst bald mit klinischen Studien zu beginnen. Doch um ein neues Medikament an den Markt zu bringen, muss es zuvor drei klinische Phasen durchlaufen – eine Sicherheitsprüfung, die einige hundert Millionen Euro kostet. Und dafür braucht das Unternehmen private Investoren.

Einen wichtigen Meilenstein erzielte die Firma im Jahr 2015, als sie die amtliche Zulassung für die erste klinische Studie für ein in Moos produziertes menschliches Protein erhielt. Dabei handelte es sich um das Enzym α-Galactosidase zur Behandlung der Stoffwechselstörung Morbus Fabry. Diese klinische Prüfung verlief sehr erfolgreich, wie das Team in einer Veröffentlichung in der Fachzeitschrift »Journal of Inherited Metabolic Disease« berichtete.

Es fehlt noch sehr viel Geld

Reskis Team hat noch etliche weitere viel versprechende Kandidatenproteine in der Pipeline, wie er in einer Veröffentlichung im Fachjournal »Plant Biotechnology« berichtet. Darunter ist zum Beispiel ein synthetisches Protein zur Regulierung des menschlichen Immunsystems, das bei einer Vielzahl von viralen Erkrankungen helfen könnte.

Ob diese Kandidaten jemals als Medikamente zugelassen werden, hängt vor allem an wirtschaftlichen Entscheidungen, die klinischen Phasen zu finanzieren. »Es gibt in Deutschland und Europa eine andere Unternehmens- und Investmentkultur als beispielsweise in den USA«, erklärt der Moosforscher. »Hier zu Lande ist Wagniskapital weit vorsichtiger als in den USA. Aber wir hoffen auch auf die etablierte Industrie, für die eine Produktion in Moosbioreaktoren ähnlich wie die Produktion in CHO-Bioreaktoren ist.«

Frank Thieme von Icon Genetics erläuterte das Problem 2020 während eines öffentlichen Kommunikationsevents zur Pflanzenforschung genauer. Er erklärte, im Pharmabereich moderne Pharmazeutika müssten Unternehmen von der klinischen Entwicklung bis zur Zulassung des Medikaments ein bis drei Milliarden Euro investieren. »Eine neue Medikamentenentwicklung geht natürlich nur mit finanzstarken Partnern, die es erst davon zu überzeugen gilt, dass sowohl das Produkt als auch das System geeignet ist für den Markt und dass es auch eine Nische für den Bereich gibt«, erklärt er.

Ob sich das Potenzial des Molecular Farming prinzipiell entfalten kann, hängt Thieme zufolge von drei Schlüsselkriterien ab: erstens finanzstarke Investoren, zweitens gute Produktkandidaten und drittens »ein geeigneter Prozess mit entsprechenden Produktionskapazitäten«, was bedeutet, dass genügend große Mengen herstellbar sein müssen in einem System, das auch konform mit Gentechnikregularien operiert. Doch Thieme zeigte sich optimistisch.

Nach den jüngsten Erfahrungen mit Medicagos Covifenz scheint es nun, dass bei Investoren nicht nur deren Finanzstärke zählt. Inwieweit sich die Produktion für Medicago rechnet, wird sich noch zeigen. Brian Ward ist überzeugt, dass sich deren pflanzenbasierte Impfstoffe langfristig als kosteneffizient herausstellen werden, denn statt großer Bioreaktoren brauche es schließlich nur gut kontrollierte Gewächshäuser.

Hoffnung für Covifenz

Ward hofft, dass diese erste Zulassung in Kanada zukünftig auch andere Autorisierungen erleichtert, etwa für Influenza-Impfstoffe. Dabei haben sie jahrzehntelange Erfahrung in der Produktion verschiedener Versionen von Impfstoffen, wie er und sein Team in der Fachzeitschrift »The Lancet« 2020 beschreiben. Und vielleicht ließe sich ein Impfstoff gegen die saisonale Grippe sogar mit einem Vakzin gegen die jeweils aktuelle Corona-Variante kombinieren, hofft Ward. Wobei es nicht einmal zwingend einen Nachteil bedeuten muss, wenn der Corona-Impfstoff nicht auf der aktuellen Variante entwickelt wurde.

Denn bei dem Impfstoff erlebte seine Gruppe eine positive Überraschung: Er führt im Körper zur Bildung sehr vieler T-Zellen, und Ward zufolge hängt die Immunität gegen die meisten Viren mehr von diesem zellulären Gedächtnis ab als von der Anzahl der gebildeten Antikörper. Ward glaubt daher, die bemerkenswerte T-Zellproduktion bedeutetet zusammen mit den Antikörpern einen besonderen Schutz gegen weitere Corona-Varianten und für die Langzeitimmunität.

Die Covifenz-Affäre wurde insbesondere im angloamerikanischen Raum medial diskutiert und nun auch in Japan. Viele kritisieren die WHO dafür, dass sich deren Bedenken weder auf die Sicherheit noch auf die Effizienz des Medikaments richten. Der zweitgrößten japanischen Zeitung »The Asahi Shimbun« zufolge hält das japanische Pharmazieunternehmen Mitsubishi Tanabe Pharma Corp (MTPC) mit 79 Prozent den Hauptanteil an Medicago und will die Nutzungslizenz für Japan noch zu diesem Sommer 2022 beantragen, unabhängig von der WHO.

Doch wie auch immer die kommerzielle Vermarktung von Covifenz global ausgehen wird, Ward ist stolz: »Das erste Mal zugelassen werden ist am schwersten, und wir haben gezeigt, dass unser Impfstoff effektiv wirkt. Wir sind einen weiten Weg gegangen, von einem hohen Niveau an Skepsis über die Machbarkeit des Ansatzes bis zur Demonstration, dass es funktionieren kann. Und wir mussten unterwegs alles erfinden. Da hatte jeder von uns viele Hüte auf.«

Die geführten Interviews sowie Erklärfilme, Reportagen und Schulmaterialien zum Thema Molecular Farming haben die Autorinnen zusammengestellt in einer Multimedia-Reportage zusammengestellt.

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