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Sprache: Morgen war gestern

Gestern war es, und morgen wird es sein, denn die Vergangenheit liegt schließlich hinter und die Zukunft natürlich vor einem - ein weltweit gültiges sprachliches Muster, das sich auch in den Gesten eines Sprechers widerspiegelt. Oder etwa doch nicht? Ein Andenvolk beweist das Gegenteil.
Indios in Bolivien
"In drei Tagen ging ich auf den Markt und musste dort wohl meine Kartoffeln zu einem schlechten Preis verkaufen, so wie ich dies im letzten Jahr schon tun werde." Nein, hier hat kein Journalist Probleme mit zeitlichen Abfolgen und den damit verbundenen grammatikalischen Verordnungen. Vielmehr könnte so tatsächlich eine normale Konversation unter Aymara-Indios aus dem Hochland der peruanischen, chilenischen und bolivianischen Anden ablaufen – zumindest die nonverbale.

"Nächstes Jahr" | Der Mann (rechts im Bild) erzählt vom nächsten Jahr: Seine Geste weist allerdings eher nach hinten.
Wie in allen anderen bislang bekannten Sprachen der Erde – vom Englischen über das Chinesische bis hin zu Bantu oder Polynesisch – können auch die Sprecher des Aymarischen dem gesprochenen Wort eine räumliche Lage zuordnen. Doch während ein Deutscher, Inder, Araber oder Inuit die Zukunft vor und die Vergangenheit hinter sich liegen sieht, kehren dies die Aymara in ihrer Logik und Gestik einfach um, wie Rafael Núñez von der Universität von Kalifornien in San Diego nun herausgefunden hat.

Zusammen mit Eve Sweetster von der Universität von Kalifornien in Berkeley interviewte er dreißig Aymara aus Nordchile und diskutierte dabei mit ihnen über vergangene wie zukünftige Ereignisse – je nach sprachlicher Erziehung der Indios rein in Aymarisch, auf Spanisch oder auch in der Verbindung beider Idiome, dem Castellano Andino. Neben den sprachlichen Begriffen für die Zeiten, hofften die beiden Forscher aber noch zusätzlich, den Sprechern gleichzeitig unbewusste Gesten zu entlocken. Denn Gestikulieren geschieht während einer Konversation oft willkürlich und unterstreicht noch das Gesagte.

"Dieses Jahr" | Ereignisse aus diesem Jahr werden dagegen mit dezenten Gesten nach vorne unterstrichen.
Schon ein rein mündlicher Austausch mit einem originären Aymara kann einen Außenstehenden durchaus verwirren: So bedeutet der Ausdruck "nayra mara" übersetzt "letztes Jahr", obwohl "nayra" das Grundwort für Auge, Front sowie Sicht ist – und deshalb eigentlich für vor einem Liegendes verwendet werden müsste. Umgekehrt verhält es sich dagegen mit der Vokabel "ghipa", die Dingen zugrunde liegt, die nach hinten gerichtet sind. Rein zeitlich wird sie aber für Zukünftiges verwendet.

Doch die Konfusion Außenstehender wird unter Umständen noch größer: Vor allem rein Aymarisch sprechende ältere Personen, die nie oder kaum das in der gängigen globalen Grammatik beheimatete Spanisch lernten, winken und deuten über ihre Schultern, wenn sie von der Zukunft reden. Geht es dagegen um die Gegenwart oder die nähere Vergangenheit, weisen ihre Gesten mit angelegten Armen stets nach vorne. Und reichen die Erzählungen noch weiter zurück, holen sie sogar mit den gesamten abgestreckten Armen raumgreifend aus – während es der Rest der Welt umgekehrt handhabt.

Damit steht aber dieser Teil der raumzeitliche Wahrnehmung als fundamentales, in allen menschlichen Gehirnen verankertes biologisches Prinzip in Frage, das sich von unserem Körperaufbau ableitet. Zumindest teilweise könnte es auch ein erlerntes Phänomen sein, so Núñez.

"Ganz lang her" | Und liegt etwas ganz weit zurück in der Vergangenheit, holt auch der Sprecher mit seiner Bewegung weiter aus – und wieder nach vorne.
Warum die Aymara allerdings vom weltweiten Standard abweichen, konnten die beiden Forscher den Indios bis jetzt nicht entlocken. Diese Andenbewohner legen jedoch bei ihren Erzählungen großen Wert darauf, ob jemand dem mitgeteilten Ereignis aktiv beiwohnte oder ob er es nur vom Hörensagen kennt – diese Aussage ist zwingender Bestandteil einer Kommunikation; Sätze ohne diese Mitteilung sind im traditionellen Aymarischen nicht möglich.

Da aber zukünftige Ereignisse naturgemäß noch ungewiss sind, rücken sie aus dem Blickfeld und folglich räumlich nach hinten. Das könnte gleichfalls erklären, warum vor allem ältere Aymara sich häufig weigern, über die Zukunft zu sprechen: Es gibt ihrer Meinung nach einfach nichts Handfestes, was sich vorzutragen lohnte – ganz im Gegensatz zur erlebten Vergangenheit.

Die Tage dieser besonderen sprachlichen Sichtweise könnten allerdings bald gezählt sein: Zumindest in Nordchile globalisieren sich die jungen, gleichfalls fließend Spanisch sprechenden Aymara und setzen ihre datierenden Gesten dem globalen Zeitgeist entsprechend ein. Auch in ihrer indianischen Muttersprache kehren sie nun der Vergangenheit den Rücken und blicken nach vorne in die Zukunft.

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