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News: Müllprobleme im Garten Eden

Milch und Honig flossen hier freilich nie. Geheimnisvoll und sagenumwoben ist es jedoch immer noch: Mesopotamien, das Land zwischen Euphrat und Tigris. 'Garten Eden' oder 'Paradies', so nennt das Alte Testament diesen Landstrich. Das Zweistromland ist die älteste bekannte Hochkultur. Hier entstanden bereits im dritten Jahrtausend v. Chr. Städte, die mehr Menschen beheimateten als das antike Athen. Aber warum fingen die Menschen damals plötzlich an, Städte zu bauen? Peter Pfälzner, Tübinger Professor für vorderasiatische Archäologie, der sich seit Jahren mit dieser Frage beschäftigt, hat eine mögliche Antwort parat: 'Wahrscheinlich hat da jemand nachgeholfen, beispielsweise eine politische Herrscherklasse.' Ziel seiner Forschungen im Zweistromland ist es, diese Vermutung zu beweisen.
Von 1995 bis 1997 nahm er mit seinen sonnenhungrigen Mitstreitern den Ruinenhügel Tall Chuera in Nordsyrien unter die Lupe. Er birgt die Überreste einer großen nordmesopotamischen Stadtgründung aus dem dritten Jahrtausend vor Christus. Die Wissenschaftler von der Universität Tübingen konzentrierten sich in Tall Chuera auf die Gestaltung der Wohnviertel und der Stadtmitte. Bei ihren wochenlangen Grabungen entdeckten sie Erstaunliches: "Die drei Wohnhäuser, die wir freilegten, wiesen alle eine einheitliche Grundstücksbreite von 7,5 Metern auf", berichtet Pfälzner. Dies war ein erster deutlicher Hinweis, daß hier eine Art Plansiedlung bestand, in der die Grundstücke genau abgemessen waren. "Das weckte bei uns den Verdacht, dass die Bevölkerung hier bewusst angesiedelt worden war", erklärt der Tübinger Archäologe. Die Motivation für diese Verstädterungspolitik bleibt gleichwohl unklar. Vielleicht ging es um eine bessere politische Kontrolle der Bevölkerung, vielleicht aber auch um die wirtschaftliche Stärkung des städtischen Gemeinwesens.

Doch damit nicht genug. Genauere Untersuchungen ergaben, dass auch diese sogenannten Parzellenhäuser vollkommen gleich aufgebaut waren, angefangen vom Eingangskorridor über einen Innenhof bis hin zu den zwei Wohnräumen mit einer Herdstelle im vorderen Raum. Selbst die einzelnen Räume entsprachen Einheitsmaßen. Die Archäologen durchforsteten die Schichten unter den Parzellenhäusern und stießen auf die Überreste einer noch früheren Bebauung, auf die dann die Parzellenhäuser gesetzt wurden. "Ungenutztes Bauland wurde also wieder recycelt", erklärt Pfälzner, "und das ist nicht verwunderlich, denn Tall Chuera hatte zu dieser Zeit fast 50 000 Einwohner." Diese frühe Verstädterungspolitik war offenbar sehr erfolgreich, denn es gelang, die Mehrzahl der Menschen Nordmesopotamiens in Städten anzusiedeln.

Rätselhaft ist auch die Anlage der Stadtmitte von Tall Chuera. In der Mitte der Stadtanlage befand sich in einer Senke ein freier Platz, der durch eine Umfriedung von der peripheren Wohnstadt getrennt war. An dieser Mauer endeten alle Gassen blind. Was war das aber für eine Stadtmitte, die sich nicht über Straßen von den Wohnvierteln aus erreichen ließ? Um dies zu klären, durchwühlten die Archäologen mit einem Straßenbagger den Untergrund und stießen auf Überraschendes: "In der Stadtmitte befand sich eine riesige Platzanlage. Sie war frei von jeglicher Bebauung und füllte den gesamten Siedlungsmittelpunkt aus", berichtet Pfälzner. Dieser Platz verband den Tempel und den Fürstenpalast. Wahrscheinlich war er der Ort für die wichtigsten sozialen Aktivitäten eines städtischen Gemeinwesens beispielsweise für Feste, Versammlungen, Märkte oder Zeremonien.

"Um so erstaunlicher ist es, daß der Platz urplötzlich im Müll versank", so der Tübinger Professor. Riesige Ansammlungen von Asche in einer Gesamthöhe von 12 Metern konnten die Archäologen freilegen. Eine genaue Analyse der Schicht ergab, daß es sich um Asche aus Herdstellen, Koch- oder Backöfen handelte. Davon zeugten Tierknochen und zerbrochenes Geschirr. Wahrscheinlich handelt es sich um den Abfall aus den Siedlungsvierteln der Stadt. "Das ist doch unglaublich: Die Stadtbewohner widmen ihr Zentrum in einen städtischen Müllplatz um", sagt Pfälzner, "das mußte ich erst einmal verdauen als Erforscher von Hochkulturen!"

Diese Entwicklung setzte nicht erst am Ende einer Verfallsperiode ein, sondern ausgerechnet in einer Phase, in der die Stadt ihre größte ökonomische und politische Entfaltung besaß. "Tall Chuera ist das früheste Beispiel einer Stadt, die in der Blüte ihrer Entwicklung an ihrem eigenen Müll erstickt", sagt Pfälzner. Die Bevölkerung lebte hier auf engstem Raum, und mit steigender Bevölkerungszahl entstand auch mehr Abfall, der entsorgt werden mußte. Über Jahrhunderte haben die Bewohner den Müll vor den Toren der Stadt deponiert. Das war freilich etwas mühselig. "Dennoch stoßen wir hier an unsere Grenzen, denn wir wissen nicht, warum sich in Tall Chuera plötzlich der Schlendrian einstellte", bekennt der Tübinger Archäologe.

War Tall Chuera ein Sonderfall, was Stadtplanung und Müllprobleme angeht? Oder erging es anderen, etwa den hurritischen Städten in Nordmesopotamien ähnlich? Klärung erhoffen sich die Tübinger Wissenschaftler von der diesjährigen Ausgrabungskampagne auf dem Tall Mozan. Dieser Ruinenhügel birgt die Überreste der legendären Stadt Urkesch. Sie gilt als ältester Königssitz und als religiöses Zentrum der Hurriter. Diese hatten, aus den nördlichen Bergländern des Kaukasus und Armeniens kommend, in Nordmesopotamien ein Königreich errichtet. In die hurritische Herrschaftszeit fällt die erste große Blüte einer urbanen Gesellschaft. "Wir wollen nun in Urkesch nach einer ähnlichen Form der Stadtplanung suchen: Gab es auch in der Hauptstadt der Hurriter eine planmäßige Ansiedlung der Stadtbevölkerung, war auch in Urkesch die Stadtmitte ein umfriedeter freier Platz und erlitt er ein ähnliches Schicksal wie die Stadtmitte von Tall Chuera?

In der Tat gibt es viele Indizien, daß sich Urkesch und Tall Chuera in vieler Hinsicht ähnlich waren. So konnten die Tübinger Archäologen im Zentrum des Ruinenhügels Tall Mozan ebenfalls eine Senke identifizieren, die einem unbebauten Platz entsprochen haben könnte. Vielleicht haben die Bewohner der riesigen Stadt Urkesch das Entsorgungsproblem auf ähnliche Weise gelöst wie in Tall Chuera. Und vielleicht ist es überhaupt kennzeichnend für eine urbane Gesellschaft, dass das Verantwortungsbewusstsein der Menschen mit den produzierten Abfällen nicht immer Schritt halten kann, noch nicht einmal in einer Hochkultur. Peter Pfälzner: "Heute, 5000 Jahre später, entsorgt unsere Hochkultur tonnenweise Plastikmüll in der syrischen Wüste, auch das stört niemanden."

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