Mythos vom furchtlosen Wolf: Wölfe fürchten den Menschen trotz ihres Schutzstatus

Wölfe fürchten den Menschen selbst dort, wo sie gesetzlich geschützt sind. Zu dem Ergebnis kommt eine Studie unter der Leitung von Liana Zanette, Biologin an der Western University in Kanada, und dem Wolfsexperten Dries Kuijper von der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Die Fachleute konnten experimentell belegen, dass Wölfe den Menschen als »Super-Räuber« wahrnehmen und entsprechend meiden.
Für die Untersuchung installierte das Team automatische Kamera-Lautsprecher-Systeme im Tuchola-Wald in Polen. Wenn sich ein Tier diesen Geräten näherte, spielten sie unterschiedliche Geräusche ab – menschliche Stimmen, Hundegebell oder Vogelrufe – und filmten die Reaktionen (siehe Video). Das Ergebnis: Wölfe flohen in rund 80 Prozent der Fälle, wenn sie Sprachaufnahmen von Menschen hörten, und damit mehr als doppelt so häufig, als wenn Vogelgezwitscher ertönte. Sie verschwanden auch doppelt so schnell: im Schnitt nach fünf Sekunden; bei Vogellauten nach rund zehn. Hundegebell verjagte sie in etwas mehr als 60 Prozent der Fälle. Rehe und Wildschweine zeigten insgesamt ein ähnliches Verhalten.
Zudem bestätigt die Studie die Annahme, dass Wölfe aus Angst vor dem Menschen ihre Aktivität in die Nacht verlagern. Einer europaweiten Untersuchung zufolge lässt sich diese Verhaltensweise überall dort beobachten, wo Menschen leben.
Die Studienautoren sind davon überzeugt, dass die Raubtiere nicht ohne Grund so ängstlich sind: Menschen töten Wölfe in der EU offenbar im Schnitt siebenmal häufiger – sowohl legal als auch illegal –, als diese auf natürliche Weise sterben, obwohl sie dort unter Schutz stehen. Denn der Schutzstatus schließt die Jagd auf sie nicht völlig aus. Die Berner Konvention von 1979 erlaubt den Abschuss in Ausnahmefällen, vor allem dann, wenn es zu einer Häufung von Angriffen auf Nutztiere in bestimmten Gebieten kommt. 2025 stimmte das EU-Parlament einer Änderung des Schutzstatus von »streng geschützt« auf »geschützt« zu.
Die verbreitete Vermutung, rechtlicher Schutz würde die Tiere furchtlos machen, sei wissenschaftlich nicht haltbar, betont Zanette in einer Pressemitteilung ihres Instituts. Ein Wolf, der Menschen nicht meidet, lebe grundsätzlich gefährlich.
Wölfe, die sich in der Nähe menschlicher Siedlungen aufhalten, würden dies nicht wegen mangelnder Angst tun, sondern aufgrund von Hunger. Sie versprächen sich dort Zugang zu leicht verfügbarer Nahrung wie Abfällen, Tierfutter oder Nutztieren. Zanette und ihre Kolleginnen und Kollegen plädieren daher für mehr Aufklärung darüber, wie sich die Raubtiere vom Menschen fernhalten ließen. Etwa durch eine sicherere Lagerung von Lebensmitteln und Müll und einen besseren Schutz von Nutztieren.
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