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Nach Amputation : Das Gehirn reorganisiert sich nicht wie gedacht

Eine neue Untersuchung zieht Lehrbuchwissen aus der Neurowissenschaft in Zweifel: Entgegen der Erwartung regt der Verlust einer Gliedmaße womöglich keine Umbauarbeiten im Gehirn an.
Eine künstlerische Darstellung des neuronalen Netzwerks des Gehirns. Die Abbildung zeigt ein komplexes Geflecht aus leuchtenden, farbigen Linien, die sich in Blau-, Rot- und Orangetönen verzweigen und vor schwarzem Hintergrund vernetzen.
Das Gehirn ist kein starres Konstrukt, sondern extrem wandlungsfähig. Wie sehr es sich nach dem Verlust eines Körperteils verändert, ist aber unklar.

Verlieren wir eine Gliedmaße, hat das auch Folgen fürs Gehirn: Jene Bereiche, die vorher für die Repräsentation des betreffenden Körperteils und die Verarbeitung seiner Sinneseindrücke zuständig waren, organisieren sich um. Davon gingen Hirnforschende jedenfalls lange aus. Nun deutet eine Studie im Fachmagazin »Nature Neuroscience« allerdings darauf hin, dass diese Annahme falsch sein könnte. So beobachtete ein Team um den Neurowissenschaftler Hunter Schone von der University of Pittsburgh in Pennsylvania bei drei Patienten, dass die innere Karte, die das Gehirn vom Körper hat, auch Jahre nach der Amputation eines Körperteils noch erstaunlich unverändert zu sein scheint.

Diese »Karte« kann man sich dabei recht bildlich vorstellen: Im primären somatosensorischen Kortex, jenem Teil der Großhirnrinde, der maßgeblich an der haptischen Wahrnehmung beteiligt ist, werden die einzelnen Körperteile durch feste Zonen abgebildet. Bereiche, die am Körper nebeneinanderliegen, grenzen auch im somatosensorischen Kortex aneinander.

Um zu überprüfen, ob nach dem Verlust einer Gliedmaße tatsächlich die Nervenzellen der benachbarten Bereiche den Platz des verlorenen Körperteils im somatosensorischen Kortex übernehmen, wie Studien zuletzt nahelegten, begleitete die Gruppe um Schone engmaschig drei Patienten, die einen Arm amputiert bekommen sollten. Die Fachleute ließen die Probanden vor der Amputation im Hirnscanner einige Tests absolvieren, um mittels funktioneller Magnetresonanztomografie zu kartieren, wo die Sinnesreize der Hand – und anderer nahegelegener Körperbereiche – jeweils im Gehirn verarbeitet wurden. Dazu sollten die Teilnehmer etwa mit den Fingern tippen oder ihr Gesicht bewegen. Nach der Amputation wiederholten sie die Tests mehrfach und sollten sich jetzt zum Bespiel vorstellen, mit ihren »Phantomfingern« zu tippen.

Dabei entdeckten die Forschenden, dass die Repräsentation der einzelnen Körperbereiche im Gehirn selbst nach fünf Jahren relativ konstant blieb. Das widerspräche den grundlegenden Erkenntnissen auf diesem Gebiet, erklärte Studienautorin Tamar Makin von der University of Cambridge gegenüber »Nature«. Der Neuroingenieur Giacomo Valle von der Technischen Hochschule Chalmers in Göteborg, Schweden, der nicht an der Arbeit beteiligt war, lobte gegenüber dem Magazin die Methodik der Studie.

Sollten sich die Erkenntnisse in weiteren Untersuchungen bestätigen, könnten sie dabei helfen, bessere Prothesen zu entwickeln. Und auch für Menschen, die nach einer Amputation unter Phantomschmerzen oder -wahrnehmungen an dem verlorenen Körperteil leiden, sind die Ergebnisse womöglich relevant. Bislang gingen Experten davon aus, dass diese Phänomene auf die Umstrukturierung im Gehirn zurückzuführen sind, und richteten teilweise Therapien daran aus.

  • Quellen
Schone, H. R. et al., Nature Neuroscience 10.1038/s41593–025–02037–7, 2025

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