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Teilchenphysik: Nahende Datenflut am LHC

Am LHC hat die aktuelle Betriebsperiode begonnen. Nun muss sich herausstellen, ob und wie sich die Masse an Messdaten verarbeiten lässt, ohne dass eventuelle Spuren des Higgs-Bosons darin untergehen.
Das CMS-Experiment am CERN

Der weltweit größte Teilchenbeschleuniger läuft auf Hochtouren und liefert den beteiligten Physikern unvorstellbare Datenmengen: Im Innern der Maschine finden jede Sekunde Hunderte von Millionen Teilchenkollisionen statt. Doch allmählich überlagern sich die Reaktionen im Detektor und lassen so einen dichten Nebel entstehen, der – paradoxerweise – droht, das wohl prominenteste Partikel bei der groß angelegten Suche zu verbergen: das Higgs-Boson.

Dieses Problem, das man als "Pile-up" bezeichnet, könnte für die Wissenschaftler des Large Hadron Collider (LHC) am Forschungszentrum CERN bei Genf in diesem Jahr eine der größten Herausforderungen darstellen. Gigantische Rechenleistung, ausgeklügelte Software und technische Tricks helfen den Forschern bisher, das Problem in den Griff zu bekommen. Doch unter Umständen müssen sie die Kollisionsrate wieder reduzieren, um das lang gesuchte Higgs – Repräsentant eines Felds, das anderen Teilchen ihre Masse verleihen soll – aufzuspüren.

Falls es existiert, wird das Higgs flüchtig im Innern der Maschine auftauchen, bevor es dann in leichtere Teilchen zerfällt. Im vergangenen Jahr stieß man an den beiden größten Detektoren am LHC auf Hinweise für ein Higgs mit einer Masse von etwa 125 Gigaelektronvolt (Teilchenphysiker geben statt der Masse die dazu äquivalente Energie an). In diesem Jahr wollen die Forscher mehr Daten sammeln und so herausfinden, ob das Signal bis zur Gewissheit anwächst oder wieder im Datenrauschen verschwindet.

Im vergangenen Monat startete die aktuelle Betriebsperiode. Seither schnürt der LHC Billionen von Protonen in immer kleinere Bündel und lässt diese Teilchenpakete dann mehrere zehn Millionen Mal pro Sekunde zusammenkrachen. Die Menge der aufgenommenen Daten wird in inversen Femtobarn (fb-1) gemessen, eine Einheit, die ungefähr hundert Billionen Kollisionen entspricht. Allein im vergangenen Monat lieferte der LHC 1 fb-1 an Kollisionen. Bis Ende des Jahres soll der Beschleuniger mindestens 15 fb-1 erreichen.

Um dieses Ziel zu verwirklichen, treiben die Forscher den LHC auf zwei Weisen voran: Zum einen beschleunigen sie die Teilchen auf immer höhere Energien, und zum anderen erhöhen sie die Anzahl der Kollisionen. Durch höhere Energien lassen sich zwar schwerere Teilchen erzeugen, doch letztlich ist die Zahl der Kollisionen entscheidend: Nur wenn die Physiker über genügend Daten verfügen, können sie eine Entdeckung verkünden. In den kommenden Wochen werden die Wissenschaftler noch mehr Protonen in die Maschine geben und die Partikel so dicht wie möglich auf die Kollisionspunkte inmitten der beiden größten Detektoren fokussieren. "Wir haben schon deutlich mehr erreicht, als wir gedacht hatten", sagt Mike Lamont vom CERN, der dort für den Beschleunigerbetrieb zuständig ist.

Treffen zwei dicht gepackte Protonenbündel aufeinander, berichtet Lamont, treten im Schnitt 27 Teilchenkollisionen auf. Binnen weniger Wochen wird diese Zahl voraussichtlich auf rund 35 ansteigen und schließlich einen Spitzenwert von etwa 40 erreichen. Die beiden wichtigsten Detektoren am LHC sind allerdings nur dafür ausgelegt, rund zwei Dutzend Kollisionen auf einmal zu verarbeiten. Bis jetzt meistern sie die Lage jedoch.

Jeder Detektor setzt sich aus mehreren Lagen zusammen – bestehend aus jeweils kleineren Detektoren, die die Spuren der aus dem Zentrum entweichenden Teilchentrümmer aufzeichnen. Tritt eine Kollision auf, entscheiden Computer darüber, ob die Daten interessant sind. Und erst wenn dies der Fall ist, rekonstruieren sie aus den Spuren die Teilchenkollision. Ereignen sich gleichzeitig Dutzende von Kollisionen, müssen die Computer die resultierenden Teilchenspuren zunächst entwirren.

Geisterteilchen ausmerzen

Im vergangenen Jahr bildeten Forscher am ATLAS-Detektor eine Arbeitsgruppe, um das Pile-up-Problem anzugehen. Damit der Detektor die zusätzlichen Kollisionen bewältigen kann, schrieben sie Computerprogramme um. Die Gruppe habe hart gearbeitet, erzählt Teammitglied Andreas Salzburger, um so genannte "Geisterteilchen" auszumerzen. Diese Illusion eines Teilchens – das nicht wirklich existiert – entsteht, wenn die Spuren verschiedener Partikel in einer bestimmten Weise zueinander ausgerichtet sind. Indem man diese Geister so früh wie möglich aussortiert, erläutert der Physiker, spart man Rechenleistung ein und kann diese dann für brauchbare Daten einsetzen.

Das CMS-Experiment am CERN | Das CMS-Experiment ist ein Teilchendetektor des Large Hadron Collider am CERN. In seinem Herzen stoßen Protonen mit einigen Teraelektronvolt Kollisionsenergie zusammen. Dabei entstehen neue Teilchen, die in alle Richtungen davonfliegen und vom CMS-Detektor nachgewiesen werden.

Am Compact Muon Solenoid (CMS), dem Konkurrenten des ATLAS-Detektors, werden die Daten umgehend mittels eigens dafür entwickelter Algorithmen gesichtet und die Teilchenspuren dann nach ihrer Komplexität analysiert. "Haben Sie jemals Mikado gespielt?", fragt Joe Incandela, Sprecher des CMS-Experiments. "Zuerst greifen Sie nach den einfachsten Fällen – und das erleichtert es, mit den restlichen umzugehen." Das Team möchte zudem nutzlose Signale in den Daten loswerden, wie die der so genannten Looper. Diese Teilchen besitzen niedrige Energien und bewegen sich entlang Spiralbahnen um die Magnetfeldlinien im Detektor. Dabei erzeugen sie Daten, die für die Higgs-Jagd irrelevant sind. Wahrscheinlich sind solche Kniffe aber weniger wirksam als eine wachsende Anzahl von Teilchenkollisionen.

In den Randbereichen der Maschine sind die Detektorsegmente größer und besitzen eine gröbere Auflösung. Möglicherweise lassen sich aus diesem Grund einige der Teilchenspuren nicht entflechten. Und das macht es für den Detektor wiederum schwieriger, eine bestimmte Signatur des Higgs aufzuspüren: den Zerfall in ein Paar von W-Bosonen und eine Kaskade von sekundären Teilchen, die in den äußeren Segmenten nachgewiesen werden müssen.

Für den Moment sollten die Berge an zusätzlichen Daten ausgleichen, was durch den Pile-up-Effekt verloren geht. Für den wahrscheinlichsten Zerfallskanal des Higgs – bei dem zwei Gammastrahlen erzeugt werden – haben sich die Forscher vorgenommen, weniger als 15 Prozent der Ereignisse zu verpassen. Und wenn ATLAS und CMS die zusätzlichen Teilchen nicht verarbeiten können, sagt Lamont, sind die Beschleunigerphysiker durchaus bereit, die Maschine wieder zurückzufahren. "Aber wenn sie es vertragen", ergänzt er, "werden wir es ihnen geben."

Dieser Artikel erschien unter dem Titel "LHC prepares for data pile-up" in Nature 485, S. 156–157, 2012.

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