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Misogynie: »Der Antifeminismus soll die eigene weiße Rasse erhalten«

Millionen Frauen weltweit werden vergewaltigt oder Opfer einer schweren Körperverletzung. Was Männer zur Gewalt treibt, erklärt Gewaltforscher Nils Böckler im Interview. Weil es häufig Anzeichen dafür gibt, ob jemand gewalttätig wird, mahnt er: Wer etwas beobachtet, solle Haltung zeigen.
Riskante Beziehung

»One Billion Rising« ist eine weltweite Kampagne für ein Ende der Gewalt gegen Frauen und Mädchen und für Gleichstellung. Anlässlich des Aktionstags am 14. Februar 2020 sprach »Spektrum.de« mit dem Pädagogen Nils Böckler über Incels – Personen, die ungewollt keinen Sex haben und der Ideologie einer hegemonialen Männlichkeit anhängen. Weiter spricht er über die Radikalisierung und Inszenierungsstrategien von Gewalttätern und darüber, warum es so schwierig ist vorherzusagen, wer zuschlagen wird.

»Spektrum.de«: Herr Böckler, Sie erforschen Radikalisierungstendenzen im Internet. Worauf liegt der Fokus Ihrer Arbeit?

Nils Böckler: Meine Kollegen vom Institut Psychologie und Bedrohungsmanagement und ich untersuchen, wie man verschiedene Arten von Radikalisierung im Internet identifizieren und ihnen entgegenwirken kann. Dabei geht es neben Islamismus und Linksextremismus auch um rechtsradikale Strömungen wie »Identitäre« oder Antifeministen. Aus unseren Beobachtungen versuchen wir bessere Strategien für die Früherkennung und Prävention abzuleiten.

Auf die Themen Antifeminismus und Frauenhass kommen wir später noch einmal genauer zu sprechen. Doch zunächst: Wie erforscht man solche Phänomene online? Sie spielen sich sicher oft in geschlossenen Zirkeln und Foren ab.

Teils ja, dann greifen wir etwa auf biografische Dokumente, Gerichtsakten und Interviews mit Aussteigern zurück. Allerdings ist der Hass inzwischen auch in für jedermann offenen sozialen Medien sehr präsent. Da muss man nicht lange suchen. Wenn man über einige Zeit systematisch Daten erhebt, lassen sich etwa an Posts, Likes, Vernetzungsstrategien und Kommentaren Radikalisierungstrends ablesen.

Nils Böckler | hat Pädagogik und Psychologie studiert und arbeitet als Fallanalytiker, Berater und Trainer am Institut für Psychologie und Bedrohungsmanagement in Darmstadt. Seine Forschungstätigkeiten fokussieren auf Radikalisierungsprozesse im Vorfeld schwerster Gewalttaten.

Woran machen Sie die Radikalisierung von Menschen fest?

Ein erstes Indiz kann die Identifizierung mit früheren Amoktätern sein. Es gibt eine Reihe von »Vorbildern«, denen im Netz zum Teil ehrfurchtsvoll gehuldigt wird, etwa Elliot Rodger. Der damals 22-Jährige  erschoss 2014 in Kalifornien sechs Menschen, bevor er sich selbst tötete. Sein Hauptmotiv war Hass auf Frauen. Im Jahr 2018 raste in Toronto ein Mann mit dem Auto in eine Menschenmenge. Er erklärte sich in seinen schriftlichen Hinterlassenschaften als Incel (von Englisch: involuntary celibate, Anm. d. Red.) und glorifizierte Rodger als Märtyrer der Bewegung. In dieser Gruppierung gilt der Feminismus vielen als Ursache dafür, dass nur noch so genannte »Alphas«, also gut aussehende, potente Männer, eine Frau abbekämen; alle anderen, die »Betas«, gingen leer aus. Innerhalb der Incel-Community sind Verschwörungsideen und Rachefantasien verbreitet – weitere Elemente von radikalem Gedankengut.

»Unter der Oberfläche gärt zumindest in manchen meist frustrierten Männern eine pauschale Ablehnung von Frauen«
Nils Böckler, Gewaltforscher

Gibt es eine Verbindung zwischen solchen extremen Formen und alltäglichen Ressentiments? Haben sie einen gemeinsamen Nährboden?

Dafür spricht einiges. Die Inszenierungsstrategien der Gewalttäter sind oftmals an kulturell vermittelte Männlichkeitsbilder gebunden. Männlichkeit ist beispielsweise in der Unterhaltungsindustrie noch immer vornehmlich mit Stärke, Dominanz, Durchsetzungsvermögen und teilweise erheblichem Sexismus verknüpft. Gerade in den Incel-Foren kommen immer wieder Menschen zusammen, die glauben, an diesen gesellschaftlichen Ansprüchen gescheitert zu sein – manche von ihnen machen das weibliche Geschlecht dafür verantwortlich. Die Tatsache, dass nach so einer Tat Sympathiebekundungen und Zustimmung in diesen Foren ertönt, weist hier auf ein hohes Maß an Misogynie hin. Dazu gehören Aussagen wie: Wird aber auch Zeit, dass es einer »denen« mal gezeigt hat. Amokläufe sind sicherlich die Spitze des Eisbergs, doch unter der Oberfläche gärt zumindest in manchen meist frustrierten Männern eine pauschale Ablehnung von Frauen oder Gleichberechtigung.

Sie suchen Hilfe oder sorgen sich um ein Familienmitglied oder eine Freundin? Es ist wichtig, dass Angehörige und Betroffene jederzeit einen Ansprechpartner finden können. Unter der Nummer 08000 116016 und per Online-Beratung auf www.hilfetelefon.de berät das Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen« – rund um die Uhr, anonym und kostenfrei.

Welche psychologischen Mechanismen sind dafür verantwortlich?

Wir beobachten solche Entwicklungen häufig im Zusammenhang mit erlittenen Kränkungen. Oft schon im Elternhaus oder später im privaten Umfeld oder im Beruf. Menschen, die auf Grund sozialer oder psychischer Probleme keine vertrauensvolle, intime Beziehung zu anderen aufbauen, suchen dafür mitunter Schuldige. Sie wollen die Verantwortung für persönliche Niederlagen abwälzen. Feindbilder entstehen, wenn die Betreffenden von einer konkreten Zurückweisung auf abstrakte Theorien wie die vermeintliche »Verschwörung der Feministinnen« schließen. Wobei gerade Amoktäter oft schon länger »Todeslisten« oder Ähnliches anlegen von Menschen, an denen sie Rache üben wollen.

Welche Rolle spielen dabei Macht- und Dominanzstreben?

Eine große. Die Betreffenden koppeln sich meist zunehmend von der Realität ab und bauen eine Art Fantasiewelt auf, in der sie selbst als edle Kämpfer für das Gute erscheinen. So ein narzisstisches Größenselbst ist eine häufige Zutat von radikalen Gedanken und Gewaltbereitschaft. Denn letztlich haben fast alle Menschen eine natürliche Hemmung, anderen Leid anzutun; um diese zu überwinden, bedarf es eines pauschalen, unpersönlichen Feindbilds und der eigenen Selbstüberhöhung. Dann heißt es zum Beispiel, man handle lediglich aus Notwehr oder für die »Rettung des Mannes«.

»Hier wird der Antifeminismus zu einem Instrument für den Erhalt der eigenen weißen Rasse«
Nils Böckler

Wie hängt das mit anderen Ideologien etwa politischer Art zusammen?

Die Übergänge sind hier fließend. Das Problem mit dem Feminismus für manche radikalisierte Incels ist ja – und da haben wir Überschneidungen zum Rechtsextremismus –, dass »wir aussterben«, weil Frauen keine Kinder mehr bekommen wollen und nur noch der Karriere hinterherhetzen. Hier wird der Antifeminismus zu einem Instrument für den Erhalt der eigenen weißen Rasse beziehungsweise, wie es heute in neurechten Kreisen ausgedrückt wird, zum Erhalt der christlich-abendländischen Kultur. Darin passen sich Irrlehren wie die von der »Umvolkung« der Deutschen sehr gut ein.

Nun sagen manche: Das sei der Irrglaube von ein paar Fehlgeleiteten, die Zahl der Gewalttaten gegen Frauen gehe zurück. Laut Kriminalstatistik wurden in Deutschland 2016 noch 157 Frauen getötet – oft vom eigenen Partner oder Ex. 2017 waren es 144 und im Jahr 2018 waren es 122.

Ich würde das nicht relativieren wollen, auch 2018 ist die Zahl nach wie vor hoch. Daneben ändern sich in Teilen die Legitimationsformen. Einigen dient heute die Emanzipationsbewegung als Vorwand, um »sich das nicht mehr gefallen zu lassen«. Die meisten Misshandlungen geschehen tatsächlich im privaten Umfeld, in der Familie oder in bestehenden Beziehungen. Aber hier spielt ebenfalls eine bestimmte Vorstellung von Männlichkeit eine Rolle. Sexualisierte Gewalt durch den Ehemann oder Ex speist sich oft aus Rollenzuweisungen. Der Mann habe das absolute Sagen, die Frau müsse sich unterordnen. Das mündet teils in Schuldzuweisungen nach dem Muster: Die Frau habe sich die Gewalt selbst zuzuschreiben, weil sie nicht »mitspielt«.

Auffällig an den so genannten Incels sind ihre oft extrem hohen Ansprüche an die eigene Rolle als Mann, der immer dominant, immer zu Sex bereit sein müsse. Scheitern die Betreffenden an ihren eigenen verqueren Vorstellungen?

Ja, wobei diese Ansprüche eben oft von narzisstischer Überhöhung und einer gleichzeitig extrem hohen Kränkbarkeit geprägt sind. Damit sie entstehen, müssen in der Regel mehrere Dinge zusammenkommen: frustrierende Erlebnisse bis hin zu eigener Gewalterfahrung, mangelnde Bewältigungsstrategien in sozialen Situationen – und manchmal dann auch ideologisch gefärbtes Gedankengut.

»In rund acht von zehn Fällen von schwerer, zielgerichteter Gewalt gab es zuvor mindestens Anzeichen erhöhter Gewaltbereitschaft«
Nils Böckler

Sind Frauenhasser mit unserer liberalen Gesellschaft überfordert, in der jede und jeder möglichst frei über das eigene Leben bestimmen soll? Es scheint, als suchten die Betreffenden Zuflucht in radikalen Rollenbildern.

Das Moment der »ideellen Heimat« spielt sicher mit hinein. Nicht umsonst tauschen sich radikale Frauenhasser so intensiv über ihre Ideen und Motive aus. Das Internet fungiert hier leider auch als Katalysator: Die Einzelnen bestärken sich gegenseitig in ihrer Sicht, und die Gemeinschaft erzeugt einen gewissen Druck, sich mit besonders drastischen Worten oder Taten Ansehen zu verschaffen.

Woran erkannt man, ob jemand tatsächlich gewaltbereit ist oder nur groß herumtönt?

In rund acht von zehn Fällen von schwerer, zielgerichteter Gewalt gab es zuvor mindestens Anzeichen erhöhter Gewaltbereitschaft. Die Betreffenden schlagen meist nicht aus heiterem Himmel zu, sondern zeigen bereits Muster gewalttätigen Handelns, kündigen dies an oder raunen etwas von Plänen wie »Ihr werdet schon sehen …«. Teils dient ihnen die Angst, die sie damit vermeintlich erzeugen, als Befriedigung, teils steckt mehr dahinter. Die Prognose von solchen Gewalttaten ist kaum möglich, da es keine 100-prozentig sicheren Risikofaktoren gibt, an denen man ablesen könnte, wer einmal losschlagen wird und wer nicht. Ob jemand ohne Intervention zum Amokläufer geworden wäre, ist am Ende auch gar nicht so wichtig. Wichtig ist es, problematisches Verhalten im Hier und Jetzt frühzeitig zu erkennen und darauf zu reagieren, bevor sich die Radikalisierungsspirale zuspitzt. Dafür müssen Verantwortliche bei gegenwärtig gezeigtem aggressivem und gewalttätigem Verhalten einer Person verhältnismäßig intervenieren, bevor Schlimmeres passiert. Ein solches Bedrohungsmanagement erfordert in vielen Fällen die Zusammenarbeit von Netzwerkpartnern aus Sicherheitsbehörden, Frauenhäusern, Jugendämtern, Schulen und anderen gesellschaftlichen Institutionen.

Oft heißt es, viele Männer seien heute verunsichert, weil sie nicht mehr wüssten, wie man sich Frauen gegenüber richtig verhält. Die Tür aufzuhalten oder in den Mantel zu helfen würde schon als versteckter Sexismus gedeutet. Sind Phänomene wie die Incels eine extreme Folge solcher Desorientierung?

Nun, wo alte Rollenklischees aufbrechen, ist eine gewisse Verunsicherung ganz normal, sogar hilfreich. Wer dies pauschalisiert und als Argument verwendet nach dem Motto: Seht ihr, wie weit es schon gekommen ist! Wir können es denen ja doch nie recht machen … –, der tappt meines Erachtens in eine Falle. Radikale Ideologien sind immer bestrebt, Brücken in die Mitte der Gesellschaft zu bauen. Insofern sind verbreitete Stereotype beziehungsweise die Klage darüber, man könne als Mann gar nichts mehr sagen, eine beliebte Masche, um Zustimmung oder Verständnis für gewalttätig reaktionäres Verhalten zu erzeugen.

Was sagen Sie denjenigen, die finden, man sollte nicht jeden »dummen Jungenspruch« auf die Goldwaage legen?

Da ist natürlich schon etwas dran. Manche Jugendliche sehen sich vielleicht einmal ein Youtube-Video eines Incels oder eines anderen Radikalen an, weil sie und ihre Freunde das »krass« finden. Man muss hier auf wiederkehrende Muster achten, also ob jemand so etwas regelmäßig »teilt« und kommentiert. Auch auf die Art der Rechtfertigung und des Lobes etwa für Gewalttäter kommt es an. Wir nennen dies Warnverhalten, für das wir in unseren Weiterbildungen auch Präventionsakteure in Sicherheitsbehörden, Unternehmen und Bildungsinstitutionen sensibilisieren. Es scheint mir aber trotzdem wichtig, auch bei unbedachten Entgleisungen Haltung zu zeigen und Grenzen zu ziehen. Wer Hass und Hetze toleriert oder auch nur duldet, sendet damit das falsche Signal.

Die Fragen stellte »Gehirn&Geist«-Redakteur Steve Ayan.

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