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Naturschutz: Hilfe für Korallenriffe

Meeresforscher erproben, ob künstlich zugesetzte probiotische Bakterien gestresste Korallen vor dem Untergang bewahren könnten. Allerdings ist das Verfahren unter Fachleuten umstritten.
Bedrohte Unterwasserwelt: Korallen im Roten Meer

Mantas und Haie gleiten an den Besuchern des hangargroßen Meerwasseraquariums AquaRio in Rio de Janeiro vorbei. In einem Labor über der Hauptgalerie bereiten Meeresbiologen ein neues Experiment vor. Es geht um die Rettung der Korallenriffe. 20 rasterartig angeordnete Wasserbecken, jedes etwa 30 Zentimeter breit, beherbergen farbenfrohe Ansammlungen von Korallen. Zu einigen Tanks wollen die Wissenschaftler Cocktails aus Probiotika geben – ein Bakteriengemisch, das die Korallen widerstandsfähiger gegenüber Umweltstress machen soll.

João Rosado zieht eine trübe Flüssigkeit in einer Pipette auf, beugt sich über das erste Becken und drückt vorsichtig auf den Kolben, um die Mixtur in das Meerwasser zu spritzen. »Können Sie das sehen – wie Rauch?«, fragt mich Rosados Kollege Pedro Cardoso von der Bundesuniversität Rio de Janeiro. »Das sind die Bakterien.« Über eine Videoschaltung, die das Forscherteam installiert hat, kann ich die Prozedur mitverfolgen. Die graue Bakterienwolke legt sich um die Korallen wie ein Schutzmantel. Später wird Rosado in andere Becken mit Probiotika angereicherte Rädertierchen (Rotifera) setzen – mikroskopisch kleine Meeresbewohner, die von Korallen gefressen werden. In einer dritten Versuchsgruppe werden die Korallen sowohl Bakterien als auch Rädertierchen erhalten, und in einer vierten, der Kontrollgruppe, bleibt das Meerwasser ohne jeglichen Zusatz. Die Forscher wollen im Verlauf der kommenden Wochen Korallenproben entnehmen, um zu sehen, inwieweit die Maßnahmen deren Gesundheit verbessern.

Der Einsatz von Rädertierchen ist ein neuer Ansatz, um stressgeschädigten Korallen »gute Mikroben« zukommen zu lassen. Hohe Wassertemperaturen und Krankheitsausbrüche drohen die Korallenriffe zu überrollen. Mit ihren im Dezember 2020 gestarteten Versuchen wollen die Biologen herausfinden, inwieweit sich mit Probiotika die Überlebenschancen von Korallen in der freien Natur steigern lassen. Das Experiment von Rosado und Cardoso baut auf den Untersuchungen ihrer Mentorin Raquel Peixoto auf, die 2015 hierzu erste Studien veröffentlichte. Die Meeresbiologin, die inzwischen an der König-Abdullah-Universität für Wissenschaft und Technologie in Thuwal (Saudi-Arabien) forscht, gehörte zu den Ersten, die vorschlugen, Probiotika ins Meer einzutragen, um die Korallen zu retten – ein wegen seiner unklaren Auswirkungen auf das Ökosystem umstrittenes Verfahren. Doch angesichts der immensen Bedrohung der Korallenriffe sei es ihrer Meinung nach an der Zeit, »gewisse Risiken in Kauf zu nehmen«.

Korallenriffe bedecken weltweit schätzungsweise bis zu 600 000 Quadratkilometer des Meeresbodens. Sie konzentrieren sich hauptsächlich auf ein Dutzend Regionen, beeinflussen aber das Leben von Meeresbewohnern und Menschen auf dem gesamten Planeten. Fast ein Viertel aller marinen Spezies verbringt zumindest einen Teil seines Daseins im Korallenriff. Die Riffe dämpfen die Wucht von auflaufenden Wellen und Sturmfluten und spielen somit eine wichtige Rolle für den Küstenschutz. Sie ernähren Millionen von Menschen; Schätzungen gehen von jährlichen Einnahmen aus dem globalen Tourismus von etwa 30 Milliarden Euro aus.

Doch die Korallen der Erde könnten ihrem Untergang geweiht sein. 1983 beobachtete man erstmals eine massenhaft auftretende Korallenbleiche – ein Indiz für Nahrungsmangel –, und seit den 1990er Jahren wird dieses Ausbleichen mit den ansteigenden Wassertemperaturen in Zusammenhang gebracht. Seit 1980 haben 94 Prozent aller Korallenriffe zumindest eine Episode starken Ausbleichens durchgemacht. Das australische Great Barrier Reef war im Verlauf der letzten fünf Jahre dreimal von einem solchen Ereignis betroffen.

Todeszone | Im australischen Great Barrier Reef bleichen immer mehr Korallenstöcke aus. Die Polypen haben ihre symbiontischen Algen verloren und verhungern.

Nach einem 2020 vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen veröffentlichten Bericht werden die meisten Riffe unserer Erde ab 2034 jedes Jahr eine schwere Korallenbleiche hauptsächlich auf Grund der Klimakrise erleiden und bis 2100 gänzlich verschwunden sein, falls nichts dagegen unternommen wird. Selbst wenn die Länder der Erde beginnen, ihren Kohlenstoffdioxidausstoß unter Kontrolle zu bringen, wird sich der weltweite Tod der Riffe sehr wahrscheinlich weiter fortsetzen. »Für eine Trendumkehr haben wir nur ein sehr kleines Zeitfenster – eigentlich nur eine Dekade«, meint Peixotos Kollege Carlos Duarte. »Dieses Fenster schließt sich gerade sehr schnell.«

»Das klingt ziemlich radikal – aber mit dem richtigen Ansatz könnte es klappen«

Die Wissenschaftler sehen in der Behandlung mit Probiotika nicht nur eine Notlösung, um den Zerfall der Riffe hinauszuzögern, sondern vielmehr eine reelle Chance, bereits eingetretene Schäden zu beheben. Kränkelnde Korallenbänke könnten damit wieder aufblühen, und neu gezüchtete Korallen, die auf gefährdete Riffe verpflanzt werden, sollten die Stressresistenz steigern. »Das klingt ziemlich radikal«, sagt die Meeresmikrobiologin Rebecca Vega Thurber von der Oregon State University in Corvallis (USA). »Aber mit dem richtigen experimentellen Ansatz und entsprechender Ausführung könnte es klappen.

Wichtige Fragen bleiben allerdings offen: Werden die ins Meer eingebrachten Probiotika nicht einfach wieder weggeschwemmt? Werden die aufwändigen Verfahren nicht Unsummen verschlingen, sobald man versucht, hunderte Kilometer lange Riffe zu behandeln? Und selbst die glühendsten Verfechter sind sich der Risiken bewusst. Das Ganze erinnert an vielfach diskutierte Maßnahmen des Geoengineering wie ins Meer verbrachte Eisenverbindungen, um das Wachstum von CO2 verbrauchenden Algen anzukurbeln, oder in die Atmosphäre entlassene Aerosole, um die Sonnenstrahlung zurück ins All zu reflektieren und damit die globale Erwärmung zu verringern. Die Impfung von Riffen mit Mikroben könnte das gesamte marine Ökosystem fundamental verändern. Einige Experten mahnen, dass bestimmte Bakterien den Ausbruch neuer Korallenkrankheiten hervorrufen könnten, wofür Laborversuche durchaus sprechen. Und keiner weiß genau, wie sich eine Probiotika-Therapie auf die marinen Lebewesen weiter oben in der Nahrungskette auswirkt: auf die Fische und Krebse, die sich von Korallenpolypen ernähren.

Schon seit den 1970er Jahren laufen Versuche, geschädigte Riffe wiederherzustellen. Im Jahr 2000 baute Baruch Rinkevich vom Nationalen Institut für Ozeanographie in Haifa (Israel) eine der ersten Aufzuchtanlagen für Korallen auf, die in von Fischfang, Tauchern oder Stürmen beeinträchtigte Riffe verpflanzt werden konnten. Einige Jahre später begann die Erprobung spezifischer Maßnahmen gegen das Ausbleichen. Das Team um Christopher Page vom Mote Marine Laboratory in Florida berichtete 2018, dass sich abgeschabte Bruchstücke gesunder Korallen unter Laborbedingungen zu reifen Stöcken entwickelten. Solche Fragmente transplantierten mexikanische und israelische Fachleute auf Riffe vor der mexikanischen Pazifikküste. Die daraus hervorgegangenen Korallen zeigten eine erstaunliche Überlebensrate von rund 60 Prozent – trotz der zerstörerischen Kraft des 2018 wütenden Hurrikans Willa. Und auf den Riffen Floridas verschmolzen eingebrachte Korallenbruchstücke zu größeren Kolonien, die sich ab 2020 erfolgreich in freier Natur fortpflanzten.

Wissenschaftler vom Australian Institute of Marine Science versuchen seit 2015, im Labor so genannte Superkorallen zu züchten. Dabei kreuzen sie Wildformen mit erwünschten Merkmalen wie Hitzetoleranz, um Nachkommen mit einer Vielzahl derartiger Eigenschaften zu erhalten. Wie eine 2020 durchgeführte Studie ergab, überstanden solche hitzetoleranten Exemplare extreme Wassertemperaturen mit einer um das 26-Fache höheren Wahrscheinlichkeit als normale Korallen.

Ein weiterer Ansatz, den Fortbestand der Korallen zu sichern, ist die Steigerung ihrer Fortpflanzungsfähigkeit. 2017 begann ein Team der California Academy of Sciences zusammen mit den Naturschutzorganisationen Nature Conservancy und SECORE International die Ei- und Samenzellen aufzufangen, die gesunde Korallen in freier Natur während weniger, aber voraussagbarer Nächte abgeben. Nach Befruchtung im Labor verfrachtete man die Larven auf Not leidende Riffe.

All diesen Verfahren haftet jedoch ein schwer wiegender Mangel an: Die Manipulationen an den Korallen sowie die Entwicklung der Techniken, um entsprechende Exemplare auf die ums Überleben kämpfenden Riffe zu verpflanzen, dauern lange und sind teuer. Schneller und billiger wäre es, so die Idee von Forschenden wie Peixoto, eine Art Heilmittel direkt auf kranke Korallen in freier Natur zu applizieren. Außerdem ließen sich, zumindest theoretisch, selektiv aufgezogene Laborkorallen oder abgeschabte Bruchstücke ebenfalls derart behandeln, um sie widerstandsfähiger gegenüber Hitze oder Krankheit zu machen, bevor sie ins Meer verbracht werden.

Korallenformationen bestehen aus Ansammlungen tausender Tiere, so genannter Polypen, die oftmals winziger als der Nagel des kleinen Fingers sind. Jeder Polyp beherbergt sein eigenes Mikrobiom, eine vielfältige Gemeinschaft an Bakterien, Algen, Pilzen und anderen Mikroorganismen. Wie die Mikroben des menschlichen Darms erfüllen diese winzigen Bewohner Aufgaben, die das ganze System am Laufen halten. Dank Metagenomanalysen, also der Sequenzierung sämtlicher mikrobieller Gene eines Polypen, wissen wir inzwischen, was die Organismen zu leisten vermögen. So hat eine Arbeitsgruppe vom Massachusetts Institute of Technology Bakterien isoliert, die überschüssigen Stickstoff aufnehmen und dadurch im unmittelbaren Umfeld von Korallen Algenblüten und die damit verbundene Nährstoffkonkurrenz unterbinden. Andere Mikroorganismen bauen schädliche Sauerstoffradikale ab oder unterstützen Korallen dabei, Kohlenstoff als Energiequelle zu binden. Ähnlich wie Darmbakterien unsere Verdauung und unsere Gesundheit fördern, könnten somit nützliche Korallenmikroben die Polypen widerstandsfähiger gegen Umweltstress machen, indem sie Krankheiten ihrer Wirte abwehren.

»Jedes Jahr wurde es schlimmer«

Mit steigenden Wassertemperaturen beginnt jedoch das Beziehungsgeflecht zwischen Mikroben und Korallen auseinanderzubrechen. Wie Wissenschaftler von der Oregon State University herausgefunden haben, werden Bakteriengemeinschaften auf gestressten Korallen häufig instabil, was die Verbreitung pathogener Keime fördert. Die Erwärmung der Ozeane und die durch den höheren CO2-Gehalt verursachte Versauerung des Meerwassers bringen zusätzlich den mikrobiellen Verkalkungsprozess zum Erliegen, der den Korallen ihre Struktur verleiht und die Regeneration geschädigter Stöcke ermöglicht. Gleichzeitig stoßen gestresste Polypen ihre symbiontischen Algen ab, die mit Hilfe von Sonnenlicht Nährstoffe aufbauen. Dieser Verlust entzieht den Polypen ihre Nahrungsgrundlage und verleiht den Stöcken die charakteristische Bleiche, die als Warnzeichen für den drohenden Untergang bekannt ist. Raquel Peixoto kennt die alarmierende Verwandlung aus erster Hand.

Schon als Kind war Peixoto fasziniert von der bunten Unterwasserwelt, wenn sie während der Ferien in den Riffen bei Bahia schnorchelte. Als Erwachsene musste sie bei ihren Tauchgängen mit ansehen, wie dieses Universum langsam zerfiel. Korallen wandelten sich zu leblosen Skeletten; die noch Übriggebliebenen wirkten blass und krank. »Jedes Jahr wurde es schlimmer«, erzählt sie. »Beim Tauchen sieht man, dass 90 Prozent der Korallenarten tot sind.« Peixoto beschloss, etwas dagegen zu tun.

Laborexperiment | Die Meeresforscherin Raquel Peixoto testet einen bakteriellen Breitbandcocktail in Aquarien. Später möchte sie die Probiotika im Roten Meer einsetzen, um die Abwehrkräfte von Korallen zu stärken.

2010 gelang es ihrem Team, ölverseuchte Mangroven mit Erdöl abbauenden Bakterien zu reinigen. Mit dem gleichen Ansatz wollte Peixoto daraufhin Korallenriffe gegen Umweltstress wappnen. Aus gesammelten Gewebe- und Meerwasserproben sequenzierte sie die darin enthaltenen bakteriellen Gene, um so jene Arten zu identifizieren, die für das Riff überlebenswichtige Funktionen ausüben. Die Wildformen dieser Mikroben ließ sie in Kultur wachsen und stellte für jedes Riffmilieu maßgeschneiderte mikrobielle Cocktails zusammen. 2019 zahlte sich ihre Arbeit aus: Die probiotischen Mixturen halfen tatsächlich Korallen im Aquarium, hohen Wassertemperaturen sowie Krankheitserregern besser zu trotzen.

Eine eingehende Analyse offenbarte, wie die Probiotika vermutlich ihre gesundheitsfördernde Wirkung entfaltet hatten: Die behandelten Korallen aktivierten weniger Gene, die Entzündungsreaktionen oder das Absterben von Zellen auslösen. »Die Korallen können zwar noch bleichen, aber längst nicht so stark, dass Gewebe zu Grunde geht«, erklärt Peixoto. »Die Probiotika sorgen für eine Art Puffer.« Das sollte die Erfolgschancen von anderen Reparaturmaßnahmen – wie der Züchtung von Superkorallen oder dem Erzeugen junger Stöcke aus Bruchstücken – ebenfalls steigern; und die ausgesetzten Korallen besäßen vermutlich bessere Karten, Umweltstress zu überstehen.

Eingetütet | Die Meeresbiologin Kelly Pitts pumpt ein Mittel mit Probiotika in einen Plastiksack, unter dem ein Korallenstock sitzt.

An einem kühlen Tag im Januar 2020 wagte ein Team von der Smithsonian Marine Station in Florida einen ersten Freiwasserversuch mit einem Probiotikum. Ausgerüstet mit Pressluftflasche und Flossen ließ sich die Meeresbiologin Kelly Pitts von einem kleinen Boot auf ein Riff hinabgleiten, das Floridas Ostküste vor Fort Lauderdale säumt. In etwa neun Meter Tiefe kam ein durchsichtiger Plastiksack von rund einem halben Meter Durchmesser in Sicht, der auf dem Meeresboden verankert war und einen über zehn Jahre alten Korallenstock wie ein Gewölbe umschloss. Einige Polypen des eingeschlossenen Stocks zeigten noch ein pulsierendes Orange, andere dagegen waren zu Khaki verblasst – ein typisches Symptom für eine der gravierendsten Bedrohungen, unter denen die Riffe Floridas leiden: die »Stony Coral Tissue Loss Disease« (zu Deutsch: Steinkorallen-Gewebe-Verlust-Krankheit).

Pitts nestelte einen biegsamen Schlauch unter die Kante des Plastikgewölbes und verband sein Ende mit einer mit Bakterien gefüllten Spritze. Als sie auf den Kolben drückte, breitete sich in dem Sack eine trübe weiße Flüssigkeit aus und verhüllte die Koralle. Das Team hatte das Probiotikum zuvor monatelang in Wasserbecken getestet, aber die Anwendung draußen im Riff war etwas komplett anderes. Was passiert, wenn die Mixtur aus dem Sack austritt?

Freiwasserversuche | Kelly Pitts trägt auf Korallen vor der Küste von Florida eine Paste mit einem Probiotikum auf, um damit eine Steinkorallenkrankheit zu bekämpfen.

Bei einem weiteren Experiment presste Pitts ein probiotisches Gel ähnlich wie Zahnpasta auf eine Koralle am Meeresboden, die diesmal völlig frei, also ohne schützenden Plastiksack, im Wasser stand. Doch trotz des umströmenden Wassers blieb die Paste fest auf dem Korallenstock haften. Pitts war erleichtert.

Die Steinkorallenkrankheit, die sich wie Säure durch die Polypen frisst, verwüstete seit 2014 fast 400 Quadratkilometer der Riffe von Florida sowie der Karibik. Die vermutlich bakteriell verursachte Seuche breitete sich ungehindert aus und ließ große Korallenformationen binnen Wochen oder Monaten absterben. Um der Krankheit Herr zu werden, hatte man seit 2018 hohe Dosen herkömmlicher Antibiotika wie Amoxicillin verabreicht – eine drastische Maßnahme, die auch Unmengen nützlicher Bakterien vernichtete.

Durch Gensequenzierung hatten die Forscher der Smithsonian Marine Station einen Bakterienstamm der Gattung Pseudoalteromonas identifiziert, der vereinzelt in Korallen vorkommt und die antibiotisch wirkende Substanz Korormicin bildet. Wie Tests in Aquarien ergaben, halten diese probiotischen Bakterien – in hoher Konzentration verabreicht – die Steinkorallenkrankheit erfolgreich in Schach.

Ende 2019 hatte das Smithsonian-Institut die Genehmigung erhalten, Anwendungsversuche im freien Meer durchzuführen. Eigentlich wollten die Wissenschaftler gar nicht so schnell vorpreschen, aber die Krankheit breitete sich dermaßen rasant aus, dass örtliche Naturschützer den vorgeschlagenen Test befürworteten.

Bei ihren Freiwasserversuchen im Januar und September 2020 behandelten Pitts und ihre Kollegen 14 Korallenstöcke mit der Plastikglockenmethode und sieben weitere durch Auftragen der Paste. Als sich das Team zwei Wochen später einen ersten Eindruck verschaffte, war bei 80 Prozent der behandelten Korallen die Krankheit gestoppt worden. Einige der fleckenartigen Gewebsläsionen begannen sogar zu heilen. Die Covid-19-Pandemie zwang die Wissenschaftler allerdings, ihre Versuche vorerst einzustellen.

»Es kann sehr schnell umschlagen«

In der Mikrobiologie gilt es immer, den Gesamtzusammenhang nicht aus den Augen zu verlieren: Erhöht man die Populationsgröße einer »nützlichen« Bakterienart, kann sich das auf andere Schlüsselarten unvorhersehbar auswirken. Diese Komplexität und Unsicherheit sind der Grund für die Skepsis, die Kritiker gegen den Einsatz von Probiotika bei Korallen hegen. »Vielleicht funktioniert es anfangs ganz gut«, meint Vega Thurber. »Aber es kann sehr schnell umschlagen.«

Der Molekularökologe Ty Roach vom Hawai'i Institute of Marine Biology hat in seinem Labor selbst Probiotika getestet. Auch er macht sich Gedanken über irreversible Veränderungen von Korallenmikrobiomen oder gar kompletter mariner Ökosysteme. »Je mehr ich daran herumgetüftelt habe, umso beunruhigter bin ich«, sagt er. Nachdem sein Team rund 130 fingerlange Korallen der Gattung Porites in einem Dutzend Zehn-Liter-Aquarien mit einer Dosis natürlich vorkommender Bakterien behandelt hatte, erkrankten einige Stöcke und starben ab. Zunächst fiel auf, dass die Korallen auf ihrer Oberfläche eine dicke Schleimschicht wie nach einer Reizung bildeten. Dann gingen kleine Gewebepartien der Polypen zu Grunde wie bei einem sich ausbreitenden Krebsgeschwür. Roach war nicht überrascht. Zur natürlichen Mikrobenflora von Korallen gehören Bakterien der Gattung Staphylococcus, die bekanntermaßen auch beim Menschen Krankheiten verursachen.

Wie Roach betont, gibt es kaum wissenschaftlich begutachtete Studien, die den exakten biologischen Mechanismus beschreiben, durch den Probiotika Korallen schützen könnten. »Wir konnten einige Korallen widerstandsfähiger gegenüber leicht erhöhten Temperaturen machen«, sagt er. »Wie das vonstattengeht, ist allerdings völlig unklar.« Und er fragt sich, inwieweit sich diese Behandlungen auf die übrigen marinen Lebewesen auswirken. »Zahlreiche andere Organismen stehen mit den Korallen des Riffs in einer direkten Wechselbeziehung«, erläutert er, darunter Fische, Algen und Krebse. Michael Sweet, Meeresbiologe an der University of Derby und langjähriger Kollege von Peixoto, unterstützt den Einsatz probiotischer Methoden, falls sie als sicher eingeschätzt werden können. Aber auch er teilt die Bedenken von Roach: »Ich möchte nicht derjenige sein, der für die Aussetzung eines Superkeims in die Umwelt verantwortlich ist, wo dann die nächste Korallenkrankheit ausbricht.«

Offen ist gleichfalls, wie häufig probiotische Behandlungen durchgeführt werden sollten. Beim Menschen müssen Probiotika für den Darm oft täglich oder sogar zweimal täglich eingenommen werden. Im Fall der Korallen können die Wissenschaftler nur raten, ob eine Kur einmal pro Woche oder einmal pro Monat genügt, um ein robustes mikrobielles Gleichgewicht zu schaffen.

Die Risiken stellen nur die eine Seite der Medaille dar, auf der anderen stehen die Kosten. Bislang lässt sich schwer kalkulieren, wie teuer es wird, Probiotikacocktails auf ein ganzes Riff auszubringen. Nach Peixotos Schätzung dürfte die Behandlung einer Rifffläche von einem Quadratkilometer zwischen 500 und 600 Euro kosten – den Einsatz erfahrener Taucher vorausgesetzt. Damit könnten die Korallen bis zu einem Monat vor Hitzestress geschützt sein. Auf lange Sicht wäre es ihrer Ansicht nach kostengünstiger, Roboter einzusetzen.

Laut den 2021 veröffentlichten Berechnungen von Michael Sweet könnte das Züchten von Laborkorallen inklusive ihrer Transplantation auf ein Riff sowie der anschließenden Überwachung zwischen 40 und 190 Euro pro Kolonie kosten. Riffe bestehen häufig aus Zehntausenden solcher Kolonien pro Quadratkilometer. Fügt man diesen Zuchtkorallen probiotische Bakterien hinzu, wären die zusätzlichen Kosten gering, meint Sweet. »Wenn wir aber die Probiotika regelmäßig erneuern müssen, könnte das ziemlich teuer werden.«

Doch angesichts siechender Korallenriffe steigt die Bereitschaft, zu außergewöhnlichen Mitteln zu greifen. Eine massive Bleiche brachte 2019 brasilianische Naturschützer zum Umdenken. Der World Wildlife Fund in Brasilien finanziert zum Teil Peixotos Forschungen und schätzt die Erfolgsaussichten durchaus optimistisch ein. Australiens Great Barrier Reef Foundation hat ebenfalls hundertausende Euro in die Probiotika-Forschung gesteckt.

Raquel Peixoto versteht die Bedenken ihrer Kritiker, möchte aber dennoch Freiwasserversuche im Roten Meer starten. Hier sind einige Riffformationen durch lange Streifen freien Meeresbodens voneinander getrennt, so dass sich Probiotika zielgerichtet an einer einzigen Formation anwenden lassen, während die benachbarten unbehandelt bleiben. Im Gegensatz zum Team von der Smithsonian Marine Station in Florida, das eine Mikrobenart gegen eine spezifische Korallenkrankheit einsetzt, will Peixoto die Korallen mit einem Breitbandcocktail widerstandsfähiger gegenüber der Bleiche und darauf beruhenden Krankheiten machen. Wie zuvor möchte sie nützliche Mikroben aus den im Gebiet vorkommenden Korallen isolieren und daraus eine maßgeschneiderte Mixtur kreieren. Verlaufen Aquarientests damit reibungslos, soll das Präparat auf verschiedene, ungefähr zwei Quadratmeter große Riffformationen aufgetragen werden. Dabei wollen die Forscher wasserresistente Heftpflasterstreifen auf die Korallen oder das umgebende Sediment kleben, die mit der Zeit die Probiotika abgeben. Bereits nach wenigen Wochen sollte feststehen, wie es um die Gesundheit der behandelten Korallen im Vergleich zu den unbehandelten steht; und nach einem Jahr ließe sich erfassen, ob sich die Bakterien eventuell auf Fische oder andere größere Organismen wie Schwämme unerwünscht auswirken.

Peixoto ist sich der Tragweite dieser Versuche bewusst, aber die Ausbreitung von Korallen-Geisterstädten, die sie bei ihren Tauchgängen immer öfter vorfindet, bestärkt sie in ihrer Entscheidung. »Wenn wir die notwendigen Techniken entwickeln, können wir immer noch wunderschöne Riffe haben«, betont sie. Ohne zielgerichtete Hilfe sieht sie allerdings dauerhaft finstere Zeiten auf die Unterwasserwelt zukommen.

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  • Quellen

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