Nördliches Breitmaulnashorn: Wenn Tierwohl und Artenschutz kollidieren
Die Zukunft des Nördlichen Breitmaulnashorn liegt auf Eis, tiefgefroren in einem Labor im Norden Italiens. Ein Dutzend Embryonen lagern hier bei Temperaturen von minus 196 Grad Celsius. Geht es nach Thomas Hildebrandt vom Berliner Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW), sollen sie schon bald im Leib einer Leihmutter zu einem Kalb heranwachsen. Was Hildebrandt und sein BioRescue-Team planen, ist zuvor noch niemandem gelungen: Sie wollen eine Unterart nachzüchten, die im Prinzip bereits ausgestorben ist.
Die letzten beiden Nördlichen Breitmaulnashörner, Najin und ihre Tochter Fatu, leben im Ol-Pejeta-Reservat in Kenia. Seit ein paar Jahren sind sie so etwas wie Medienstars: Sie wurden als Hoffnungsträgerinnen vorgestellt und zugleich als Mahnmal für das grassierende Artensterben. Najin ist inzwischen 32 Jahre alt. In ihrem linken Eierstock ist ein Tumor herangewachsen, »so groß wie ein Handball«, wie Hildebrandt sagt. Als Eizellenspenderin haben die Forscher das Tier vor einigen Wochen in den Ruhestand geschickt. Eine Schwangerschaft können sowohl Najin als auch Fatu nicht mehr austragen. Ohnehin lebt kein männliches Tier mehr, und eine Fortpflanzung auf natürliche Weise ist nicht mehr möglich.
Es gibt aber tiefgekühlte Eizellen und Spermien des Nördlichen Breitmaulnashorns und auch eine Leihmutter für das erhoffte Nashornbaby: ein Südliches Breitmaulnashorn. Sobald sich das Tier fruchtbar zeigt, will das BioRescue-Team nach Kenia reisen, um Embryonen zu implantieren, die sich allesamt aus Eizellen von Fatu entwickelt haben.
Fragt man Hildebrandt nach den Erfolgschancen seiner Mission, zeigt er sich optimistisch. Die Qualität der Embryonen sei außerordentlich gut. Und bei Menschen, Rindern und Pferde funktioniere das Verfahren schließlich auch. Hildebrandt sagt: »Wir werden wahrscheinlich noch in der ersten Hälfte von 2022 die erste Schwangerschaft erzeugen.«
Seit rund fünf Jahrzehnten versuchen Artenschützer bereits, das Nördliche Breitmaulnashorn vor dem Aussterben zu bewahren. Im Wettlauf gegen die Zeit hatten sie früh damit angefangen, das Sperma von Bullen der Unterart einzufrieren. Dazu kamen Zuchtprogramme in Zoos. Sowohl Najin als auch Fatu sind im Safaripark Dvůr Králové in Tschechien zur Welt gekommen, erst im Jahr 2009 wurden sie nach Kenia gebracht. »Es wäre unethisch, nach all den Anstrengungen plötzlich aufzugeben«, sagt Jan Stejskal, Direktor für internationale Projekte im Safaripark Dvůr Králové.
Ein Tier gefährden, um eine Art zu retten
Was ist ethisch vertretbar, was nicht? Eine Eizellen-Entnahme wie bei Fatu und Najin ist ein invasiver Eingriff, Tierärzte müssen die Nashörner dafür vollständig narkotisieren. Selbst für gesunde Tiere kann die Prozedur riskant sein. Andererseits zeigen Praxisbeispiele aus der Vergangenheit, dass sich Nashörner in der Regel schnell von dem Eingriff erholen. Wie entscheidet man in solchen Fällen, ob ein möglicher Zuchterfolg die Belastung des Tieres rechtfertigt?
Am Fall Najin wird auch deutlich, wie komplex und langwierig eine solche ethische Risikobewertung ist. Mehrere Monate sind vergangen, bis das Team den Entschluss fasste, dem Tier künftig keine Eizellen mehr zu entnehmen.
»Auf der einen Seite haben wir Artenschutzziele«, erklärt die Ethik-Expertin Barbara de Mori von der Universität Padua in Italien, »auf der anderen Seite das Wohlergehen des Individuums.« Nicht immer ist es einfach, beides miteinander in Einklang zu bringen. De Mori und ihr Team arbeiten mit den BioRescue-Forschenden um Hildebrandt Seite an Seite, um die ethische Bewertung immer wieder neu auszuloten. »Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass wir die Grenzen des Machbaren im Naturschutz ausreizen«, sagt Hildebrandt. Wie solche Projekte enden können, habe der Fall des Klonschafs Dolly in den Neunzigern eindrücklich gezeigt: Aus wissenschaftlicher Sicht sei der Schritt gelungen – und doch hat er weltweit für Aufsehen und kritische Debatten gesorgt. »Man hat die Ängste und Bedenken der Menschen nicht ernst genug genommen«, sagt Hildebrandt. Er will das Nördliche Breitmaulnashorn retten, aber nicht um jeden Preis. »Was bringt uns ein Erfolg, wenn die Öffentlichkeit das, was wir tun, abscheulich findet?«
Das Team um de Mori unterzieht jeden einzelnen Schritt des Projekts einer ethischen Risikobewertung. »Das Wohlergehen der Tiere, die Qualität der Verfahren, die Sicherheit aller Mitarbeiter – all diese Aspekte müssen wir im Blick behalten«, erklärt die Ethikerin. Dafür hat ihr Team mehrere Instrumente entwickelt, maßgeschneidert auf das BioRescue-Projekt: Mit Entscheidungsbäumen etwa werden sämtliche Szenarien durchgespielt; dazu kommen Checklisten und Diskussionsrunden mit allen Beteiligten. Für Najin sind die Fachleute so am Ende zum Schluss gelangt, die Eizellenentnahme zu stoppen. Eine sehr schwierige Entscheidung, denn das Nashorn macht 50 Prozent der verbleibenden Population aus. »Schlussendlich hat das Wohl eines einzelnen Tieres aber Priorität«, sagt de Mori, »das gilt auch im Fall von Najin.«
Ökologische Pflicht und Verantwortung
In der Geschichte des Nördlichen Breitmaulnashorns spielte der Mensch bislang die Rolle des Anti-Helden. Bürgerkriege, Wilderei und der Verlust des Lebensraums haben die Bestände in den vergangenen Jahrzehnten zusehends dezimiert. Nun will der gefährlichste Feind des Nashorns sein Retter werden. Ist das paradox, anmaßend, oder – im Gegenteil – sogar die Pflicht des Menschen? Ein Blick in die Augen von Najin und Fatu beantworte diese Frage schnell, sagt de Mori: »Wir haben die Verantwortung, die Situation umzukehren.«
»Schlussendlich hat das Wohl eines einzelnen Tieres Priorität«Barbara de Mori, Ethikexpertin, Universität Padua
Sollte es gelingen, das Nördliche Breitmaulnashorn künstlich nachzuzüchten, wäre eines von vielen Symptomen des Artensterbens gelindert. Die Ursachen aber blieben unberührt. In einem Beitrag für die Fachzeitschrift »Animals« beschreiben de Mori und ihr Ethik-Team dieses Dilemma als »technofix«: Der Mensch setzt moderne Technologien ein, um die Folgen seines Handelns auszubügeln – und macht dabei weiter wie zuvor. Auch Hildebrandt ist sich dieser Problematik bewusst. Als Wissenschaftler wolle er »Fehler aus der Vergangenheit reparieren«, daraus macht er keinen Hehl. Gleichzeitig hofft er, dass in der Zukunft weniger Fehler gemacht werden. »Ich glaube, die junge Generation hat begriffen, dass wir unseren Lebensstil ändern müssen, um noch 100, 200 oder vielleicht auch 1000 Jahre auf unserem Planeten leben zu können.«
Doch: Wie können wir unsere Ressourcen am sinnvollsten einsetzen, um das zu ermöglichen? Das Bundesministerium für Forschung und Bildung unterstützt das BioRescue-Projekt mit 4,2 Millionen Euro, dazu kommen weitere Geldgeber wie die tschechische Stiftung Nadace ČEZ und Pharmaunternehmen wie Merck. Kritiker beklagen, dass man die Gelder besser investieren könne als in den Schutz einer Art, die tausende Kilometer von Deutschland entfernt heimisch ist. Anders ausgedrückt, und auch diese Frage hat Hildebrandt schon öfter gehört: Warum lässt man das Nördliche Breitmaulnashorn nicht einfach aussterben?
Als Antwort beschreibt Hildebrandt einen Kreislauf, dem sich auch der Mensch nicht entziehen kann. Es gehe um sehr viel mehr als nur um das Nördliche Breitmaulnashorn, sagt er. »Wir sprechen hier von einer Regenschirmart. Das heißt: Hunderte, wenn nicht sogar tausende andere Arten hängen vom Nördlichen Breitmaulnashorn ab.« Dazu zählen beispielsweise kleine Säugetiere, die auf den Trampelpfaden der Nashörner durch den Dschungel wandern; Pflanzen, deren Samen die Tiere verteilen, oder auch Insekten, die sich in ihrem Kot vermehren. Stirbt eine solche Regenschirmart aus, droht das, was Artenschützer als Vortex-Effekt bezeichnen: Der Verlust greift wie ein Wirbelsturm um sich, sorgt für Chaos im Ökosystem und bringt etliche Lebensgemeinschaften aus dem Gleichgewicht – bis womöglich weitere Arten aussterben.
»Was bringt uns ein Erfolg, wenn die Öffentlichkeit das, was wir tun, abscheulich findet?«Thomas Hildebrandt, Berliner Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung
Was das mit dem Menschen zu tun hat, sei in Zeiten der Pandemie so deutlich wie nie, sagt Hildebrandt. Wenn etwa Fledermäuse keine Insekten mehr finden, ziehen sie nicht selten in menschliche Siedlungen. Dort wiederum können sie neue Krankheiten auslösen, so genannte Disease X. »Zentralafrika war der Geburtsplatz für HIV und für Ebola«, sagt Hildebrandt. Gerät das Ökosystem weiter ins Wanken, wird es seiner Einschätzung nach nicht lange dauern, bis sich die nächste Krankheit ausbreitet. Für den Forscher ist die Rechnung simpel: Wenn der Mensch jetzt nicht ausreichend in den Artenschutz investiert, wird er später dafür bezahlen müssen – und zwar weitaus mehr als ein paar Millionen Euro.
»Es geht bei dem Projekt auch um den Innovationsaspekt«, sagt Jan Stejskal vom Safaripark Dvůr Králové. Wenn man das Nördliche Breitmaulnashorn retten kann, warum sollte es dann nicht auch mit anderen Arten gelingen? Zwar könne man die Instrumente und Prozesse nicht zwangsläufig eins zu eins übernehmen. »Aber der Erfolg würde unseren wissenschaftlichen Horizont erweitern«, sagt Stejskal.
Neben der Entnahme von Fatus Eizellen setzen die Forscher auf eine weitere Säule: stammzellassoziierte Techniken. So könnten beispielsweise Hautzellen von Najin so umprogrammiert werden, dass sie sich im Labor zu neuen Geschlechtszellen entwickeln – Eizellen oder auch Spermien. Sollte das gelingen, könnte das BioRescue-Team den Genpool für kommende Generationen erweitern . »Mit dem Verfahren stehen wir noch ganz am Anfang«, räumt Hildebrandt ein. Die jüngsten Fortschritte eines Forscherteams von der japanischen Kyushu-Universität seien jedoch viel versprechend.
Für die Rettungsmission bleibt Najin also weiterhin unentbehrlich, nicht zuletzt als Botschafterin ihrer Unterart. Sobald der erhoffte Nachwuchs da ist, soll sie ihr soziales Wissen an ihn weitergeben und der nächsten Generation rechtzeitig beibringen, wie man sich als Nördliches Breitmaulnashorn verhält.
Bis eine Herde mit ausreichender genetischer Vielfalt herangewachsen ist, werden noch Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte vergehen müssen. Falls es überhaupt gelingt. Hildebrandt bleibt auch hier zuversichtlich: »Wenn wir die ersten Babys haben, dann haben wir sehr viel Zeit gewonnen.« Dann könne der soziale Transfer beginnen, und das Millionen Jahre alte Wissen der Nördlichen Breitmaulnashörner wäre gesichert. »Und dann sieht auch die Menschheit, dass es nicht alles nur Statements waren«, sagt Hildebrandt, »sondern dass wir wirklich in der Lage sind, dieses traurige Rad wieder zurückzudrehen.«
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