Paläoanthropologie: Neandertaler hatte härtere Kindheit als Homo sapiens
Neandertaler litten während ihrer kindlichen Entwicklung länger unter Stress als Kinder des anatomisch modernen Menschen. Das haben Tübinger Paläoanthropologinnen und Paläoanthropologen anhand von Analysen steinzeitlicher Zähne herausgefunden.
Als Erklärung für das Aussterben der Neandertaler wurde lange vermutet, dass diese Menschenform während der Eiszeit ein härteres Leben hatte als ihre Zeitgenossen von Homo sapiens. Belastende Ereignisse wie Hunger, Krankheiten oder traumatische Erlebnisse schlagen sich während der kindlichen Entwicklung in den Zähnen nieder. Gleichzeitig lässt sich das Lebensalter aus den Zähnen abschätzen. Das machte sich die Arbeitsgruppe der Anthropologin Sireen El Zaatari von der Universität Tübingen zu Nutze und untersuchte 423 Neandertalerzähne von 74 Individuen sowie 444 Zähne von 102 Vertretern des anatomisch modernen Menschen aus der Zeit des Mittel- und Jungpaläolithikums.
Das Team fand bei den etwa 400 000 bis 12 000 Jahre alten Zähnen bei beiden Menschenformen ähnliche Entwicklungsstörungen im Zahnschmelz. Demnach litten diese unter vergleichbarem Stress. Die belastenden Ereignisse trafen die Individuen jedoch in verschiedenen Phasen ihrer Entwicklung: Bei Homo-sapiens-Kleinkindern traten die meisten Zahnschmelzdefekte bereits sehr früh, im Alter zwischen einem und drei Jahren, auf – also während der Stillzeit. Danach ging die Häufigkeit der Zahnstörungen langsam zurück. Bei Neandertalerkindern dagegen mehrten sich die Defekte mit zunehmendem Lebensalter und erreichten ihren Höhepunkt, nachdem sie vermutlich längst abgestillt waren.
Säuglinge beider Menschengruppen hatten demnach einen ähnlich harten Lebensstart. Der steigende Energiebedarf eines heranwachsenden Kleinkindes erhöhte im eiszeitlichen Europa das Risiko, an Nahrungsmangel oder Infektionskrankheiten zu leiden. Während jedoch solche Gefahren bei Neandertalern auch nach der Stillzeit drohten, schafften es offenbar die Homo-sapiens-Eltern, ihren Nachwuchs nach der Entwöhnung besser zu schützen. Nach Ansicht der Tübinger Forscher spiegelt sich hier die überlegenere soziale Fürsorge wider, die dem anatomisch modernen Menschen langfristig einen Überlebensvorteil gegenüber dem Neandertaler sicherte.
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