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Nesher-Ramla-Homo: Ein neuer Zweig im Stammbusch des Menschen

Ein unscheinbarer Fund aus Israel passt scheinbar gar nicht in seine Zeit: Lebten hier archaische Menschen so lange, dass sie sogar auf den frühen modernen Menschen trafen?
Blick auf die Ausgrabungsstätte in Nesher Ramla

Es sind nur wenige Fossilien, die das Team in Israel aus der Erde holte. Teile eines Unterkiefers und die beiden Scheitelbeine eines Schädels, das rechte immerhin fast komplett. Doch ihre Bedeutung reicht weit über das hinaus, was der Laie beim Anblick dieses kümmerlichen Häufchens von Fossilien vermuten würde. Israel Hershkovitz von der Universität Tel Aviv und sein Team sind davon überzeugt, mit den Knochen die Überreste einer bislang unbekannten Menschenlinie in Händen zu halten.

Jener Mensch, der vor 120 000 bis 140 000 Jahren im heutigen Israel lebte, war nach ihrer Ansicht weder ein Neandertaler noch war er ein Homo heidelbergensis noch gar ein anatomisch moderner Mensch. Sie nennen ihn den »Nesher-Ramla-Homo«, nach seinem Fundort. In der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins »Science« erklären sie, wieso er sich keiner der bekannten Gruppen zuordnen lässt und was die Steinwerkzeuge, die in seinem Umfeld gefunden wurden, über ihn verraten.

»Es ist ein sehr interessanter Fund«, meint Jean-Jacques Hublin vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, der die Untersuchung bestens kennt, aber in der Veröffentlichung nicht als Autor genannt ist. Über hunderttausende Jahre sei das Gebiet entlang der östlichen Mittelmeerküste – die Levante – ein Treffpunkt unterschiedlichster Menschenlinien gewesen, sagt Hublin. Das zeige sich nun einmal mehr.

Der Fundort Nesher Ramla bietet einen tiefen Blick in die Vergangenheit

Wie ein Archiv hat der Fundort Nesher Ramla die Phasen jener Begegnungen konserviert. Hier, im Umland von Tel Aviv, unweit des Städtchens Ramla, liegt Kalkstein unter einer zwölf Meter dicken Tonschicht. Als Arbeiter eines Zementwerks diese Deckschicht abtrugen, tauchte ein Karsttrichter auf – ein spitz zulaufendes, einige dutzend Meter breites Loch im Kalkstein, das sich in der Altsteinzeit langsam mit Sedimenten gefüllt hatte. Archäologen, die dort 2010 in die Tiefe zu graben begannen, entdeckten bald neben vielen Tierknochen auch die Steinwerkzeuge menschlicher Besucher und schließlich sogar die fossilen Überreste jener Besucher selbst. Hershkovitz und Team gehen davon aus, dass der Kiefer und die Schädelteile, die sie nun in der alleruntersten archäologisch bedeutsamen Schicht fanden, zu einem einzelnen Individuum gehörten.

Schädelteile und Kiefer | Mehr fanden die Ausgräber nicht von den Menschen, die vor 140 000 Jahren bis vor 120 000 Jahren im heutigen Israel lebten.

Offensichtlich füllten die von Niederschlägen eingeschwemmten Sedimente den Karsttrichter langsam und gleichmäßig auf. Dadurch lassen sich die Schichten heute recht präzise datieren. In den ältesten ganz zuunterst lagen sehr viele Steinwerkzeuge. Demnach müssen sich Menschen im Zeitraum vor 160 000 bis 120 000 Jahren immer wieder dort aufgehalten haben. Wenn diese Menschen ein neues Werkzeug brauchten, wandten sie die so genannte Levalloistechnik an. Dabei wird der Rohling zunächst mit geschickten Schlägen zugerichtet, bis man mit einem entscheidenden Schlag eine lange, dünne Klinge herauslösen kann. Eine Innovation war diese Methode allerdings seinerzeit schon längst nicht mehr: Sie war damals bereits seit gut 150 000 Jahren in Gebrauch. Neandertaler in Europa und Asien nutzten sie, moderne Menschen in Afrika und deren Nachbarn nutzten sie ebenfalls. Entsprechend wenig verrät ein Feuerstein, der nach dieser Technik behauen wurde, über seinen einstigen Hersteller.

Die Werkzeuge ähneln jenen des modernen Menschen

Ein zweites Team israelischer Fachleute versuchte trotzdem, so viel wie möglich über die Macher der Nesher-Ramla-Steinwerkzeuge in Erfahrung zu bringen. In einer zeitgleich publizierten Arbeit, ebenfalls in »Science«, vergleichen Yossi Zaidner von der Hebräischen Universität von Jerusalem und seine Gruppe die Funde mit den Levalloistraditionen, die sich in den diversen Weltgegenden und Zeiträumen entwickelt haben. Denn die Handwerkerinnen und Handwerker haben ihre Feuersteine regional immer leicht unterschiedlich bearbeitetet.

Zur Überraschung von Zaidner und seinem Team pflegte man bei der Werkzeugherstellung im Herzen Israels vor 120 000 bis 140 000 Jahren die gleiche Tradition wie der frühe moderne Homo sapiens, der zur selben Zeit hier lebte. So produzierten die damaligen Werkzeugmacher Feuersteinspitzen, die sich einfach und zuverlässig an den Schäften von Wurfspeeren oder Stoßlanzen befestigen ließen. Sollten also moderne Menschen die Werkzeuge in Nesher Ramla geschaffen haben?

Grabung | Auch Tierknochen fanden sich im Karsttrichter. Diese Überreste helfen bei der Datierung und erlauben es, die Umweltbedingungen zu rekonstruieren.

Dagegen spricht der Fossilfund selbst. Der Backenzahn im Unterkiefer gehört eindeutig nicht zu einem modernen Menschen. Eher schon zieht der Vergleich mit einem Neandertaler. Doch ein Neandertaler kann der einstige Besitzer des Schädels auch nicht gewesen sein, finden Israel Hershkovitz und sein Team, denn dagegen sprechen die beiden Scheitelbeine. Die seien dicker als die eines Neandertalers und zum Homo sapiens passten sie wegen ihrer Form nicht.

Ähnliche Scheitelbeine aber hatten die mutmaßlichen Vorgänger der Neandertaler, die zum Beispiel vor rund 400 000 Jahren in der Atapuerca-Höhle in Spanien lebten. Gewöhnlich werden sie zur Art Homo heidelbergensis gerechnet. Ein klassischer Homo heidelbergensis sei das Nesher-Ramla-Individuum aber auch nicht. Die Forscher diagnostizieren deutliche Unterschiede in den Unterkiefern der beiden Gruppen.

Insgesamt wirken aber doch viele Merkmale des Nesher-Ramla-Homo recht archaisch – ganz so, als gehöre das Individuum eigentlich in eine andere Zeit, einige hunderttausend Jahre früher. Israel Hershkovitz und seine Gruppe führt das zu einer provokativen Schlussfolgerung: Stammen die Fossilien womöglich von einer Menschenlinie, die bereits vor 400 000 Jahren in der Levante lebte? Entsprechende Überreste dieser alten Population haben Archäologen in den Höhlen Tabun, Zuttiyeh oder Qesem gefunden, wie die Archäologin Marta Mirazón Lahr von der University of Cambridge in einem begleitenden Kommentar in »Science« schreibt. Sind jene Gruppen vielleicht gar nicht in den Neandertalern aufgegangen oder ausgestorben, sondern lebten einfach weiter in der Levante? Als der anatomisch moderne Mensch in ihrer Nachbarschaft auftrat, tauschte er dann mit den Alteingesessenen sein Knowhow über die Werkzeugherstellung aus. Die Ergebnisse finden sich nun tief unten im Karsttrichter Nesher Ramlas.

Wissenstransfer | Die Levalloistechnik, die Fachleute hier an diesem Fundstück aus Nesher Ramla erkennen, war über den halben Erdball verbreitet. Im Detail ähnelte die Vorgehensweise bei den Funden jedoch der des frühen modernen Menschen. Lernten die beiden Gruppen voneinander?

Kreuzung mitten auf der Kreuzung

Mit der pragmatischen Bezeichnung Nesher-Ramla-Homo, die nur auf den Fundort und die Gattung Homo Bezug nimmt, vermeiden die Forscherinnen und Forscher um Hershkovitz jede Festlegung, was den Status als eigene Art oder die Zugehörigkeit zu einer der bereits beschriebenen angeht. Auch beim Denisova-Menschen, dessen Überreste im sibirischen Altai-Gebirge gefunden wurden, haben die Entdecker das so gehandhabt. Die Entscheidung von Hershkovitz und seinem Team, ihren Neufund keiner der althergebrachten Linien zuzuschreiben, »wird auf unterschiedliche Reaktionen bei Paläoanthropologen stoßen«, prognostiziert Mirazón Lahr. Übersetzt heißt das: Es wird wohl auch mit Widerspruch nicht gespart werden.

In jedem Fall zeigen die Ausgrabungen von Nesher Ramla, dass die Geschichte der Menschheit viel komplizierter war, als es jeder geschickt gezeichnete Stammbaum suggeriert, weshalb das Dickicht der menschlichen Abstammungsgeschichte manchmal nur halb im Scherz »Stammbusch« genannt wird. In Israel zeigt sich das Neben- und Nacheinander der verschiedenen Menschenlinien deutlich: Hier kennt man inzwischen Spuren von frühen modernen Menschen, die 200 000 Jahre alt sind. Vor 140 000 bis vor 120 000 Jahren war dann der archaisch anmutende Nesher-Ramla-Homo zugange. Vor etwa 120 000 Jahren kamen wieder die frühen modernen Menschen zum Zuge, während vor 80 000 Jahren erneut Neandertaler im Nahen Osten auftauchten, die schließlich vor vielleicht 50 000 Jahren erneut und anscheinend endgültig vom modernen Menschen ersetzt wurden. Aus diesen verstreuten Puzzleteilen das Gesamtbild zu rekonstruieren, wird die Fachwelt noch einige Jahrzehnte beschäftigen. Möglicherweise wird sich das Rätsel auch auf absehbare Zeit gar nicht klären lassen.

Menschen wanderten durch die grüne Wüste

»In der Levante schwappten die Populationen offensichtlich hin und her«, erklärt Jean-Jacques Hublin. »Allerdings fasste damals sicherlich niemand den Entschluss, ›Lass uns doch aus Afrika auswandern!‹ oder ›Wollen wir nicht einmal wieder aus Eurasien in den Nahen Osten ziehen?‹.« Neandertaler, frühe moderne Menschen und andere Linien lebten vielmehr als Jäger und Sammler, die immer wieder auch angrenzende Gebiete besuchten. Änderte sich dann das Klima, und die großen Wüsten in der Sahara und auf der Arabischen Halbinsel ergrünten, folgten die Menschen wohl den Antilopen oder anderen Tieren dorthin. Änderte sich das Klima erneut, wich die grüne Landschaft erneut einer Wüste, und einige Gruppen wanderten weiter nach Eurasien – oder in die Levante.

Im Erbgut der Menschen finden Forscherinnen und Forscher jedenfalls immer wieder die Spuren des Aufeinandertreffens unterschiedlicher Gruppen. Längst ausgestorbene Linien überdauern dadurch nicht nur als Fossil im Boden, sondern auch im Erbgut ihrer Nachbarn. Aus der DNA der Neandertaler ist beispielsweise bekannt, dass ihre Vorfahren irgendwann einmal auf eine »Geisterpopulation« getroffen sein mussten – auf eine bislang nicht genauer identifizierte Linie von anderen Menschen. Im Zeitraum vor 470 000 bis vor vielleicht 220 000 Jahren muss das vor sich gegangen sein; gut möglich, dass es im Nahen Osten geschah. Vielleicht hat die Gruppe um Hershkovitz ja mit dem Nesher-Ramla-Homo einen Nachfahren genau jener ominösen Gruppe erwischt, deren Erbgut sich später bei den eurasischen Neandertalern findet. »Wir Paläoanthropologen leben in äußerst spannenden Zeiten«, sagt Hublin.

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