Abhängigkeit: Süchtig nach Pornos
Am Morgen vor der Arbeit guckt Valentin Pornos: immer auf der Suche nach dem nächsten Reiz, der noch erregender ist als der letzte. Doch danach geht er nicht befriedigt aus dem Haus. Sein Kopf ist vernebelt, und trotz Schuldgefühlen – gegenüber seiner Partnerin, Familienmitgliedern und Freunden, seinem Arbeitgeber und sich selbst – hören die Gedanken an die nächste Session nicht auf. »Es ist sehr viel Zeit, die für den Konsum draufgeht, täglich mehrere Stunden. Morgens ein bis zwei und abends locker drei. Man merkt nicht, wie die Zeit vergeht.« Damit er während des restlichen Tages der Versuchung nicht erliegt, bleibt Valentin, der eigentlich anders heißt, nicht im Homeoffice, sondern geht ins Büro, wo er Kolleginnen und Kollegen um sich hat. Doch er kommt oft zu spät. Ihm passieren Fehler.
Dass er ein Problem hat, wurde Valentin erst so richtig bewusst, als er mit seiner Freundin zusammenzog. Nun konnte er dem Drang zu Hause nicht mehr ungestört nachgehen. Er schaute sich die Sexvideos heimlich an. Das war auch der Moment, als ihm klar wurde: Er muss etwas tun. Vielen geht es so wie Valentin, weiß Rudolf Stark, Professor für Psychotherapie und Systemneurowissenschaften, der an der Justus-Liebig-Universität Gießen die Pornosucht erforscht: »Wir gehen davon aus, dass drei bis fünf Prozent der Männer betroffen sind. Das sind allein in Deutschland rund 500 000.« Bei Frauen sind die Zahlen weniger klar. Auch sie entwickeln mitunter einen krankhaften Pornokonsum, allerdings seltener – Schätzungen zufolge handelt es sich um rund ein Prozent. Ein Grund dafür ist, dass sie generell weniger Pornos anschauen, wie Umfragen zeigen, und damit ein geringeres Risiko tragen, in die Suchtspirale zu geraten. »In unserer verhaltenstherapeutischen Ambulanz sehen wir kaum betroffene Frauen«, so Stark.
Klaus Wölfling leitet die Ambulanz für Spielsucht an der Klinik und Poliklinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Auch Menschen mit einer »Pornografienutzungsstörung«, wie die Pornosucht in Fachkreisen heißt, werden dort behandelt. »Ein Drittel unserer Patientinnen und Patienten mit internetbezogenen Störungen sind Männer mit Online-Sexsucht-Verhalten.« Neben klassischen Pornos gehört dazu etwa die exzessive Nutzung von Sex-Chats oder erotischen Webcam-Shows. Offiziellen Zahlen zur Verbreitung der Störung steht Wölfling jedoch skeptisch gegenüber. Die Scham sei oft so groß, dass sich viele keine Hilfe suchen – und deshalb in keiner Statistik auftauchen. Da epidemiologische Forschung häufig per Telefon- oder Online-Befragung erfolgt, schätzt er die Dunkelziffer bei diesem Tabuproblem als recht hoch ein. Hinzu kommt: Lange nutzten Forschungsteams verschiedene Fragebogen, um pathologischen Pornokonsum zu erfassen. So ergaben sich allein durch die Erhebungsmethode unterschiedliche Zahlen.
Diagnose: Pornosucht
Denn die Kriterien für die Störung waren bis vor Kurzem nicht klar festgelegt. Erst seit 2022 gibt es sie überhaupt als offizielle Diagnose. Einen einheitlichen Diagnoseschlüssel lieferte die zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretene Version der Internationalen Klassifikation der Krankheiten, ICD-11. Darin erkannte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erstmals neben der Pornosucht auch die Abhängigkeit von Computer- und Videospielen als psychische Krankheit an. Die Pornografienutzungsstörung fällt unter die neue ICD-11-Diagnose »zwanghafte sexuelle Verhaltensstörung«, die auch die Abhängigkeit von Geschlechtsverkehr, Masturbation, Cyber- und Telefonsex umfasst. Ob ein extremer Sexualtrieb zur Krankheit erklärt werden sollte, wurde zuvor in Fachkreisen kontrovers diskutiert. Bei neuen Diagnosen dieser Art bestünde immer die Gefahr, normales Verhalten zu pathologisieren, meinte das Kritikerlager. Auf Grund des hohen Leidensdrucks der Betroffenen, die ihr Verhalten gern ändern würden, es aber nicht können, setzten sich die Befürworterinnen und Befürworter der neuen Diagnose letztlich jedoch durch.
Die Mehrheit der Leute schaut Pornos, ohne davon abhängig zu werden. Laut einer 2018 erschienenen repräsentativen Studie an Deutschen zwischen 18 und 75 Jahren waren 96 Prozent der Männer und 79 Prozent der Frauen schon einmal auf einer Pornoseite unterwegs. 89 Prozent davon gaben an, dass die Filme keine oder sogar positive Auswirkungen auf ihr Sexleben hatten. Für die Diagnose Pornosucht kommen Menschen in Frage, deren Alltag sich so sehr um die Erotikvideos dreht, dass sie Gesundheit und Körperpflege oder andere Interessen und Verpflichtungen vernachlässigen. Der Konsum muss ausgeprägtes Leid verursachen oder das Arbeits- oder Privatleben deutlich beeinträchtigen. Die Person schaut weiter exzessiv Pornos – trotz der negativen Konsequenzen oder obwohl sie dadurch nur noch wenig bis keine Befriedigung erfährt. Bemühungen, aufzuhören oder den Konsum zu reduzieren, sind fehlgeschlagen. Der Kontrollverlust über den Pornokonsum muss mindestens seit einem halben Jahr bestehen.
Die ICD-11 ordnet die Pornografienutzungsstörung den Impulskontrollstörungen zu – neben der Kleptomanie (pathologisches Stehlen), der Pyromanie (pathologische Brandstiftung) und der »intermittierenden explosiblen Störung«, bei der es zu plötzlichen, schweren Wutausbrüchen kommt. Einige Fachleute, darunter Rudolf Stark, sehen jedoch eine nähere Verwandtschaft zum pathologischen Glücksspiel und der Computerspielstörung, die laut ICD-11 zu den Verhaltenssüchten zählen. Auch Klaus Wölfling erkennt bei der Pornografienutzungsstörung klare Anzeichen einer Suchterkrankung: »Da ist zum einen die gedankliche Einengung auf pornografisches Material vor und nach dem Konsum.« Außerdem käme es zu Entzugserscheinungen, etwa starker innerer Unruhe, wenn Betroffene daran gehindert werden, ob durch andere Menschen oder äußere Umstände. Ein weiteres klassisches Suchtkriterium: erfolglose Abstinenzversuche.
Womöglich schlägt sich exzessiver Pornokonsum mitunter auch körperlich nieder. So fand ein Team um den Mediziner Tim Jacobs von der Universität Antwerpen 2021 bei 3419 jungen Männern unter 35 einen Zusammenhang zwischen sehr häufigem Schauen von Pornos und Erektionsproblemen oder ausbleibenden Orgasmen. Allerdings ist noch nicht klar, ob die Sexfilme wirklich die Ursache für solche Funktionsstörungen sind. Denkbar wäre ebenso eine umgekehrte Verbindung: dass sich Menschen mit entsprechenden Problemen eher in virtuelle Welten flüchten, weil sie »echten« Sex nicht richtig genießen können oder Angst haben, dabei zu versagen. Jedoch beobachten Betroffene wie Valentin eine Art Toleranzentwicklung, was eher für den ursprünglich angenommenen Zusammenhang spricht: Die Dosis muss gesteigert werden, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Es braucht immer mehr und immer härteres Material, um zum Orgasmus zu kommen oder überhaupt erregt zu werden. Mit den ausgefallenen Praktiken auf dem Bildschirm und den Genitalien in Großaufnahme kann ein echtes Gegenüber irgendwann nicht mehr mithalten. Teils gipfelt die Notwendigkeit zur Dosissteigerung im Konsum von Gewaltpornografie. »Mein Eindruck ist, dass es so ähnlich ist wie beim Alkoholismus«, sagt Valentin. »Manch alkoholabhängige Person mag vielleicht gar keinen Wodka, aber irgendwann kickt der einfach schneller und härter.«
Umprogrammiertes Belohnungssystem
Bei ihm – wie bei den meisten – hat es schleichend angefangen. Seinen ersten Porno hat er mit 13 oder 14 gesehen, schätzt er. Heute schauen Jugendliche schon mit durchschnittlich 12 Jahren ihren ersten Sexfilm. Es fühlt sich gut an, und das will man dann öfter erleben. Eine Pornografienutzungsstörung entsteht allerdings nicht von heute auf morgen, sondern über Jahre. Ein wichtiger Mechanismus ist dabei die so genannte operante Konditionierung, ein automatischer und in vielen Fällen durchaus nützlicher Lernprozess: Verhalten, das eine positive Konsequenz nach sich zieht, wird mit größerer Wahrscheinlichkeit in der Zukunft wiederholt. In diesem Fall besteht die Belohnung aus Euphorie und sexueller Erregung. Biochemisch spielt dabei der Neurotransmitter Dopamin eine zentrale Rolle. Er ist der Hauptakteur im Belohnungssystem des Gehirns (siehe »Veränderte Hirnstruktur«), aktiviert Vorfreude, Verlangen und den Drang, Letzteres zu stillen. Ähnlich wie bei einer Drogenabhängigkeit fordert der Körper auch beim krankhaften Pornokonsum immer wieder eine Dopaminflut. »Wenn man sich die Suchtentwicklung anschaut, dann ist es so, dass die Patienten häufiger und häufiger konsumieren, wodurch das Belohnungssystem sozusagen umprogrammiert wird«, erklärt Klaus Wölfling. Aus der anfänglich positiven Verstärkung wird im Lauf der Zeit eine negative Verstärkung: Statt einer angenehmen Konsequenz ist es jetzt das Beenden eines unangenehmen Zustands, welches das Verhalten motiviert: Die Entzugssymptome, das extreme Verlangen, die gedrückte Stimmung lassen nach, wenn der Film startet – zumindest kurz. Statt um Genuss geht es nur noch um Erleichterung.
Veränderte Hirnstruktur
Das Gehirn von Menschen, die viel Pornografie konsumieren, wird in den letzten Jahren genauer untersucht. So fanden die Neurowissenschaftlerin Simone Kühn vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und der Psychiater Jürgen Gallinat von der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) in einer 2014 publizierten Studie einen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit des Pornografiekonsums und der Größe des neuronalen Belohnungszentrums. Dafür hatten die beiden 64 gesunde Männer im Alter von 21 bis 45 Jahren mittels Magnetresonanztomografie (MRT) untersucht. Diese wussten zu Beginn nicht, dass es in der Studie um ihren Pornokonsum ging. Im Schnitt verbrachten sie jedoch vier Stunden pro Woche mit pornografischem Material. Laut einem kurzen diagnostischen Fragebogen, den alle beantworten sollten, waren 21 der 64 Männer gefährdet, einen krankhaften Konsum zu entwickeln. Die vollen Kriterien erfüllte allerdings keiner der Probanden. Jene Probanden, die besonders viele Stunden Pornografie konsumierten, wiesen verglichen mit jenen, die wenig bis gar kein Interesse an Erotikvideos hatten, einen kleineren Nucleus caudatus auf. Der Nucleus caudatus besteht aus zwei c-förmigen Strukturen, die tief im Inneren des Gehirns unterhalb der Großhirnrinde liegen (siehe Abbildung). Er ist Teil des Striatums, das zum Belohnungssystem gehört. Das Forschungsteam hält eine Art Verschleiß durch die häufige Aktivierung durch extreme sexuelle Reize für eine mögliche Erklärung für das geringere Volumen. Denkbar ist jedoch auch, dass Menschen, die aus anderen Gründen ein strukturell weniger ausgeprägtes Belohnungssystem haben, anfälliger für suchtartiges Verhalten sind.
Warum manche Menschen dafür anfälliger sind als andere, weiß man noch nicht im Detail. Sowohl die Genetik als auch Lebenserfahrungen spielen aber eine Rolle. Ein Trauma in der Kindheit oder Jugend trägt mitunter zur Entstehung bei, muss es jedoch nicht, sagt Klaus Wölfling: »Sexuelle Traumata können zum Beispiel einen gewissen Wiederholungszwang auslösen. Man sieht sich dann das, was man selbst erlebt hat, immer wieder an, in der Hoffnung, über die Wiederholung irgendwie zu einer Lösung zu kommen.« Bei Valentin gab es kein solches Erlebnis, doch er weiß mittlerweile, dass es Dinge gibt, die er mit den Videos betäuben wollte: »Ich habe meine Gefühle und schwierige Lebensereignisse im Porno ersäuft. Vor lauter Scham darüber ›säuft‹ man vom Porno noch mehr. Jetzt geht es darum, aus der Sucht herauszukommen und an den eigentlichen Ursachen zu arbeiten.«
Ersatzhandlungen einüben
Das tut er in der verhaltenstherapeutischen Ambulanz bei Klaus Wölfling. Wie man die Pornografienutzungsstörung am effektivsten behandelt, wird gerade erforscht. Eine 2022 publizierte systematische Übersichtsarbeit, die 24 Einzelstudien zum Thema einschloss, kam zu dem Ergebnis, dass es für die kognitive Verhaltenstherapie bisher die vielversprechendsten Wirksamkeitshinweise gibt. Allerdings sind die verfügbaren Studien noch rar und oft von geringer Qualität. Nur 4 der 24 Studien, die das Team um die Psychologin Stephanie Antons von der Universität Duisburg-Essen betrachtet hat, waren kontrolliert und randomisiert. Das heißt, sie verglichen den Fortschritt der Behandelten mit dem Verlauf einer geeigneten Kontrollgruppe, die keine Therapie erhielt.
Die Ambulanzen der Unikliniken Mainz und Gießen bieten ein Programm an, das auf der kognitiven Verhaltenstherapie fußt, aber zum Beispiel auch Elemente aus tiefenpsychologischen Ansätzen enthält. Während die kognitive Verhaltenstherapie bei der Behandlung psychischer Störungen im Hier und Jetzt ansetzt und versucht, problematische Gedanken und Gewohnheiten zu verändern, taucht die tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie verstärkt in die Lebensgeschichte des Patienten oder der Patientin ein, um innere Konflikte aufzudecken, die die aktuelle Symptomatik vielleicht mitverursachen.
Zunächst wird in Gruppen- und Einzelsitzungen ein vertieftes Bewusstsein für das Problem geschaffen. Neben dem regelmäßigen Austausch mit anderen Betroffenen lernen die Patienten konkrete Strategien, die sie anwenden können, sobald sie wieder den Drang verspüren, einen Porno anzusehen. Dabei werden starke Reize genutzt, etwa ein intensiver Duft oder ein saurer Geschmack, der vom Gedanken an die Sexvideos ablenkt. »Wenn der Drang aufkommt, dann beiße ich zum Beispiel in eine Zitrone«, sagt Valentin. Eine weitere Maßnahme, die bei einigen funktioniert: Hürden einbauen. Das können Apps oder Programme sein, die den Zugang zu Internetpornos erschweren. So wird der Prozess bewusster, und der Betroffene kann sich im besten Fall noch dagegen entscheiden. »Bei mir heißt das, das Mobiltelefon auszuschalten und alle möglichen Blocker zu aktivieren. Das gibt einem die Chance, den Verstand einzuschalten. Ich frage mich dann: Will ich denn mein Leben riskieren? Meine Partnerschaft? Meine guten Freundschaften? Das hilft mir«, so Valentin. In der Psychotherapie wird außerdem nach möglichen Auslösern für die Erkrankung gesucht und versucht, zu verstehen, welche Funktion der Pornografiekonsum im eigenen Leben erfüllt. In der vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses geförderten Projekt PornLoS untersuchen Rudolf Stark und Klaus Wölfling aktuell, welche Interventionen den meisten Erfolg bringen.
Wirkt die Behandlung, kann das auch ein Schritt auf dem Weg zu einer gesünderen Sexualität sein. »Durch das Einstellen oder die radikale Senkung des Konsums ist erst mal überhaupt Platz, sich wieder auf andere sexuelle Reize einzulassen. Die partnerschaftliche Sexualität zu beleben, geht jedoch nur mit viel Reden – um wieder an vergangene Intimität anzuknüpfen«, erklärt Rudolf Stark. Klaus Wölfling macht ähnliche Erfahrungen mit seinen Patienten: erst einmal abstinent, nähmen sie sich selbst mit ihren Stärken und Schwächen oft klarer wahr. »Das führt manchmal wieder zu einer zufrieden stellenden partnerschaftlichen Sexualität, in einigen Fällen aber auch zur Trennung. Psychotherapie zeigt sich hier mit ihren Wirkungen und Nebenwirkungen.« Die Wirkung der Therapie spürt Valentin schon: »Ich bin konzentrierter, insgesamt ruhiger, wieder mehr bei mir und auch mehr bei meiner Partnerin.«
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