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Erbkrankheiten: Neue Hoffnung bei Huntington

Die fatale Erkrankung ist erblich, bricht aber meist erst im mittleren Lebensalter aus. Die dahinterstehenden genetischen Prozesse ziehen sich offenbar über Jahrzehnte hin – jetzt wurden sie teilweise aufgeklärt. Gelänge es, sie zu unterbrechen, wäre das für Betroffene auch diverser anderer Erbkrankheiten vielleicht die Rettung.
Mikroskopische Aufnahme eines angefärbten Hirngewebeschnitts  aus dem Nucleus caudatus
Hirngewebeschnitt aus dem Nucleus caudatus einer Person mit Morbus Huntington. Er zeigt, dass bei den Betroffenen Neurone mit langen Fortsätzen (Axonen) absterben (weiße Bereiche). Blau: Axone. Dunkel angefärbt sind die Zellkerne von Neuronen.

Morbus Huntington ist eindeutig genetisch bedingt. Allerdings wusste man bisher nicht, warum die Erkrankung meist erst im mittleren Lebensalter ausbricht und was überhaupt die Nervenzellen absterben lässt. Ein 18-köpfiges Forschungsteam hat nun herausgefunden, dass die eigentliche vererbte Veränderung im Huntingtin-Gen (HTT) von Betroffenen lange Zeit harmlos bleibt. Zum Problem wird sie erst, wenn sie sich im Lauf der Jahre in bestimmten Gehirnzellen explosionsartig vermehrt. Die Erkenntnis könnte neuartige Therapieansätze eröffnen.

Die Mutation besteht in einer 36- bis 55-fachen Wiederholung der DNA-Sequenz »CAG« in einem bestimmten Abschnitt des Huntingtin-Gens. Menschen ohne erbliche Vorbelastung besitzen nur zwischen 15 und 35 Kopien des Tripletts. Zum Absterben von Hirnzellen kommt es aber laut den neuen Ergebnissen erst dann, wenn die Wiederholungen (englisch: repeats) auf 150 und mehr anwachsen – ein Prozess, der »repeat expansion« genannt wird. Je länger die Wiederholungsstrecke schon bei Geburt ist, desto früher treten erste Symptome im Allgemeinen auf. Sie münden in unkontrollierte Bewegungen, schwere kognitive Probleme bis hin zu Schluckschwierigkeiten und schließlich dem Tod.

Wenn die Grenze überschritten ist

Die kritische Schwelle von 150 CAG-Wiederholungen wird offenbar bloß in bestimmten Nervenzellen erreicht. Sie liegen im Striatum, einer tief im Gehirn liegenden Struktur mit zahlreichen Funktionen. Wenige Monate später sterben die Neurone – aber weshalb? Möglicherweise beeinflusst Huntingtin unter anderem direkt Ablesevorgänge von Genen. Den neuen Beobachtungen zufolge gerät im Zuge der rapiden CAG-Vermehrung die Expression von mehr als 500 Genen aus dem Lot, was letztlich zum Zelltod führen dürfte. Ein Stoppen oder Verlangsamen der Expansion im HTT-Gen könnte laut dem Autorenteam den Ausbruch der Krankheit verzögern oder sogar verhindern.

Die Arbeitsgruppe untersuchte Hirngewebe von 53 Huntington-Betroffenen und 50 Menschen ohne die Erkrankung. In mehr als 500 000 einzelnen Zellen analysierte sie mit einer speziellen, von ihnen entwickelten Technik sowohl die Genexpression als auch die Zahl der CAG-Wiederholungen im fraglichen DNA-Abschnitt. Die meisten Zelltypen enthielten noch die ererbte CAG-Anzahl. Lediglich in manchen »striatalen Projektionsneuronen« war es zu einer starken Vervielfältigung gekommen. Einige von ihnen enthielten im HTT-Gen nun 800 CAGs in Folge!

Überraschenderweise beobachtete die Gruppe, dass selbst 40 bis 150 CAG-Repeats noch keine offensichtlichen Auswirkungen auf die Gesundheit eines Neurons hatten. Erst ab 150 CAGs kam es zum Umbruch bei der Genexpression von hunderten Genen. Durch Modellierung fanden die Forscher außerdem heraus, dass ein Expansionsereignis in den ersten beiden Lebensjahrzehnten weniger als einmal pro Jahr stattfindet. Sobald die Zahl von 80 CAGs erreicht ist, beschleunigt sich der Prozess jedoch dramatisch.

Wie kommt es zur Expansion? Bestimmte DNA-Wartungsproteine helfen der Zelle normalerweise, Mutationen zu begrenzen. Allerdings verleiten Schleifen des DNA-Strangs, die durch zu viele CAGs entstehen, das Reparaturprotein MSH3 dazu, CAG-Repeats zu vervielfältigen, statt sie zu beseitigen. Könnte man fehleranfällige Reparaturproteine wie MSH3 hemmen, müsste das die Expansion verlangsamen. Der Ansatz könnte auch die Therapie bei anderen Erbkrankheiten voranbringen. Mehr als 50 Erkrankungen, darunter Fragiles-X-Syndrom und die myotonische Dystrophie, werden durch ausgedehnte Sequenzwiederholungen in verschiedenen Genen verursacht.

  • Quellen
Cell 10.1016/j.cell.2024.11.038, 2025

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