Chemische Elemente im All : Wie entstehen neutronenarme Atomkerne?

Der Ursprung der Elemente beschäftigt die Menschen schon seit Jahrtausenden, doch erst seit weniger als 200 Jahren verstehen wir, dass die Eigenschaften der chemischen Elemente im Wesentlichen durch die Anzahl der elektrisch positiv geladenen Protonen bestimmt werden, die zusammen mit ungeladenen Neutronen die Atomkerne bilden. Daher gehören Atomkerne mit identischer Anzahl von Protonen (Z) zum selben chemischen Element. Für die meisten Elemente existieren mehrere stabile Isotope, die sich ausschließlich in der Anzahl der Neutronen (N) unterscheiden.
Seit den bahnbrechenden Experimenten von Pierre und Marie Curie sowie Ernest Rutherford vor gut 150 Jahren wissen wir, dass Kernreaktionen und radioaktive Zerfälle die Prozesse sind, welche die Anzahl an Neutronen und Protonen im Kern ändern und damit das Umwandeln von Elementen ermöglichen. Heutzutage laufen solche Vorgänge im kleinen Maßstab jeden Tag kontrolliert in Teilchenbeschleunigern und Kernreaktoren weltweit ab. Doch um die Vielfalt der Elemente, die wir heute im Periodensystem kennen, aus ursprünglich vorhandenem Wasserstoff und Helium zu erklären, sind Kernprozesse in weit größerem Maßstab nötig. Nur während der Entwicklung von Sternen und deren oft dramatischen und explosiven Lebensendes können die verschiedenen Elemente in ausreichenden Mengen entstehen.
Ab Eisen wird es schwierig
Im Jahr 1957 haben die Wissenschaftler Margaret Burbidge, Geoffrey Burbidge, William Alfred Fowler und Fred Hoyle in einem wegweisenden Artikel das erste umfassende – wenngleich noch recht schematische – Bild der Prozesse gezeichnet, die nötig wären, um die heute beobachtete Verteilung der Elemente und Isotope zu erklären. In diesem Bild ist es die Kernfusion in Sternen, die Elemente mit bis zu 28 Protonen und 28 Neutronen schmiedet. Mit dem explosiven Ende von Sternen, den Kernkollaps-Supernovae, wird das Material großräumig im Kosmos verteilt. Das Element mit 28 Protonen ist Nickel, und sein Isotop mit 28 Neutronen (Nickel-56, Ni-56) ist radioaktiv. Es zerfällt innerhalb weniger Tage zunächst zu Kobalt-56 (Co-56) und nach knapp zwei Monaten schließlich zum stabilen Eisen-56 (Fe-56).
Noch weitere Protonen zu einem Atomkern hinzuzufügen, stellt ein großes Problem dar: Die Fusion von Fe-56 mit weiteren Protonen – oder mit Kernen, die Protonen enthalten – setzt keine Energie frei. Das hängt damit zusammen, dass die positiv geladenen Protonen der elektromagnetischen Abstoßung, der sogenannten Coulomb-Barriere, unterliegen. Dadurch benötigt man immer mehr Energie, um schwerere Elemente auf diese Weise zu erzeugen. Ab Fe-56 verbrauchen weitere Fusionen Energie, statt diese freizusetzen.
Neutronen einfangen
Aus diesem Grund war schon vor mehr als 80 Jahren klar, dass es die elektrisch neutralen Neutronen und ihre Einfangprozesse sein müssen, die für das Entstehen der schweren und schwersten Elemente verantwortlich sind. Solche Prozesse hinterlassen eine unverkennbare Spur in der Verteilung der Isotope: Falls eingefangene Neutronen die Bildung der schwereren Elemente antreiben, sollten sich in der Natur vorzugsweise die neutronenreichen und damit schwereren Isotope eines Elements finden lassen. In der Tat erkennt man genau dieses Muster, wenn man die Verteilung der Isotope im Sonnensystem untersucht.
Doch freie Neutronen sind nicht stabil. Mit einer Halbwertszeit von fast 15 Minuten zerfällt ein Neutron n in der Natur zu einem Proton p, einem Elektron e– und einem Antielektronneutrino ν'e gemäß der Reaktion n → p + e– + ν'e. Wie können dann Neutroneneinfänge für den Ursprung der Elemente verantwortlich sein? Unter extremen Bedingungen ist eine Umkehrung des oben beschriebenen Zerfallsprozesses möglich: Bei sehr hohen Dichten, wie sie beispielsweise im Kern kollabierender Sterne erreicht werden, können hochenergetische Elektronen oder Antielektronneutrinos mit Protonen reagieren und dadurch große Mengen von Neutronen erzeugen: e– + p → n + νe; ν'e + p → n + e+. In den Reaktionen entstehen zudem Elektronneutrinos νe und Positronen e+, die Antiteilchen von Elektronen. Aufgrund dieser Betaprozesse verwandelt sich zum Beispiel das Innere eines kollabierenden Sterns in einen Neutronenstern.
Beim Kernkollaps oder beim Verschmelzen zweier Neutronensterne – die zu einer Supernova beziehungsweise Kilonova führen – entstehen so in Sekunden genug freie Neutronen, um Neutroneneinfangprozesse zu ermöglichen. Die Beobachtungsdaten zur Kilonova AT2017gfo haben zusammen mit dem Gravitationswellensignal GW170817 im Jahr 2017 den Beweis dafür geliefert, dass der schnelle Neutroneneinfangprozess (englisch: rapid neutron-capture process, daher auch r-Prozess) tatsächlich in der Natur abläuft.
Beobachtete Isotope
In unserem Sonnensystem sind die Isotope mit den meisten Neutronen für ein paar Elemente tatsächlich am häufigsten – ein klarer Hinweis für die Existenz von Neutroneneinfangprozessen. Allerdings finden wir im Sonnensystem für die meisten Elemente ebenso Spuren von neutronenarmen Isotopen, selbst für Elemente jenseits von Eisen. Diese sogenannten p-Isotope (p steht für »protonenreich«) geben Wissenschaftlern ein noch weitestgehend ungelöstes Rätsel auf. Es gibt eine Reihe von möglichen Prozessen, jedoch bisher keinen, mit dem sich allein die beobachteten Häufigkeiten zufriedenstellend erklären lassen. Stattdessen zieht man verschiedene Prozesse in Betracht, die sich gegenseitig ergänzen.
Zwei Vorschläge, keine Lösung
Zu den besten Kandidaten gehört ein Prozess, bei dem hochenergetische Photonen Neutronen aus bereits existierenden schweren Atomkernen buchstäblich herausschlagen. Das geschieht unter extremen Bedingungen, wie sie in massereichen Sternen und deren Supernova-Explosionen auftreten. Im Gegensatz zum Neutroneneinfangprozess können damit neutronenarme Isotope erzeugt werden. Moderne Berechnungen dieses γ-Prozesses zeigen jedoch, dass sich mit ihm noch nicht alle beobachteten p-Isotope erklären lassen. Das gilt insbesondere für leichtere, wie Molybdän-92 (Mo-92).
Eine weitere Möglichkeit ist der Neutrino-p-Prozess (νp-Prozess), bei dem in umgekehrter Richtung, also ausgehend von leichten Kernen, die neutronenarmen Kerne aufgebaut werden. In protonenreicher Materie werden dabei durch eine Sequenz von Protoneneinfangreaktionen direkt die neutronenarmen Isotope der schweren Elemente erzeugt. Das Besondere bei diesem Prozess ist, dass durch einen hohen Fluss von Antineutrinos, wie sie zum Beispiel von einem kühlenden Neutronenstern erzeugt werden, manche Protonen vor dem Einfang in Neutronen umgewandelt werden. Der zusätzliche Einfang von Neutronen ermöglicht es, schneller schwerere Kerne zu erzeugen.
Während der Prozess auf dem Papier den Ursprung der leichteren p-Isotope erklären kann, ist noch unklar, ob die notwendigen Bedingungen in der Natur vorkommen können. Aktuelle Studien basierend auf detaillierten Computersimulationen legen nahe, dass man lediglich die leichtesten p-Isotope der Elemente Krypton (Kr), Selen (Se) und Strontium (Sr) auf diese Weise erklären kann.
Der νr-Prozess
Unter Berücksichtigung des γ- und des νp-Prozesses sind es demnach vor allem die Elemente um Molybdän (42 Protonen) und Ruthenium (44 Protonen) herum, bei denen es noch Erklärungsbedarf gibt. Forschende am GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in Darmstadt und am Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching haben im Mai 2024 einen neuen Prozess vorgestellt, der für den Ursprung genau dieser leichten und mittelschweren p-Isotope verantwortlich sein könnte: der Neutrino-r-Prozess (νr-Prozess). Ausgangspunkt ist neutronenreiche Materie, und damit sind es zunächst dieselben Bedingungen, die für den schnellen Neutroneneinfang (r-Prozess) benötigt werden, der nachgewiesenermaßen im Kosmos auftritt. Beide Vorgänge könnten somit während desselben astrophysikalischen Ereignisses stattfinden.
Beim r-Prozess ohne Neutrinos erfolgt die Umwandlung von Neutronen in Protonen, nachdem schwere radioaktive Isotope durch Einfänge von Neutronen gebildet wurden, ausschließlich durch den Betazerfall, bei dem sich ein Teil der im Kern gebundenen Neutronen in Protonen umwandelt. Das ist die umgekehrte Reaktion zum oben erwähnten Betaprozess, bei dem Neutronen entstehen, allerdings mit dem Unterschied, dass das Neutron beziehungsweise Proton in einem Kern gebunden ist. Dieser Vorgang endet, sobald stabile Isotope gebildet wurden.
Im νr-Prozess dagegen spielen zusätzlich Elektronneutrinos noch eine wichtige Rolle: Diese werden von den schweren Kernen absorbiert und beschleunigen die Umwandlung von Neutronen in Protonen und damit die Transformation neu gebildeter neutronenreicher Kerne in neutronenärmere (siehe »r-Prozess und νr-Prozess«). Im Gegensatz zum r-Prozess endet diese Transformation beim νr-Prozess nicht bei den stabilen Kernen, sondern kann sogar so effizient sein, dass im Prinzip die rätselhaften neutronenarmen p-Isotope erzeugt werden können.
Anspruchsvolle Modellrechnungen
Das Absorbieren von Neutrinos erfolgt über die schwache Wechselwirkung, also dieselbe Naturkraft, die den radioaktiven Zerfall bestimmt. Sie ist – wie der Name nahelegt – sehr schwach und wirkt lediglich auf kurzen Distanzen unterhalb der Größe eines Atomkerns. Aus diesem Grund wechselwirken Neutrinos extrem selten mit Materie. Der Neutrinoeinfang lässt sich deshalb nicht direkt im Labor messen und muss basierend auf Kernmodellen berechnet werden. Das wiederum stellt eine besondere Herausforderung für die Beschreibung des νr-Prozesses dar, weil die Neutrinoabsorption an Atomkernen weitaus komplexer ist als die entsprechenden Reaktionen mit freien Neutronen und Protonen.
Um die Raten, mit denen diese Reaktionen stattfinden, präzise zu berechnen, muss man zunächst die Struktur von neutronenreichen Kernen gut genug verstehen. In bisherigen Modellen des νr-Prozesses benutzt man relativ grobe Abschätzungen für die Reaktionsraten, doch zukünftige Experimente mit modernen Großforschungsanlagen wie FAIR (Facility for Antiproton and Ion Research) in Deutschland oder FRIB (Facility for Rare Isotope Beams) in den USA werden einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, die Modelle – und damit das Verständnis zum νr-Prozess – zu verbessern.
Explosive Bedingungen
Eine weitere offene Frage kommt vonseiten der Astrophysik: Können die für den νr-Prozess nötigen Bedingungen im Universum überhaupt erreicht werden? Falls ja, wo treten sie auf? Zunächst erfordert der Prozess eine extrem starke Neutrinoquelle. Dafür kommen höchstwahrscheinlich nur heiße Neutronensterne infrage, die sich in einer Kernkollaps-Supernova bilden oder die bei dem Verschmelzen von zwei Neutronensternen entstehen – die Supernovae und Kilonovae, bei denen ebenfalls der r-Prozess abläuft. Das Zeitfenster für den νr-Prozess ist allerdings nur sehr kurz, da der Neutronenstern innerhalb weniger Sekunden abkühlt und somit seine Neutrino-Leuchtkraft verliert.
Die zweite notwendige Bedingung für den νr-Prozess ist, dass das Material lange nahe genug an der Quelle der Neutrinos verbleiben muss, um ausreichend viele von ihnen absorbieren zu können. Hierbei ist zu bedenken, dass sich die schweren, neutronenreichen Kerne erst bilden können, wenn das Material im richtigen Temperaturbereich von etwa ein bis drei Milliarden Kelvin liegt. Das ist deutlich »kühler« als in einem mehrere zehn Milliarden Kelvin heißen, neu gebildeten Neutronenstern.
Allerdings ist das problematisch, weil sich das bei der kosmischen Explosion herausgeschleuderte Material – wenn es kalt genug ist – bereits zu weit von der Neutrinoquelle entfernt hat, wo die Neutrinoflussdichten zu gering sind für effiziente Neutrinoabsorption. Damit der νr-Prozess funktioniert, muss die Ausdehnungsgeschwindigkeit des Materials irgendwie verlangsamt werden.
Magnetische Bremse
Dahingehend hilfreich könnten Magnetfelder sein, die das herausströmende Material auf gekrümmte Bahnen lenken, sodass es sich länger in der Nähe des heißen Neutronensterns aufhält. Starke Magnetfelder können sowohl bei Neutronensternverschmelzungen als auch bei Supernovae von schnell rotierenden Sternen auftreten. Welche Effekte solche Magnetfelder auf längeren Zeitskalen haben und ob damit tatsächlich der νr-Prozess im ausgestoßenen Material auftreten kann, ist aktuell noch nicht geklärt. Diese komplexen Fragen können nur mit sehr aufwendigen Computersimulationen studiert werden, die viele Tage, Wochen oder sogar Monate auf Großrechnern laufen. Zukünftige Simulationen, die Magnetfelder und Neutrinos realistischer beschreiben, werden möglicherweise enthüllen können, ob der νr-Prozess die bisher unerklärlichen p-Isotope erzeugen kann.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.