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News: Neues Analyseverfahren gegen den plötzlichen Herztod

Wer einen Herzinfarkt überstanden hat, sollte froh sein, wenn sein Herz nicht allzu gleichmäßig schlägt. Auf diese arg vereinfachte Formel lassen sich neueste Forschungsergebnisse einer Arbeitsgruppe aus München komprimieren. Mit einer aufwendigen Technik haben sie die EKGs von Herzinfarktpatienten ausgewertet und eine neue Methode entwickelt, um das individuelle Risiko eines plötzlichen Herztodes zu bestimmen.
Seit langem beschäftigt sich diese Arbeitsgruppe um Georg Schmidt, Oberarzt am Lehrstuhl für Innere Medizin I der Technischen Universität München, mit der Entwicklung einer Methode zur Identifizierung solcher Postinfarktpatienten, bei denen mit einem plötzlichen Herztod gerechnet werden muß. Denn nur dann kann man diese besonders gefährdeten Patienten prophylaktisch mit einem Defibrillator versorgen, der das zum plötzlichen Herztod führende Kammerflimmern bei Bedarf terminiert. Als Entscheidungskriterium, ob ein Patient gefährdet ist oder nicht, dienen Informationen, die in den Elektrokardiogrammen (EKGs) der Patienten enthalten sind.

Im Mittelpunkt der Analysen stehen Extrasystolen (an sich harmlose, in den Normalrhythmus des Herzens eingestreute vorzeitige Herzschläge). Diese Extraschläge verursachen Fluktuationen im nachfolgenden normalen Herzrhythmus, die allerdings so gering ausgeprägt sind, daß man sie bei Betrachtung des EKGs mit bloßem Auge nicht wahrnimmt. Diese Veränderungen sind es, anhand derer die Experten vom plötzlichen Herztod bedrohte Postinfarktpatienten von nicht bedrohten unterscheiden können. Doch ließ die Trennschärfe der zunächst verwendeten Analyseverfahren der nichtlinearen Dynamik zu wünschen übrig, weshalb die Arbeitsgruppe versuchte, die Analyseverfahren weiter zu verfeinern.

Ein eigentlich unerfreulicher Anlaß lenkte die Arbeit dann jedoch in eine andere, letztlich aber richtige Richtung: Eine Zeitschrift lehnte einen eingereichten Fachartikel ab, worauf die Arbeitsgruppe ihre Studie noch einmal von Grund auf "zerpflückte". Ergebnis war, so Schmidt, die Erkenntnis: "Wir hatten das Problem mit den Methoden der nichtlinearen Dynamik zwar geortet, die Zusammenhänge aber nicht ausreichend genau erfaßt."

Eines aber stand fest: Die Abstände zwischen den normalen Herzschlägen vor und nach Extrasystolen sind von besonderer Bedeutung. Diese Intervalle nahm man nun noch einmal neu unter die Lupe. Mit der einfachen Methode des lokalen Tachogramms wurden jetzt nicht nur die einer Extrasystole unmittelbar benachbarten Intervalle betrachtet, sondern ein größerer EKG-Abschnitt. Immer wieder zeichnete der Computer den Verlauf der Intervalldauer auf, und dabei kristallisierte sich heraus, daß sich in den zwanzig Intervallen nach einer Extrasystole eine bisher nicht bekannte "Signatur" finden läßt: Unmittelbar nach der Extrasystole verkürzen sich die Intervalle (was einer Zunahme der Herzfrequenz entspricht), anschließend werden sie zunehmend länger, der Herzschlag verlangsamt sich und schwingt schließlich auf die Ausgangsfrequenz ein. Allerdings sind diese Änderungen der Schlagintervalle gering, sie liegen im Bereich weniger Millisekunden. Fehlt diese von Schmidt als Heart Rate Turbulence (HRT) bezeichnete Reaktion, kann das gravierende Folgen haben.

Die Methode wurde anhand der Daten von 100 Postinfarktpatienten des Klinikums rechts der Isar entwickelt und optimiert. Zwei Parameter, der Turbulence Onset (Maß für die unmittelbare Reaktion innerhalb der ersten Sekunden nach der Extrasystole) und der Turbulence Slope (Maß für die anschließende Wieder-Entschleunigung des Herzschlags) erwiesen sich als besonders geeignet für die Risikostratifizierung. Die optimalen "Cut-off"-Werte, die am besten "gefährdet" von "nicht gefährdet" trennen, wurden festgelegt.

Anschließend ging man daran, die neue Methode anhand der Daten von mehr als tausend Patienten aus zwei großen, in Europa bzw. den USA durchgeführten Untersuchungsreihen, der EMIAT-Studie (European Myocardial Infarction Amiodarone Trial) und der MPIP-Studie (Multicenter Post-Infarction Program), zu validieren.

Für jeden Patienten errechneten die TUM-Wissenschaftler Onset und Slope und legten anhand dieser Kriterien fest, welche Patienten besonders gefährdet sein müßten. Bei den von kooperierenden Forschern in London und New York vorgenommenen statistischen Analysen der Ergebnisse zeigte sich, daß die beiden neuen Parameter hochsignifikant mit der Prognose der Patienten korrelieren: Viele der als gefährdet eingestuften Patienten waren bereits verstorben.

Eine multivariate Analyse bestätigte, daß Turbulence Onset und Turbulence Slope tatsächlich neue, von anderen Parametern unabhängige Informationen liefern. Schon für sich allein sind sie jeweils aussagefähig, kombiniert aber übertreffen sie sogar den bisher stärksten Parameter, die Auswurfleistung des linken Herzkammer. "Wir haben hiermit den bei weitem aussagekräftigsten EKG-Parameter, was die Abschätzung des Risikos eines Herztodes angeht; und – besonders erfreulich – der Parameter Heart Rate Turbulence ist unabhängig vom Parameter Auswurfleistung", faßt Georg Schmidt die erfolgreiche Arbeit seiner Gruppe zusammen. Die Ergebnisse sind in The Lancet vom 24. April 1999 nachzulesen.

Über die pathophysiologischen Mechanismen, die zur Heart Rate Turbulence (oder ihrer Einschränkung bei gefährdeten Patienten) führen, können derzeit nur Spekulationen angestellt werden. Schmidt vermutet, daß es sich bei der HRT am ehesten um eine vom autonomen (unbewußten) Nervensystem vermittelte reflektorische Reaktion auf die Extrasystole handelt. Da die Extrasystole vorzeitig einfällt und die linke Herzkammer zum Zeitpunkt der Kontraktion noch nicht optimal gefüllt ist, fällt der Blutdruck kurzfristig ab. Diese flüchtige Änderung wird von bestimmten Druckrezeptoren in den großen Blutgefäßen registriert und vom Kreislaufzentrum im Gehirn beantwortet, unter anderem, so glauben die Wissenschaftler, in Form der beobachteten wellenförmigen Be- und nachfolgende Entschleunigung der Herzfrequenz. Bleibt diese Reaktion aus, kann die Ursache im autonomen Nervensystem, aber auch im Herz-Kreislaufsystem selbst liegen. Schmidt vermutet, "daß wir mit unserem Verfahren den Funktionszustand des autonomen Nervensystems messen – und das mit einem minimalen intrinsischen Trigger, einer einzelnen Extrasystole, die zu einer winzigen Störung im Blutdruckverhalten führt. Ganz offensichtlich reagieren Risikopatienten auf diese Störung nicht adäquat."

In jedem Fall wird die Heart Rate Turbulence neue Einblicke in Regulationsvorgänge der Herz-Kreislauf-Funktion eröffnen. Und noch eines macht das Beispiel dieser Arbeit deutlich: Die Wege zu wissenschaftlichen Erkenntnissen sind oft verschlungen und nur begrenzt planbar. "Wir haben über hochkomplexe Analysen letztlich ganz einfach meßbare Parameter gefunden, die in jedem EKG enthalten und leicht zu untersuchen sind", erklärt Schmidt. Er nimmt an, daß die Heart Rate Turbulence zu einem Standardverfahren der modernen Kardiologie wird.

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