Textilien: Physikalisches Modell erklärt Wölbungen von Strickwaren

Mit zwei spitzen Nadeln und einem Wollknäuel ausgestattet kann eine strickaffine Person den Faserstrang in fast alles verwandeln – von einem zarten Sommerschal bis zu einem dichten, warmen Pullover. Je nach Masche kann sich der Stoff in unterschiedliche Richtungen biegen. Gut zu beobachten ist das, wenn man den Saum der Kleidungsstücke abschneidet und sich in der Folge die Ränder kräuseln. Die Strickmaschen erzeugen nämlich eine Spannung, die ein zweidimensionales Gewebe in komplizierte dreidimensionale Formen zwingen kann. Sowohl industrielle Hersteller als auch Hobby-Stricker tun sich schwer, die endgültige Struktur eines Strickprojekts vorherzusagen. Ein mathematisches Modell, das nun in der Fachzeitschrift »PNAS« veröffentlicht wurde, begegnet diesen Schwierigkeiten mit physikalischen Werkzeugen.
»Physikerinnen und Physiker suchen immerzu nach Regeln, die das Verhalten von Materialien bestimmen«, erklärt Lauren Niu. Die Physikerin von der Drexel University in Philadelphia ist die Hauptautorin der Studie. Wenn die Regeln erst einmal festgelegt sind, so Niu, »dann passiert die Magie«: Plötzlich werden Vorhersagen möglich.
Niu hat gemeinsam mit ihrem Kollegen Randall Kamien von der University of Pennsylvania und Geneviève Dion, der Direktorin des Zentrums für Funktionsstoffe der Drexel University, ein mathematisches Modell entwickelt, das die komplizierten Formen von gestrickten Textilien anhand der verwendeten Maschenmuster zuverlässig vorhersagt.
Die Forschenden begannen damit, komplexe Muster zu stricken – mit Schnörkeln, schmalen Spitzen und säulenartigen Strukturen. Darin wollten sie einen Zusammenhang zwischen bestimmten Maschen und der daraus resultierenden Geometrie finden. Sie erkannten, dass sie nicht unbedingt die exakte Form und Dehnung jeder einzelnen Masche berücksichtigen mussten, um die endgültige Gestalt ihrer Werke vorherzusagen. Das würde auch zu viel Rechenleistung erfordern. Stattdessen brauchten sie nur zu wissen, wie jede Art von Masche das Gewebe krümmt.
Die perfekte Transportform
Das Modell bettet Informationen darüber, wie Maschen Spannung erzeugen, in eine komplizierte mathematische Konstruktion ein, die so genannte Föppl-von-Kármán-Gleichung. Diese beschreibt, wie sich dünne, flexible Materialien – von Zellgeweben bis U-Boot-Rümpfen – unter inneren und äußeren Kräften verhalten. »Dank der neuen Gleichung kann man mit Textildesigns experimentieren, bevor das Material tatsächlich gestrickt wird«, sagt Kamien. Er hofft, dass solche virtuellen Tests zu fortschrittlicheren, maßgeschneiderten Textilien für Objekte wie tragbare medizinische Geräte führen werden.
»Man kann das Potenzial des Strickens nicht ausschöpfen, wenn man nur mit Trial and Error arbeitet«Geneviève Dion, Forscherin
»Etwas zu haben, das so unglaublich flexibel, skalierbar und günstig ist wie das Stricken für tragbare Geräte, ist meiner Meinung nach sehr aufregend«, sagt die Maschinenbauingenieurin Cosima du Pasquier von der Stanford University, die nicht an der neuen Studie beteiligt war. Du Pasquier würde gerne sehen, wie gut die Vorhersagen des Modells mit den Eigenschaften realer Stoffe übereinstimmen und ob unterschiedliche Faktoren wie Stoffdicke und Garnart diesen Vergleich beeinflussen.
Auch ohne Verfeinerung, so die Studienautoren, bietet das Modell einen praktischen Ausgangspunkt für das Ausprobieren neuer Designs. »Man kann das Potenzial des Strickens nicht ausschöpfen, wenn man nur mit Trial and Error arbeitet«, sagt Dion.

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