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Organspende: Mein Herz gehört mir!

Jens Spahns doppelte Widerspruchslösung ist im Bundestag gescheitert. Sie sollte mehr Menschen dazu bewegen, ihre Organe nach dem Tod zu spenden. Doch was hält überhaupt so viele davon ab?
Kiste mit Spenderorgan

Achteinhalb mal fünf Zentimeter – viel größer ist ein Organspendeausweis nicht: Das gelborangene Kärtchen im Scheckkartenformat passt locker in die Brieftasche. Die Debatte, die mit ihm verbunden ist, ist dafür umso riesiger. Nicht nur bei der Frage, ob wir nach unserem Tod Herz, Lunge, Nieren oder Leber hergeben sollten, scheiden sich die Geister. Auch die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Organspende sind nach wie vor umstritten.

Seit dem 1. November 2012 gilt in Deutschland die »Entscheidungslösung«. Ihr zufolge sollen alle Bürgerinnen und Bürger zu Lebzeiten schriftlich festhalten, ob sie ihre Organe nach dem Tod spenden möchten. Die Krankenkassen stellen ihren Mitgliedern dazu regelmäßig einen Organspendeausweis zur Verfügung, verbunden mit der Aufforderung, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Liegt zum Zeitpunkt des Todes keine Entscheidung vor, müssen die Angehörigen diese fällen, wenn die Voraussetzungen für eine Organspende gegeben sind.

Nach dem Wunsch von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sollte sich das künftig eigentlich ändern: Er wollte die »doppelte Widerspruchslösung« einführen, die grundsätzlich erst einmal alle Bürgerinnen und Bürger zu Organspendern erklärt, wenn weder sie selbst zu Lebzeiten noch ihre Angehörigen nach dem Tod widersprechen. Am 16. Januar 2020 hat der Bundestag über einen entsprechenden Gesetzesentwurf abgestimmt – und ihn verworfen. Durchsetzen konnte sich hingegen ein konkurrierender Vorschlag der Grünen, der zumindest dazu führen soll, dass Menschen in Zukunft häufiger auf das Thema Organspende aufmerksam gemacht werden.

Diagnose »Hirntod«

Nicht jeder sterbende Mensch kommt als Organspender in Frage. Grundsätzlich ist die Organentnahme nur bei diagnostiziertem »Hirntod« sinnvoll. Damit bezeichnet man einen unumkehrbaren Hirnschaden mit komplettem Ausfall des Großhirns, Kleinhirns und Hirnstamms. Dazu kommt es in der Regel dann, wenn das Gehirn mehrere Minuten lang nicht mit Blut und Sauerstoff versorgt wird – etwa infolge von Hirnblutungen oder von Tumorwachstum. Die Funktion des Herz-Kreislauf-Systems kann in solchen Fällen oft noch künstlich aufrechterhalten werden. Das eröffnet die Möglichkeit, Organe zu entnehmen, bevor diese ebenfalls Schaden nehmen. Nach gängigen medizinischen Standards gilt der Hirntod als sicheres Zeichen für das Ableben eines Menschen. Bevor jedoch Organe entnommen werden dürfen, müssen laut Vorgaben der Bundesärztekammer zwei Ärzte unabhängig voneinander den Hirntod feststellen. Meist tritt allerdings der Herz-Kreislauf-Stillstand schon vor dem Hirntod ein, weshalb nur rund einer von 100 Patienten, die in deutschen Krankenhäusern sterben, als Organspender in Betracht kommt.

Die geringe Zahl der Spenderorgane ist in Deutschland bereits seit Jahren ein Problem. Den Zahlen der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) zufolge haben im Jahr 2019 932 Menschen nach dem Tod eines oder mehrere ihrer Organe gespendet. Die Zahl der Organspender war damit auf einem ähnlichen Niveau wie 2018. Insgesamt konnten in Deutschland – auch dank der Mithilfe des europäischen Netzwerks Eurotransplant (ET) – 3192 Organübertragungen an 3023 Patienten durchgeführt werden. Ihnen stehen allerdings mehr als 9000 Menschen gegenüber, die zum Ende des Jahres auf der Warteliste für ein neues Organ registriert waren.

Schuld daran ist nicht nur die geringe Spendebereitschaft. Denn für eine Organspende kommt längst nicht jeder Mensch, der stirbt, in Frage. Nur, wer die Diagnose »Hirntod« gestellt bekommt, eignet sich als Spender. Zudem stehen die Abläufe in deutschen Kliniken immer wieder in der Kritik: Auch sie sorgen vermutlich dafür, dass am Ende nicht so viele Organe transplantiert werden können, wie eigentlich vorhanden wären.

Dennoch empfinden immer noch viele Menschen Unbehagen bei dem Gedanken, nach dem Tod ihre Organe an andere Menschen weiterzugeben. Und noch mehr Menschen haben ihre Entscheidung für eine Organspende nicht explizit auf einem Spendeausweis festgehalten. Wie kommt das? Schließlich benötigt niemand nach dem Ableben noch ein Herz, eine Lunge oder eine Niere. Anderen können diese Organe wiederum das Leben retten.

Diese Frage beschäftigt auch Mediziner und Psychologen zunehmend. Einer von ihnen ist Joshua Newton von der Monash University in Australien. Er analysierte 24 Studien, die zwischen 1990 und 2008 veröffentlicht worden waren und bei denen Wissenschaftler sowohl Spender als auch Nichtspender zu deren Beweggründen befragt hatten.

Religiöse Gründe sprechen oft gegen eine Organspende

Demnach lehnten viele Menschen eine Organspende aus religiösen Motiven ab. Zahlreiche Gläubige gaben an, die Integrität ihres Körpers auch nach dem Tod erhalten zu wollen, um sicher ins nächste Leben zu gelangen. Manche waren der Meinung, die Entnahme von Körperteilen verstoße gegen die Bestattungsriten ihrer Religion, etwa wenn nur nahe Angehörige den toten Körper berühren dürfen. Oft empfanden die Teilnehmer eine Organspende als Handlung, die dem Willen Gottes oder einer anderen höheren Macht widerspricht.

Religiosität kann die Spendebereitschaft aber auch fördern, wie die Befragungen weiter ergaben. Denn einige Gläubige fühlten sich besonders der Nächstenliebe verpflichtet und waren deshalb eher zur Organentnahme nach dem Tod bereit. Eine große Rolle spielt zudem, wie Menschen ihrer eigenen Sterblichkeit gegenüberstehen: Laut Newton schrecken Menschen, die ihren eigenen Tod nur ungern thematisieren, auch beim Thema Organspende vor einer Entscheidung zurück. Umgekehrt kann die Auseinandersetzung mit dem Sterben die Bereitschaft erhöhen, anderen ein Körperteil zu überlassen. So mancher Befragte sah darin eine Möglichkeit, über den Tod hinaus »weiterzuleben«.

Menschen, die grundsätzlich den Drang verspüren, anderen zu helfen, sind häufig auch zum Weitergeben von Niere, Leber oder Lunge bereit

Großen Einfluss auf die Spendenbereitschaft hat – wenig überraschend – die Neigung zum Altruismus. Menschen, die grundsätzlich den Drang verspüren, anderen zu helfen, sind häufig auch zum Weitergeben von Niere, Leber oder Lunge bereit. Wer sich dagegen sozial oder kulturell isoliert fühlt, ist hier zurückhaltender. Ähnlich stark wirkt sich die persönliche Betroffenheit aus. Wer jemanden kennt, der auf ein Organ angewiesen ist, setzt sich naturgemäß eher mit dem Thema auseinander. Und gibt es nahe Angehörige, die ein Organ gespendet haben, entscheidet man sich selbst auch häufiger dazu, einen Spenderausweis mit sich zu führen.

Zweifel am Gesundheitswesen

Doch was spricht gegen die Organspende? Einer der wichtigsten Gründe, die immer wieder genannt werden, ist Misstrauen gegenüber Ärzten und dem Gesundheitssystem. Das ergab unter anderem eine Studie der Psychologin Melissa Hyde von der Queensland University of Technology (Australien). Hyde und ihr Team versuchten in Fragebögen herauszufinden, wie sich solche Vorbehalte auf die Spendebereitschaft auswirken. Dabei zeigte sich, dass rund die Hälfte der befragten Nichtspender und immerhin ein Fünftel der Spender kein Vertrauen in Ärzte und Krankenhäuser hatten.

Einige vermuteten etwa, dass Menschen, die der Organentnahme nach dem Tod zugestimmt haben, lebenserhaltende Maßnahmen nach schweren Unfällen vorenthalten würden. Andere fürchteten sich davor, dass ihnen die Organe entnommen werden könnten, bevor sie überhaupt tot sind. Hier traten große Wissenslücken über die medizinischen Hintergründe zu Tage. Auch die Sorge, gespendete Organe könnten an Empfänger gelangen, die diese »nicht verdient« hätten – etwa Patienten, die durch Alkohol oder Drogen ihre Leber zerstörten – war oft zu hören.

Auch unsere politische Einstellung und unsere Persönlichkeit stehen mit unserer Bereitschaft zur Organspende in Verbindung. So zögern Menschen, die konservative Parteien wählen, eher wenn es darum geht, Leber, Herz oder Nieren nach dem Tod herzugeben, wie Eugene Chan von der australischen Monash University 2019 berichtete. Hierbei scheinen vor allem die Sorge um die Integrität des eigenen Körpers und Ekel eine Rolle zu spielen – sowie die Befürchtung, durch das Ausfüllen eines Organspendeausweises das Schicksal geradezu herauszufordern. Erin Hill von der West Chester University entdeckte 2016, dass Menschen, die nicht besonders verträglich sind, seltener spenden als Personen, bei denen diese Charaktereigenschaft stärker ausgeprägt ist – wahrscheinlich, weil sie sich auch grundsätzlich weniger altruistisch verhalten.

Unregelmäßigkeiten und Verstöße bei der Vergabe von Organen senken die Spendebereitschaft vermutlich ebenfalls. 2012 sorgten etwa gleich mehrere Kliniken in Deutschland für Schlagzeilen, weil dort tätige Ärzte unter dem Verdacht standen, Daten manipuliert zu haben, um für ihre eigenen Patienten die Chance auf ein Spenderorgan zu erhöhen. Zeitgleich nahm die Zahl der gespendeten Organe nach Angaben der DSO zwischen 2010 und 2017 kontinuierlich ab. Den stärksten Rückgang verzeichnete die Stiftung in den Jahren 2012 und 2013.

Geld ist kein gutes Argument

Psychologen suchen deshalb schon seit Langem nach Wegen, die Bereitschaft zur Organspende zu fördern. Einen naheliegenden, wenn auch ethisch zweifelhaften Ansatz verfolgten die Psychologin Francesca Bosisio und ihre Kollegen von der Schweizer Université de Lausanne. Die Forscher fragten mehr als 4000 Menschen, ob diese sich als Organspender registrieren lassen würden, falls sie eine materielle Zuwendung dafür bekämen. Drei Arten von (fiktiven) Belohnungen standen zur Wahl: direkte Geldzahlungen, indirekte Zuwendungen wie Steuererlass oder niedrigere Beitragskosten für die Krankenversicherung und schließlich nichtfinanzielle Belohnungen wie zusätzliche Urlaubstage oder eine bevorzugte Behandlung, falls man selbst einmal ein Spenderorgan benötigen sollte.

Die meisten Befragten lehnten solche Entschädigungen ab, da sie die Organspende als selbstlosen Akt ansahen oder der Ansicht waren, dass man einem Organ keinen Geldwert zuordnen kann. Wer eine Belohnung annahm, bevorzugte indirekte und nichtfinanzielle Zuwendungen. Bosisio und ihre Kollegen folgerten aus diesen Ergebnissen, dass finanzielle Entschädigungen das Image der Organspende wohl eher beeinträchtigen würden.

Finanzielle Entschädigungen würden das Image der Organspende wohl eher beeinträchtigen

Eine subtilere Methode untersuchte der Kommunikationswissenschaftler Xiao Wang vom Rochester Institute of Technology (USA). Er befragte US-Studenten nach ihrer Einstellung zur Organspende, ihren persönlichen Normen und Werten – sowie nach den Schuldgefühlen, die sie wohl empfinden würden, wenn sie sich gegen eine Organspende entschieden. Der Hinweis auf ein mögliches schlechtes Gewissen blieb nicht folgenlos: Je stärkere Schuldgefühle die Teilnehmer erwarteten, desto eher waren sie zum Spenden bereit.

Allerdings bedeutet eine positive Einstellung zur Organspende nicht zwangsläufig, dass sich die Betreffenden auch einen Spenderausweis zulegen. Das zeigt etwa eine aktuelle Forsa-Umfrage im Auftrag der Techniker Krankenkasse. Darin gaben 84 Prozent der Befragten an, der Organspende grundsätzlich positiv gegenüber zu stehen. Jeweils acht Prozent betrachteten sie neutral oder kritisch. Dennoch hatten nur rund 40 Prozent der Teilnehmer einen Organspendeausweis, auf dem diese Entscheidung schriftlich vermerkt war. Um die Zahl der Spender zu erhöhen, reicht es also nicht, die Einstellung der Menschen zu verändern – man muss sie auch dazu bewegen, entsprechend zu handeln.

Ob die doppelte Widerspruchslösung von Jens Spahn in Deutschland der Schlüssel zum Erfolg gewesen wäre, bleibt nun auch weiterhin unklar. In Spanien, wo sie angewendet wird, werden immerhin so viele Transplantationen durchgeführt, wie in kaum einem anderen Land: Mehr als 5000 Organe von 2183 Spendern konnten dort laut Angaben des spanischen Gesundheitsministeriums im Jahr 2017 an schwerkranke Patienten vergeben werden.

Bei diesem Text handelt es sich um eine überarbeitete und aktualisierte Fassung des Artikels »Die Furcht zu geben«, der bereits im Dezember 2012 auf »Spektrum.de« erschienen ist.

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