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Stammesgeschichte: Neues zu Priapos ältesten Kindern

Der Zahn der Zeit hat an exlebendigem mittlerweile meist vernascht, was mehr als ein paar hundert Millionen Jahre alt ist. Einige spärliche Reste können aber immer noch ganze Lebensgeschichten erzählen, wenn sie mit den richtigen Methoden unter die neuesten Lupen genommen werden.
Früher Embryo von <i>Markuelia</i> - einem alten Priapuliden
Die Revolution ist ausgerufen, begeistert sich das Journal Nature, und das klingt ein wenig übertrieben. Eigentlich haben sich Phil Donoghue und seine Kollegen doch nur – nicht mal als erste – ein paar uralte, winzige, fitzelige und normalerweise rapide zerfallende biologische Proben aus China angeschaut, die Überreste längst ausgestorbener Ungeborener eines längst nicht jedem bekannten Seitenzweigs der Fadenwurmgroßsippe. Die Embryonalstadien verraten auf den zweiten Blick wohl, dass Gliederfüßer noch weiter zurückliegende Wurzeln haben als gedacht – toll. Aber Revolution?

Tatsächlich verbirgt sich die umwälzende Neuigkeit nicht im Untersuchungsobjekt selbst, sondern den neuen Mitteln, mit denen die Forscher der Universität Bristol und weiterer Einrichtungen ihm auf die Pelle gerückt sind. Bei "ihm" handelt es sich nichts desto trotz durchaus um ein bemerkenswertes Relikt.

Entdeckt haben es und seinesgleichen chinesische Wissenschaftler vor gut zehn Jahren: fossilisierte Embryos aus dem Kambrium vor mehr als 500 Millionen Jahren. Aus dieser Zeit Weichteilspuren zu entdecken – und frühe Eizell-Teilungsstadien enthalten ja gar nichts Hartes – ist ein so seltener Glücksfall, dass er lange für unmöglich gehalten wurde.

Priapuliden-Embryo aus dem Kambrium | Teilungsstadien eines Embyos, der im unterem Kambrium gelebt hat und in Süd-China entdeckt wurde. Die biologischen Details werden an fossilierten Artefakten deutlich.
Die fraglichen Uralt-Embryonalstadien hatten sich aber per Zufall über eine halbe Milliarde Jahre lang konserviert: In feinste Zwischenräume haben sich Kalziumphosphat und andere Mineralschichten abgelagert und haltbare überkrustete Gebilde geformt, die das Aussehen der weichen Ursubstanz der Nachwelt detailgetreu überliefern.

Leider ist ein einigermaßen genauer Blick nur auf die Oberfläche der Fossilien möglich: Wollten Forscher das Innere der längst vor Jahrmillionen ungeboren verendeten Embryos analysieren, mussten sie sie zugleich schichtweise absäbeln und zerstören, um doch nur zweidimensionale Einblicke zu erhaschen.

Tomografische Untersuchungen halfen, waren aber nicht sehr genau. Sie ergaben bislang vage Hinweise etwa auf eine enge Verwandtschaft der alten Würmer und der heutigen Gliederfüßer (zu denen Insekten und Krebse gehören).

Embyonalstadien von Markuelia | Embryos des Priapuliden Markuelia aus dem Kambrium – gefunden wurden sie in Lagerstätten in China und Sibirien. Die Synchrotron-Analysen erlaubten eine genaue Analyse des Spinalapaarates der Tiere (oben, farbig). Wegen der pentaradialen Anordnung muss das Exemplar zu der Gruppe der Scalidophora gezählt werden – ist also mit Kinoryncha und Loricifera näher verwandt als etwa mit den Fadenwürmern.
Donoghues Team reiste auf der Suche nach genaueren Instrumenten für Kambrium-Embryoforensik mit einigen Fossilexemplaren ins eidgenössische Villingen – wo die "Synchrotron Lichtquelle der Schweiz" (SLS) seit nun mehr als fünf Jahren ihren Betrieb aufgenommen hat. Der riesige Elektronenbeschleuniger produziert Synchrotron-Strahlung, also scharf gebündelte elektromagnetische Wellen von UV-Licht bis zu harter Röntgenstrahlung, und ermöglicht damit Anwendungen von der Analyse chemischer Moleküle bis zur Aufklärung magnetischer Oberflächeneigenschaften – oder der Strukturuntersuchung biologischer Proben mit einer hoher Auflösung. Letzteres interessierte die Embryofossilienforscher.

Die Ergebnisse ihrer SRXTM-(synchrotron-radiation X-ray tomography)-Analyse der fossilen Embryos übertraf alle Erwartungen: Die Strahlenbündel erlaubten eine genaue Rekonstruktion submillimetergroßer Strukturen auch des Inneren der alten Wurmorganismen. Klar wurde dadurch zunächst ihre genaue Verwandtschaft: Sie gehören nicht zu den nahen Verwandten der Fadenwürmer, sondern sind uralte Ahnen der Priapuliden.

Diese – aus optisch nachvollziehbaren Gründen benannt nach dem Alleinstellungsmerkmal von Priapos, dem oft ithyphallisch dargestellten Gott der Fruchtbarkeit aus der griechischen Mythologie – sind kleine Meeresbodenbewohner mit kürzerem, ein- und ausstülpbaren Vorderkörper und längerem walzenförmigen Rumpf.

Embryo von Pseudooides prima | Auch erst mit Synchrotron-Untersuchungen erkannten Forscher, dass der Priapulide Pseudooides prima aus dem unteren Kambrium auf einer großen Dotterblase aufsitzt und sich dort entwickelt. Diese Art der frühen Embryonalentwicklung stellt eine enge Verwandtschaft mit frühen Gliedertiervorfahren im Kambrium sehr in Frage.
In den per Synchrotron untersuchten Teilungsstadien waren zum Beispiel nicht, wie zuvor eben wegen der paar oberflächlichen Eindrücke ungenauerern Untersuchungen vermutet, pyramidal gestapelte Eidotterlager zu erkennen – diese hätte die Priapuliden und damit ihre Wurmgroßgruppe zu nahen Verwandten der heutigen Gliedertiere gestempelt. Stattdessen waren wohl schon vor 500 Millionen Jahren große Linien der heutigen Tierwelt recht getrennt angelegt.

Synchrotron-Untersuchungen, so die Wissenschaftler von ihrem Erfolg begeistert, werden bald die gleiche umwälzende wissenschaftliche Bedeutung erlangen wie sie vor Jahrzehnten Elektronenmikroskope für die Lichtmikroskopie hatten. An winzigen uralten Priapuliden-Embryos seien "anatomische Aspekte enthüllt worden, die anders niemals zu Tage getreten wären", schwärmt Donoghue. Andere Untersuchungsobjekte dürften ebenso von den genaueren Analysen profitieren – nicht nur Paläontologen haben also nun offenbar ein schönes neues Werkzeug der Revolution.

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