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Neuro-Covid: »Wird da etwas im Gehirn beschleunigt, das wir von Alzheimer kennen?«

Long Covid geht meistens mit neurologischen Problemen einher – man spricht von Neuro-Covid. Ein EU-gefördertes Projekt will herausfinden: Was sind die Ursachen, wie können Therapien aussehen? Joachim Schultze erklärt im Interview, welche Erkenntnisse ihn überrascht haben und was ihn am Umgang der Politik mit der Erkrankung ärgert.
Eine 3D-Darstellung eines Gehirns, das aus zahlreichen kleinen Würfeln besteht, die sich in alle Richtungen auflösen. Der Hintergrund ist einfarbig grün, was den Fokus auf die detaillierte Struktur des Gehirns lenkt. Die Würfel symbolisieren möglicherweise die Zerlegung oder Analyse von Gehirnstrukturen.
Bei fast allen Long-Covid-Patienten ist auch das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen. Bei einigen von ihnen findet man übermäßige Amyloid-Ablagerungen, die man auch bei Alzheimer sieht. Aktuell ist jedoch unklar, ob das Virus bei ihnen als Verursacher oder Brandbeschleuniger fungiert.

Bei Long Covid treten häufig auch neurologische Symptome auf, darunter Fatigue, Gedächtnisstörungen und Brain Fog. Sie werden unter dem Begriff Neuro-Covid zusammengefasst. Früh in der Pandemie hieß es, das Virus dringe ins Gehirn ein. Heute weiß man, dass vermutlich andere Mechanismen hinter den Beschwerden stecken. Die Wechselwirkungen zwischen Nervengewebe und Immunsystem aufzuschlüsseln und zielgerichtete Therapien zu entwickeln, ist seit 2022 das Ziel von NeuroCOV. Das Projekt ist EU-finanziert und wird vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Bonn geleitet. Joachim Schultze koordiniert das Projekt und berichtet im Interview über Herausforderungen und überraschende Erkenntnisse.

Herr Schultze,Sie sind Koordinator von NeuroCOV. Was ist das Besondere an diesem EU-Projekt?

Wir spannen einen außergewöhnlich großen Bogen: von der molekularen Ebene bis hin zu Informationen aus nationalen Registerstudien. Hierbei handelt es sich um medizinische Datensammlungen zu Krankheitsverläufen. Das ist das erste Mal, dass wir solche Gesundheitsdaten mit klinischen Experimenten verbinden, um ein klareres Bild vom gesamten Spektrum der Erkrankung zu gewinnen. Da die Länder unterschiedlich schwer von der Pandemie betroffen waren, arbeiten wir zusammen mit Expertinnen und Experten aus Israel, Schweden, Finnland, Italien, Belgien und den Niederlanden – und decken dabei die unterschiedlichsten Fachdisziplinen ab.

Joachim Schultze | Joachim Schultze ist Programmsprecher für Neurodegenerative Erkrankungen der Helmholtz-Gemeinschaft, Direktor für Systemmedizin am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) und hat eine Professur an der Universität Bonn. Er koordiniert das EU-Projekt NeuroCOV.

Ein sehr ambitionierter Plan!

Allerdings. Aber wir haben schon vorher intensiv und international erfolgreich an akutem Covid-19 geforscht und hatten daher bereits eine Gruppe von Fachleuten zusammen. Uns fiel früh in der Pandemie auf: Hier gibt es Betroffene, die sich nicht erholen – vor allem junge Frauen, die die Infektion eigentlich mild durchlaufen haben. Monate später tauchten bei ihnen dann neurologische Symptome auf und haben ihr Leben jeweils komplett verändert. Wir haben gemeinsam beschlossen: Das wollen wir genauer untersuchen. Wir wollen das auch öffentlich sichtbar machen.

Ein solches Projekt bringt doch sicher viele Herausforderungen mit sich.

Die gibt es natürlich – angefangen bei nationalen Unterschieden im Gesundheitssystem und zwischen neurologischen Tests bis hin zu sprachlichen Barrieren. Letztendlich haben wir es geschafft, dass alle Beteiligten regelmäßig zusammenkommen. Und das ist nicht selbstverständlich! Normalerweise besuchen Wissenschaftler aus verschiedenen Fachbereichen nicht dieselben Kongresse. Wir haben mit NeuroCOV Forschende aus Europa vereint: Neuropathologen, Immunologen, Informatiker. Das sind Disziplinen, die sonst kaum miteinander reden.

Und diese Strukturen bleiben dauerhaft erhalten?

Das wäre sehr wünschenswert. Das Projekt ist für fünf Jahre finanziert. Aber wir brauchen das Expertennetz auch für die Zeit danach. Das müssen wir den Ländern und der EU klarmachen. Das Problem zu Beginn der Pandemie war, dass nicht alle Forschenden bereit waren, zu kooperieren. Viele kochen lieber ihr eigenes Süppchen. Der medizinische Fortschritt darf jedoch nicht davon abhängen, dass einzelne Leute sich auf eigene Faust organisieren. Es müssen die entsprechenden Strukturen geschaffen werden. Wie effektiv so was sein kann, sieht man am Beispiel der Onkologie – hier sind weltweite Netzwerke entstanden. Das wäre auch für Long Covid sehr wichtig. Denn Schwerstbetroffene verschwinden sonst einfach und werden vergessen. Sie haben keine Stimme.

Sie wollen mit NeuroCOV verstehen, wie das Coronavirus Schäden im Gehirn verursacht – und basierend darauf Therapien entwickeln. Von welchen neurologischen Problemen sprechen wir denn überhaupt?

Das häufigste Symptom ist Fatigue, eine extreme chronische Erschöpfung. Oft wird auch die Kognition schlechter, Aufmerksamkeit und Gedächtnis leiden. Man spricht in dem Zusammenhang von Brain Fog. Dann wird es schon heterogener. Bei manchen gehen Geschmacks- und Geruchssinn verloren. Auch das Schmerzempfinden ändert sich mitunter. Hinzu kommen Benommenheit und Schwindel. Es ist tatsächlich schwierig, Long-Covid-Patienten zu finden, die keine neurologischen Probleme haben. Allein von Fatigue sind 80 bis 90 Prozent betroffen, je nach Land. Das Gehirn ist also in fast allen Fällen beteiligt.

Themenwoche: »Long Covid und ME/CFS«

Für die meisten von uns ist die Covid-19-Pandemie vorbei – nicht so für die vielen Menschen, die mit den Folgen von Long Covid oder ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) leben müssen. Unsere Themenwoche soll sie sichtbar machen: Schwerstbetroffene, darunter Kinder und Jugendliche. Was weiß man über die Ursachen von ME/CFS? Welche Schäden verursacht das Coronavirus im Gehirn? Welche Rolle spielen reaktivierte Erreger wie das Epstein-Barr-Virus? Und vor allem: Was macht Hoffnung?

Alltag mit einer unverstandenen Krankheit: Über den Versuch, mit ME/CFS zu leben
ME/CFS: »Meine Hoffnung ist groß, dass wir bald wirksame Therapien haben«
Long Covid im Jugendalter: Die Kindheit muss warten
Long Covid: Reaktivierte Viren – die versteckte Gefahr
Neuro-Covid: »Wird da etwas im Gehirn beschleunigt, das wir von Alzheimer kennen?«

Alle Inhalte zur Themenwoche »Long Covid & ME/CFS: Leben auf Sparflamme« finden Sie auf unserer Übersichtsseite.

Die Symptome ähneln deutlich denen, die auch bei ME/CFS auftreten.

Ja, die Überlappung zwischen Long Covid und ME/CFS ist sehr groß. Ich denke, wir werden irgendwann dazu übergehen, ME/CFS als Oberbegriff zu verwenden – und eine Form davon ist dann Long Covid. Auch andere Viren lösen ME/CFS aus, nämlich das Epstein-Barr-Virus und Influenza. Möglicherweise sind auch nichtvirale Ursachen involviert. Wir sagen aktuell bloß Long Covid beziehungsweise Post-Covid, weil wir die Symptome mit der Covid-19-Pandemie in Verbindung bringen können. Im Grunde ist es aber alles ME/CFS, nur mit unterschiedlichen Subtypen.

Mitunter wird in Bezug auf die neurologischen Langzeitschäden von einer zweiten Pandemie gesprochen. Wie viele Menschen betrifft das tatsächlich?

Das ist schwierig zu beantworten. Erhebungen, die sehr hohe Zahlen schätzen, um die zehn Prozent der Bevölkerung, weisen oft eine Verzerrung auf: Es sind vor allem solche Studien, für die sich die Leute aktiv melden können. Und das tun natürlich vor allem Betroffene, die sich tendenziell eh viel mit dem Thema beschäftigen. Auf der anderen Seite stehen die klinischen Registerstudien. Diese wiederum tendieren dazu, Fälle zu übersehen. So werden viele Menschen, die eigentlich krank sind, nicht eingeschlossen, weil sie nicht mit dem Gesundheitssystem in Kontakt kommen. In solchen Schätzungen liegen die Zahlen eher bei einem bis zwei Prozent. Vermutlich liegen die realen Werte irgendwo dazwischen, ich tippe so bei zwei bis fünf Prozent. Außerdem schwankt der Anteil je nach sozialer Schicht und Altersklasse. Aber insgesamt nehmen die Zahlen schon ab.

»Im Grunde ist es alles ME/CFS, nur mit unterschiedlichen Subtypen«

Wie erklären Sie sich den Rückgang?

Ich denke nicht, dass die Menschen geheilt sind, aber sie kommen aus der symptomatischen Phase heraus. Ich spreche dabei ausdrücklich nicht von den ME/CFS-Fällen, bei denen Menschen komplett aus dem Leben gerissen werden. Die sind schwerstkrank. Da verändert sich gar nichts, es wird eher schlechter und immer mehr Organe sind betroffen. Mit der Ernährung wird es auch zunehmend schwierig. Es entsteht bei vielen eine Negativspirale. Das sind fürchterliche Schicksale. Und wir wissen noch nicht, ob die Genesung bei ihnen einfach länger dauert oder ob wir aktiv eingreifen müssen.

Bei weniger schwer Betroffenen sieht man allerdings einen Rückgang der neurologischen Probleme. Die klinischen Symptome treten üblicherweise in Erscheinung, wenn eine bestimmte Schwelle überschritten ist. Wann das passiert, hängt unter anderem vom Lebensstil sowie von genetischen und Umweltfaktoren ab. Wenn die Bedingungen sich dann wieder verbessern, gehen die Symptome als Erstes zurück – die Ursache besteht aber weiter. Bei der nächsten Infektion sind die vermeintlich Genesenen dann vermutlich die Ersten, die wieder betroffen sind.

Kann der Rückgang der Zahlen auch daran liegen, dass sich das Virus und die Immunität in der Gesellschaft verändert haben?

Ja, das kommt auf jeden Fall hinzu. Das alles zu quantifizieren, ist schwierig und hängt außerdem stark von der Umgebung und dem Zeitpunkt der neurologischen Testungen ab. Die Schwankungen sind erheblich, entsprechend vorsichtig müssen wir interpretieren.

Welche Veränderungen findet man konkret im Gehirn von Menschen mit Neuro-Covid?

Zu Beginn der Pandemie haben wir gesehen, dass das Hirnvolumen abnimmt – da gab es eine große Studie aus England. Dazu existieren aber noch keine Langzeitdaten. Man findet Entzündungen der Hirngefäße, thrombotische Geschehen und entzündliche Parameter in der Hirnflüssigkeit. Das trifft aber nicht auf alle Patienten zu. Manche Experten meinen auch, das Virus im Gehirn Verstorbener gefunden zu haben. Die Beobachtungen beziehen sich jedoch auf nur wenige Gehirne, das ist nicht repräsentativ. Vielleicht hatten manche der Spender einfach eine sehr hohe Viruslast und ein paar der Erreger sind zufällig im zentralen Nervensystem gelandet. Daraus lassen sich noch keine allgemeinen Rückschlüsse ziehen.

Einige Long-Covid-Patienten haben übermäßige Amyloid-Ablagerungen im Gehirn, Proteinansammlungen, die man auch bei Alzheimer sieht. Es ist jedoch unklar, ob sie schon vorher da waren und sich bloß durch die Infektion vermehrt haben; ob also bereits ein neurodegenerativer Prozess im Gang war, bevor es zur Infektion kam. Dann wäre das Virus nicht der Verursacher, sondern der Brandbeschleuniger. Daher gilt es jetzt herauszufinden: Wird da im Gehirn etwas beschleunigt, das wir von Alzheimer kennen?

Um die Mechanismen von Neuro-Covid aufzuschlüsseln, setzen Sie modernste Techniken ein. Welche sind das?

Zuerst suchen wir nach Mustern in der Population: Welche klinischen Subtypen finden wir in den Gesundheitsdaten? Dazu braucht es hochdimensionale Statistik. Wir haben zudem Blut- und Liquorproben der Patienten gesammelt. Per Einzelzellgenomik gehen wir im nächsten Schritt auf die Molekularebene und messen pro Zelle mehrere Tausend Parameter. Uns interessiert, welche Immunzellen verändert und welche Immunsignalwege gestört sind. Denn das wären potenzielle Ansatzpunkte für Therapien. Wir arbeiten außerdem mit Organoiden, das sind dreidimensionale Miniaturmodelle von Organen, und mit Stammzellen.

Wofür setzen Sie diese ein?

Man kann heute mit modernsten Methoden aus Blutzellen pluripotente Stammzellen herstellen und hieraus wiederum Nervenzellen. An diesen prüfen wir, ob sie bei Long-Covid-Patienten besonders anfällig sind. Also, welchen Einfluss das Virus auf diese Nervenzellen hat und welche Rolle dabei Immunfaktoren spielen. Wie reagieren die Neurone auf Stress? Fieber, etwa durch eine Virusinfektion, ist beispielsweise purer Stress für den Körper. Es strömen dann eine Menge an Immunfaktoren auf die Nervenzellen ein. Was bei Fieber im Gehirn geschieht, haben wir uns auch in echten Organen angeschaut, die von Spendern aus den Niederlanden stammten. Bei vielen von ihnen haben wir dann dieselben Proteinaggregate gefunden, die man auch bei Alzheimer sieht.

Welche Erkenntnisse konnten Sie durch das NeuroCOV-Projekt bereits gewinnen?

Was wir sicher festgestellt haben: Die Heterogenität innerhalb der Patienten ist noch viel größer als erwartet. Wir haben die Einzelzellgenomik bei mehr als 250 Betroffenen durchgeführt, das ist eine sehr hohe Zahl. Trotzdem sehen wir noch immer nicht genau, wie viele Subgruppen es gibt. Obwohl alle mit Sars-CoV-2 infiziert waren, haben sie unglaublich viele unterschiedliche klinische Erscheinungsbilder. Man muss Neuro-Covid daher als Spektrum bezeichnen. Das ist nicht eine Erkrankung, es sind viele. Die Einteilung in Subtypen ist eine wichtige Voraussetzung für eine gezielte Therapie.

»Im Vergleich zu jenen, die nach der Infektion wieder gesund werden, haben Menschen mit Neuro-Covid ein deutlich verändertes Immunsystem«

Welche Mechanismen konnten Sie denn schon sicher ausmachen?

Eine Rolle spielen wahrscheinlich Gefäßschäden. Das Gehirn bekommt dann nicht mehr genug Sauerstoff. Im Vergleich zu jenen, die nach der Infektion wieder gesund werden, haben Menschen mit Neuro-Covid außerdem ein deutlich verändertes Immunsystem. Das betrifft etwa die Interferone, also Proteine, die verschiedene Immunzellen als Reaktion auf Viren und andere Erreger freisetzen. Werden sie dauerhaft ausgeschüttet, gibt es Kollateralschäden. Trotzdem können wir nicht sagen: Das sind die Verursacher der neurologischen Symptome. Wir wissen einfach zu wenig darüber, ob ein enthemmtes Immunsystem direkte Schäden im Gehirn anrichtet. Zudem unterscheiden sich die Patienten hinsichtlich der veränderten Immunzellen und deregulierten Moleküle. Je nach Kombination führt das zu verschiedenen Verläufen. Hinzu kommt, dass Menschen unterschiedlich resilient sind. Diese Heterogenität zu beleuchten, das ist unsere Aufgabe.

Kein leichtes Unterfangen! Wenn man bedenkt, dass verschiedene Nervenzellen auch noch unterschiedlich empfänglich für Signale des Immunsystems sind.

Ja, die Matrix an Möglichkeiten ist einfach riesig. Hier gilt es, intelligent zu priorisieren. Daher machen wir im Vorfeld Ausschlussexperimente. Dabei unterstützt uns eine Gruppe, die KI-Simulationen einsetzt. Die Kolleginnen und Kollegen spielen alle möglichen Interaktionen zwischen Immunsystem und Zellen im Computer durch und helfen uns, zu sortieren. Das heißt, wir fangen mit dem Modell an, sehen, was am plausibelsten ist, und entscheiden danach, welches Experiment wir machen.

Kann es überhaupt die eine Therapie gegen Neuro-Covid geben, die allen Betroffenen hilft?

Nein, dazu sind die Fälle zu unterschiedlich. Eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung von Medikamenten sind Biomarker, die uns erlauben, die Patienten in klinische Subgruppen einzuteilen. Daran arbeiten wir sehr konkret. Von individuellen Therapien sind wir jedoch noch weit entfernt.

Angenommen, Sie haben in Zukunft alle Biomarker identifiziert – wie läuft das dann praktisch ab?

Wir wollen Biomarker entwickeln, die uns etwas über den individuellen Verlauf der Erkrankung sagen. Die Marker informieren im Idealfall auch über pharmazeutische Angriffspunkte – und zwar gezielter als bisher. Nehmen wir an, Sie haben Long Covid und ein entgleistes Immunsystem. Und wir stellen fest, dass Ihre Blutmarker jenen ähneln, die man auch bei Krankheiten findet, die mit Corticosteroiden behandelt werden. Dann können Sie an den entsprechenden Medikamentenstudien teilnehmen.

Was für Präparate wären noch denkbar?

Wenn wir zum Beispiel wissen, dass die Symptome einer Person auf Autoantikörper zurückgehen, also körpereigene Moleküle, die das eigene Gewebe angreifen, dann würde man versuchen, jene Zellen zu vernichten, die diese schädlichen Moleküle herstellen. Eine weitere Möglichkeit wäre die sogenannte Immunmodulation, das sind Verfahren, die die überschießende Immunantwort auf ein normales Maß drosseln. Hier müssen wir allerdings noch viel lernen.

Haben Sie schon Angebote von Pharmafirmen?

Noch nicht, denn erfolgreiche Medikamente zeichnen sich dadurch aus, dass sie ein klares Ziel haben – etwa Antikörper gegen Tumoren. Checkpoint-Inhibitoren bei Krebs haben ebenfalls einen einfachen An-aus-Mechanismus: Da ist ein Schalter, den kann man blockieren, dann kann das Immunsystem arbeiten. Bei Long Covid ist das komplizierter. Hier sind sehr viele Dinge in die falsche Richtung gelaufen – und wir wissen bei den meisten noch nicht, wie wir sie wieder in richtige Bahnen lenken.

Also ist es noch ein langer Weg, bis erste Medikamente zugelassen werden?

Carmen Scheibenbogen von der Berliner Charité hat die nationale Studienplattform NKSG eingerichtet. In diesem Rahmen werden bereits Wirkstoffe gegen Long Covid in klinischen Studien getestet. Wir steuern hierfür molekulare Messungen bei. Zwei Jahre lang haben wir Patienten rekrutiert und zelluläre Befunde erhoben. Nun gilt es, daraus Hypothesen zu generieren. Das Einzige, was das Ganze noch beschleunigen könnte, wären mehr Finanzmittel.

»Dass wir so viele Mittel in Bereiche stecken, die bei Weitem nicht eine solche gesellschaftliche Bedeutung haben – das ist untragbar«

NeuroCOV wurde mit acht Millionen Euro von der EU gefördert.

Am Anfang der Pandemie hieß es, dass die Ausschreibung über 16 Millionen geht. Dann waren es aber nur acht. Den Plan haben wir trotzdem so belassen. Um das Pensum zu schaffen, muss der Rest des benötigten Budgets von den beteiligten Instituten zusammengekratzt werden – und wir arbeiten doppelt. Es ist nicht vergleichbar mit jenen Geldern, die in andere Bereiche der Biomedizin gesteckt werden. Wir haben beispielsweise nur eine einzige Neuropsychologin bewilligt bekommen, die allein alle Probanden stundenlang testen muss. Beschleunigung kommt nur durch Finanzierung, die Expertise haben wir.

Long Covid dürfte einen großen ökonomischen Schaden anrichten – auch wenn der in Anbetracht des individuellen Leids nebensächlich erscheint.

Beide Folgen sind gravierend. Deshalb müsste für Forschung viel mehr Geld zur Verfügung gestellt werden. Das sage ich ganz deutlich auch immer wieder gegenüber der Politik: Es ist untragbar, dass wir so viele Mittel in Bereiche stecken, die bei Weitem nicht eine solche gesellschaftliche Bedeutung haben. Das schmerzt inzwischen fast.

Wie könnte man hier ein Umdenken anstoßen?

Da ist zum einen die Politik gefragt. Es braucht mehr Förderung von Forschung, sodass die Schwerkranken wieder am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Es geht aber nicht immer nur um einen dicken Scheck. Auch gesellschaftliche Akteure spielen eine wichtige Rolle. Wir brauchen mehr Leute, die sich engagieren. Wir müssen den Betroffenen eine Stimme geben – das ist unser aller Aufgabe und auch unsere Verantwortung.

Wichtige Begriffe rund um Long Covid

Fatigue: Darunter versteht man eine massive psychische und physische Kraft- und Energielosigkeit. Die Betroffenen sind nicht mehr in der Lage, Aktivitäten des täglichen Lebens nachzugehen. Fatigue tritt auch bei anderen chronischen Erkrankungen auf, etwa bei multipler Sklerose oder Krebs. Anders als hier verbessert sich das Symptom bei ME/CFS nicht durch Sport oder Schlaf.

Long Covid: Der Begriff bezeichnet gesundheitliche Beschwerden, die über die akute Krankheitsphase hinaus andauern – also länger als vier Wochen nach der Sars-CoV-2-Infektion. Long Covid ist als Oberbegriff für verschiedene Verlaufsformen gängig, darunter auch Post-Covid oder ME/CFS.

Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS): Meist durch eine Virusinfektion wie Covid-19 ausgelöste schwere Multisystemerkrankung. Typisch sind eine Verschlechterung der Symptome nach Belastung (PEM) und eine massive Energielosigkeit (Fatigue). Betroffene leiden unter anderem häufig unter Konzentrations- und Gedächtnisproblemen, Schlafstörungen, Herz-Kreislauf-Beschwerden, Schmerzen in verschiedenen Bereichen des Körpers und einer Überempfindlichkeit, etwa auf Licht oder Geräusche.

Pacing: Eine Form des Krankheitsmanagements, bei der Patienten lernen, die zur Verfügung stehende Energie zu nutzen, ohne die eigenen Belastungsgrenzen zu überschreiten. Ziel ist es, eine PEM zu vermeiden.

Post-Covid: Nach Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) handelt es sich um gesundheitliche Beschwerden, die mindestens zwölf Wochen nach einer Sars-CoV-2-Infektion fortbestehen oder erneut auftreten und nicht anderweitig erklärbar sind. Der Begriff dient der medizinischen Abgrenzung innerhalb des Long-Covid-Spektrums und beschreibt insbesondere längerfristige oder chronische Verläufe.

Post-exertionelle Malaise (PEM): Das Kernsymptom von ME/CFS ist eine verzögerte Verschlechterung des Zustands oder das Auftreten neuer Symptome nach körperlicher oder geistiger Anstrengung. Betroffene bezeichnen das oft als Crash. Auslöser können bereits Sitzen, Stehen oder äußere Reize wie Licht sein. Meist tritt eine Zustandsverschlechterung 12 bis 48 Stunden nach der Überlastung auf und hält dann Tage bis Wochen an; in schweren Fällen ist sie dauerhaft.

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  • Quellen

Cararro, C. et al., Frontiers in Molecular Neuroscience 10.3389/fnmol.2024.1414886, 2024

Douaud, G. et al., Nature 10.1038/s41586–022–04569–5, 2022

Duff, E.P. et al., Nature Medicine 10.1038/s41591–024–03426–4, 2025

Seibert, S. et al., Scientific Reports 10.1038/s41598–025–09128–2, 2025

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