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Neurodiversität: Der rätselhafte Anstieg von Autismus und ADHS

Die Zahl der Autismus- und ADHS-Diagnosen steigt weltweit. Fachleute glauben, dass mehr dahintersteckt als das wachsende Bewusstsein für Neurodiversität.
Eine abstrakte Darstellung eines menschlichen Gehirns, bestehend aus geometrischen Formen in leuchtenden Farben wie Blau, Grün und Violett, auf schwarzem Hintergrund. Die Farben verlaufen ineinander und erzeugen einen holografischen Effekt, der die Komplexität und Vernetzung des Gehirns symbolisiert. Unten sind Blitze in den gleichen Farben zu sehen, die auf neuronale Aktivität hinweisen.
Das Gehirn von Menschen mit ADHS und Autismus verarbeitet Informationen anders. Damit gehen im Alltag Schwächen, aber auch Stärken einher.

Dieser Artikel wurde erstmals am 18.07.2025 veröffentlicht.

Michael Daddio hat einen chaotischen Lebenslauf. Er hat oft den Wohnort und den Job gewechselt, war Koch und Fahrradkurier, hatte verschiedene IT-Jobs, hat eine Kombucha-Brauerei gestartet, gibt Weinseminare und entwickelt innovative Lebensmittel. Daddio verfolgt stets viele Ideen auf einmal, führt sie aber oft nicht zu Ende. »Dinge zu starten ist, was mir Energie gibt«, sagt er.

Mit acht Jahren erhielt der gebürtige US-Amerikaner seine Diagnose: Aufmerksamkeitsdefizits-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Damals eckte er in der Schule an, weil er seine Aufgaben nicht erledigte, obwohl er klug genug dafür war. Sieben Jahre lang nahm er, wie viele junge Menschen in den USA, das Amphetaminpräparat Adderall. Heute lebt der 32-Jährige in Deutschland, seine ADHS begleitet ihn weiterhin.

Daddio wirkt nicht psychisch »gestört«. Er ist intelligent, witzig, kreativ und einfühlsam. Und doch leidet er unter seiner Andersartigkeit. Denn vieles, was die Arbeitswelt von Menschen mit Hochschulabschluss fordert, fällt ihm schwer: Dinge organisieren, strukturiert arbeiten, stillsitzen, stundenlang konzentriert auf einen Bildschirm starren. Diese Eigenschaften teilt Daddio mit vielen Menschen. Die Zahl der ADHS-Diagnosen steigt seit einigen Jahrzehnten weltweit. Auch die Autismus-Spektrum-Störung wird immer häufiger diagnostiziert. Warum das so ist, dazu kursieren viele Erklärungsansätze. Einige davon sind plausibel, aber schwer zu überprüfen. Andere sind Fachleuten zufolge schlicht falsch.

Unter den psychischen Störungen haben ADHS und Autismus eine Sonderstellung. Sie zählen zu den neurologischen Entwicklungsstörungen und sind damit chronisch – anders als etwa Depressionen oder Psychosen, die meist in Schüben kommen. Das Gehirn der betroffenen Menschen verarbeitet Informationen anders, und damit gehen im Alltag Schwächen, aber auch Stärken einher.

Menschen mit Autismus oder autistische Menschen – wie heißt es richtig?

Die beiden großen internationalen Diagnosemanuale (DSM und ICD) zählen alle autistischen Störungen zu den Autismus-Spektrum-Störungen. Der Kürze wegen ist aber oft nur von Autismus die Rede. Doch auch der offizielle Begriff ist umstritten, weil er Autismus als Störung definiert. Viele Betroffene argumentieren, Autismus sei eine Variante in der Funktionsweise des Gehirns, und bezeichnen sich als neurodivers. Manche bevorzugen dagegen Autist oder Autistin, andere wiederum Mensch mit Autismus-Spektrum-Störung. Die Vorlieben können sich auch von Land zu Land unterscheiden. Der Selbsthilfeverband Autismus Deutschland e.V. verwendet viele verschiedene Begriffe, zum Beispiel Autisten, Autist:innen, Menschen mit Autismus und autistische Kinder. Dem schließen wir uns an: Spektrum der Wissenschaft wechselt mehrere Begriffe ab, wie auch beim Gendern. So schreiben wir der Kürze halber in der Überschrift häufig nur Autisten, in längeren Texten auch Autistinnen und Autisten oder Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung.

Andersartig, aber nicht krank

Viele möchten darum nicht, dass ihre Andersartigkeit als Störung oder Krankheit bezeichnet wird. In den vergangenen Jahren hat sich der positiv konnotierte Begriff »Neurodiversität« etabliert, mit dem sich viele Betroffene stattdessen identifizieren.

Wie Körpergröße oder Intelligenz sind die Eigenschaften, die ADHS und Autismus auszeichnen, in der Bevölkerung normalverteilt. Das heißt, Menschen können autistische Züge haben, ohne die Kriterien für die Autismus-Spektrum-Störung zu erfüllen. Dazu gehören Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion, stark fokussierte Interessen, starre Routinen oder eine detailfokussierte Sinneswahrnehmung. Ebenso haben viele Menschen ADHS-Eigenschaften, aber keine ADHS. Sie lassen sich etwa leicht ablenken, sind impulsiv, können sich nur schwer konzentrieren.

Eine Diagnose erhält eine Person bloß dann, wenn die jeweiligen Eigenschaften stark ausgeprägt sind und dadurch erhebliche Beeinträchtigungen im Alltag entstehen. Wo die Grenze zwischen »normal« und »gestört« gezogen wird, sei jedoch letztlich eine Gesellschaftsfrage, so der Kinder- und Jugendpsychologe Sven Bölte vom Karolinska-Institut in Stockholm.

Oft sei eine Diagnose die einzige Möglichkeit für Betroffene, Hilfe zu bekommen. »Das ist schon merkwürdig«, sagt Bölte. »Es müsste auch andere Möglichkeiten geben.« Ärztinnen und Psychologen sähen sich teils genötigt, Berichte möglichst dramatisch klingen zu lassen, um Unterstützung für ihre Patienten zu sichern. Hier wird bereits deutlich, dass Faktoren in die Zahl der Diagnosen hineinspielen, die wenig mit den Eigenschaften der Betroffenen zu tun haben.

Schlechte Datenlage für ADHS und Autismus in Deutschland

»Seit dem Jahr 2000 etwa hören wir, dass die Zahlen der Autismusdiagnosen weltweit steigen«, stellt die Psychologin Karoline Teufel fest, die das Autismus-Therapie- und Forschungszentrum am Universitätsklinikum Frankfurt am Main leitet. Schulen schildern, dass es immer mehr Kinder mit Autismus in den Klassen gibt, sagt sie. Es käme zu Versorgungsengpässen, viele müssten jahrelang auf einen Termin für ein Diagnosegespräch warten.

Doch wie viele Betroffene es in Deutschland tatsächlich gibt, weiß niemand so genau – weder für Autismus noch für ADHS. Denn Diagnosezahlen werden nirgends zentral erfasst. Die besten Daten stammen von Krankenkassen, bilden allerdings immer nur die jeweiligen Versicherten ab.

Laut unveröffentlichten Daten der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) hatten im Jahr 2006 zwei Prozent der dort versicherten Kinder und Jugendlichen bis 19 Jahre eine ADHS-Diagnose. Im Jahr 2023 war der Anteil auf drei Prozent gestiegen. Die Handelskrankenkasse (HKK) meldet ebenfalls einen steigenden Trend. 2024 hatten vier Prozent der dort Versicherten bis 24 Jahre eine ADHS-Diagnose. Bei älteren Erwachsenen ist die Diagnose deutlich seltener.

Auch beim Autismus zeigen die Daten einen klaren Aufwärtstrend. Während 2006 nur 0,2 Prozent der bei der AOK versicherten Kinder und Jugendlichen eine Autismusdiagnose hatten, waren es 2023 knapp ein Prozent. Die Daten decken sich mit denen der HKK. Beide Diagnosen werden demnach bei Jungen doppelt bis dreimal so häufig gestellt wie bei Mädchen.

»Solche Kassendaten zeigen nur, wer mit einer Autismusdiagnose eine Behandlung beansprucht hat«, gibt Teufel zu bedenken. Denn eine Diagnose wird nicht zwingend an die Krankenkasse gemeldet, sofern keine ärztliche oder psychotherapeutische Behandlung folgt. Und die Unterstützung für betroffene Kinder liefe häufig über die Eingliederungshilfe von Jugend- und Sozialämtern, erklärt Teufel. In dem Fall bekämen Krankenkassen davon unter Umständen nichts mit.

Die AOK hingegen hält ihre Zahlen für stichhaltig. Es sei davon auszugehen, dass die allermeisten »offiziellen« Diagnosen der Versicherten bei der AOK erfasst würden. Der Fall, dass ein Kind oder Erwachsener nach einer Autismus- oder ADHS-Diagnose keinerlei weitere Behandlung erhält, käme »nur sehr selten vor«, schreibt die AOK auf Anfrage.

Angst vor »Autismus-Epidemie« in den USA

In den USA werden die Diagnosezahlen national von den Centers for Disease Control and Prevention (CDC) erfasst – und die Anteile liegen deutlich höher als hierzulande. Mit ADHS waren im Jahr 2022 demzufolge elf Prozent der Kinder und sechs Prozent der Erwachsenen diagnostiziert. Die Autismusdiagnosen sind laut den CDC von 2000 bis 2022 bei achtjährigen Kindern von 0,7 auf 3 Prozent gestiegen. Der Anteil hat sich demnach mehr als vervierfacht.

Auch hier mahnt Karoline Teufel zur Vorsicht: Nur ein gutes Drittel der von den CDC erfassten Autismusdiagnosen sei mit einem Standardverfahren zu Stande gekommen. Der Rest stamme aus den Akten verschiedener Einrichtungen, etwa Schulen. »Es ist also gar nicht klar, ob diese Kinder alle eine gesicherte Autismusdiagnose haben«, so die Psychologin.

Zudem zeigt eine Studie im Fachjournal »Pediatrics« von 2023, dass der Anstieg vor allem bei weißen Kindern und in wohlhabenden Gebieten zu verzeichnen ist. Das deutet darauf hin, dass Unterschiede im Zugang zum Gesundheitssystem die Daten verfälschen. Vermutlich sind in den USA Kinder aus sozioökonomisch schwächeren Schichten im Vergleich zu solchen aus bessergestellten Elternhäusern unterdiagnostiziert.

Die Neurodiversität ist in der Popkultur angekommen

Solche Daten haben in den USA eine aufgeladene Debatte um die vermeintliche »Autismus-Epidemie« ausgelöst – ein irreführender Begriff, denn Autismus ist keine ansteckende Krankheit. Der US-amerikanische Gesundheitsminister Robert Kennedy hat versprochen, bis September 2025 die Ursache für diese »Epidemie« zu finden. Kennedy ist für seine Impfskepsis bekannt und will die längst widerlegte Theorie, dass Impfungen Autismus verursachen, wieder auf den Prüfstand heben. Hunderte Wissenschaftler sollen an dem Forschungsvorhaben mitwirken.

Insgesamt lässt sich auf Grund der Datenlage festhalten: Die absoluten Diagnosezahlen sind unsicher. Der steigende Trend scheint aber stabil – und das in vielen westlichen Ländern.

Es bleibt die Frage: Diagnostizieren wir einfach mehr und besser? Oder gibt es tatsächlich immer mehr Menschen mit ADHS und Autismus? Oder handelt es sich um Modediagnosen, die zu häufig vergeben werden, weil es trendy ist, neurodivergent zu sein?

Neurodiversität als Trend?

Fachleute sind sich einig: Der wichtigste Grund für den Anstieg der Diagnosezahlen ist das zunehmende Bewusstsein in der Bevölkerung. Die Neurodiversität ist in der Popkultur angekommen. In sozialen Medien berichten neurodivergente Menschen heute offen von ihren Erfahrungen, Promis bekennen sich öffentlich zu ihrer Diagnose. Es gibt Serien, Filme und Datingshows mit Menschen aus dem autistischen und dem ADHS-Spektrum. All das mindert das Stigma und damit die Hemmschwelle, sich selbst oder sein Kind diagnostizieren zu lassen.

Auch in der Fachwelt hat das Bewusstsein zugenommen. »Die Diagnostik ist viel besser geworden«, erläutert Teufel. Mit der Kombination aus zwei standardisierten Testverfahren, dem Elterninterview (ADI-R) und dem Autism Diagnostic Observation Schedule (ADOS-2), der Beobachtungen und interaktive Aufgaben enthält, gibt es heute einen Goldstandard für Autismusdiagnosen. Dadurch sei die Zahl der Fehldiagnosen zurückgegangen, so Teufel. Gerade Mädchen und Frauen, bei denen Autismus und ADHS viel seltener festgestellt werden, würden heute weniger übersehen.

»ADHS und Autismus erfahren in sozialen Medien aktuell einen Hype«Alexandra Philipsen, Psychiaterin

Es sei eine positive Entwicklung, dass Menschen sich mehr mit sich selbst auseinandersetzen, findet die ADHS-Forscherin Alexandra Philipsen, die die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uniklinik Bonn leitet. Aber sie sieht auch eine Kehrseite: »ADHS und Autismus erfahren in sozialen Medien aktuell einen Hype.«

Besonders auf Tiktok kursieren viele Fehlinformationen, wie eine kanadische Studie aus dem Jahr 2022 zeigt. Die Autorinnen und Autoren klassifizierten rund die Hälfte der 100 populärsten Tiktok-Videos über ADHS als irreführend. Zudem kursieren Selbsttests im Internet, mit denen man sich mit wenigen Fragen angeblich selbst diagnostizieren kann. »Dieser Hype senkt die Schwelle, zu denken, dass man selbst betroffen ist«, sagt Philipsen.

Viele Ärzte und Ärztinnen berichten von Patienten, die in ihre Sprechstunde kommen und unbedingt eine Diagnose haben wollen. Karoline Teufel verwehrt sich aber gegen den Vorwurf, Fachleute ließen sich davon beeinflussen und vergäben Modediagnosen. Derartige Fehldiagnosen hält sie für selten, und den Anstieg der Zahlen könne das nicht erklären.

Die Umstellung der Klassifikation ist kaum relevant

Eine weitere potenzielle Ursache ist, dass sich psychiatrische Klassifikationssysteme in den vergangenen Jahren verändert haben. In Deutschland definiert derzeit das ICD-10 die Kriterien für psychische Störungen. In den USA kommt dafür das DSM zum Einsatz. Das DSM-5, das seit 2013 gilt, hat verschiedene Autismusdiagnosen – darunter auch das Asperger-Syndrom – unter der Autismus-Spektrum-Störung zusammengefasst. Die elfte Version der ICD aus dem Jahr 2022 hat diese neue Klassifikation weitgehend übernommen und wird in nächster Zeit formell in Deutschland eingeführt.

Für ADHS wurden im ICD-11, wie zuvor im DSM-5, die Kriterien für die Diagnose bei Erwachsenen heruntergesetzt. Früher galt ADHS als eine Störung des Kindesalters, die sich mit dem Alter auswächst. Die Diagnose wurde folglich bei Erwachsenen fast nie gestellt. Diese Veränderung könnte zu einer Erhöhung der Diagnosezahlen bei Erwachsenen beitragen – erklärt aber nicht den Anstieg bei Kindern.

Laut Sven Bölte spielen solche Umstellungen jedoch gar keine Rolle. Für seine Einschätzung spricht, dass schon unter dem DSM-IV sowie ICD-10 ein starker und kontinuierlicher Anstieg der Diagnosen sichtbar war.

Umweltgifte könnten zu steigender Prävalenz beitragen

Karoline Teufel zufolge lässt sich allerdings auch nicht ausschließen, dass es tatsächlich mehr Menschen mit ADHS und Autismus gibt. Dafür müsste sich etwas an den Ursachen dieser Andersartigkeiten verändert haben.

Nach aktuellem Forschungsstand sind beide Entwicklungsformen vor allem genetisch bedingt. Eine Veränderung der wesentlichen Ursache ist also unwahrscheinlich. Viele Studien finden aber, dass Kinder, deren Mütter während der Schwangerschaft bestimmten Risikofaktoren ausgesetzt waren, häufiger Autismus oder ADHS entwickeln

Laut einer Übersichtsarbeit der World Federation of ADHD aus dem Jahr 2021 gehören dazu für ADHS unter anderem Nikotin, Paracetamol, bestimmte Pestizide, Blei und Weichmacher in Kunststoffen. Für Autismus gibt es Hinweise auf ähnliche pränatale Risikofaktoren. Solche Stoffe könnten die frühkindliche Hirnentwicklung verändern, berichtet Teufel.

Eine Zunahme neurotoxischer Substanzen in der Umwelt könnte demnach theoretisch zum Anstieg der Diagnosezahlen beitragen. Das ist jedoch spekulativ, denn solche Zusammenhänge basieren nur auf Korrelationen, kontrollierte Studien sind kaum möglich.

Unplausibel ist Fachleuten zufolge hingegen, dass das soziale Umfeld Kinder »autistisch macht« oder ADHS auslöst. Die im 20. Jahrhundert verbreitete Theorie, dass »Kühlschrankmütter« – die ihren Kindern wenig Zuneigung schenken – Autismus verursachen, habe sich als falsch herausgestellt, sagt Teufel.

Landläufig gibt es auch die Idee, dass unsere reizüberflutete Welt, soziale Medien und Computerspiele die Aufmerksamkeitsspanne und Konzentrationsfähigkeit von Kindern mindern. Dafür, dass das eine primäre Ursache für ADHS sei, gebe es aber keine wissenschaftliche Evidenz, gibt Sven Bölte zu bedenken.

Soziales Umfeld kann Neurodivergenz zum Problem machen

Irrelevant ist das soziale Umfeld deswegen allerdings nicht. »Soziale Umweltfaktoren können ADHS nicht provozieren. Doch wenn mehrere Faktoren zusammenkommen und es eine genetische Veranlagung gibt, können Menschen so die Grenze überschreiten, ab der sie im Alltag beeinträchtigt sind«, sagt Alexandra Philipsen. Dies gelte jedoch nur für Menschen mit leichten Ausprägungen von ADHS, betont sie. Leben solche Menschen in einem für sie günstigen Umfeld, schränkt ihre Andersartigkeit sie nicht unbedingt ein.

Die Bedingungen, in denen Kinder heute aufwachsen, seien aber zunehmend ungünstiger für neurodivergente Menschen, glaubt Sven Bölte. »Früher war Schule noch recht einfach strukturiert«, erklärt er. »Heute gibt es viele Freiräume, die Kinder sollen schon früh Projekte und Gruppenarbeiten machen, digital und selbstständig arbeiten. Auch die Stundenpläne sind komplexer geworden.«

»Berufe, in denen Menschen mit ADHS gut funktionieren, werden von der Gesellschaft nicht wertgeschätzt«Michael Daddio, 32-Jähriger mit ADHS

Diese hohen kognitiven Anforderungen setzen sich im Erwachsenenalter fort. Heutzutage können viele Menschen aus einer enormen Vielfalt an Berufen, Wohnorten, Hobbys und Lebensformen wählen. Es ist normal, sich für zahlreiche Themen zu interessieren sowie Kontakt zu Menschen zu pflegen, die an ganz unterschiedlichen Orten leben. Personen, die mit solchem ständigen Multitasking überfordert sind, ecken heute womöglich mehr an, als sie es vor einigen Jahrzehnten getan hätten. Sie stoßen auf Probleme, sie leiden unter ihrer Andersartigkeit. Und genau das qualifiziert sie dann für eine Diagnose.

So sieht es auch Michael Daddio: »Heute wollen alle zur Uni, es gibt viel Leistungsdruck.« Für ihn und sein Umfeld sei immer klar gewesen, dass er studieren würde. Dabei wäre vermutlich ein praktischer Beruf mit klaren Hierarchien und Routinen viel besser für ihn geeignet als ein Bürojob mit abstrakten Aufgaben. »Berufe, in denen Menschen mit ADHS gut funktionieren, werden von der Gesellschaft nicht wertgeschätzt«, sagt er.

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  • Quellen

Centers for Disease Control and Prevention, Autism Prevalence Studies, 2023

Faraone, S. et al., Neuroscience & Biobehavioral Reviews 10.1016/j.neubiorev.2021.01.022, 2021

Shenouda, J. et al., Pediatrics 10.1542/peds.2022–056594, 2023

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