Allein der Gedanke an Mathematik treibt manchem von uns den Angstschweiß auf die Stirn. Doch jeder Mensch, ja selbst Tiere besitzen ein angeborenes Gespür für Zahlen.
Eins, zwei – viele! Wenn es ums Zählen geht,
fehlen den Pirahã-Indianern schnell die
Worte.
Denn dieser im Amazonasgebiet Brasiliens
heimische Stamm kennt keine Begriffe für
Zahlen jenseits von Zwei. Wie der Psychologe
Peter Gordon von der Columbia University in
New York 2004 beobachtete, schätzen die im
dichten Regenwald isoliert lebenden Indianer
Mengen nur ungefähr ab.
Auch andere Urvölker nehmen es mit dem
Rechnen nicht sehr genau. So entdeckte der Linguist
Pierre Pica vom Pariser Centre National de
la Recherche Scientifique 2004, dass die Zahlenreihe
bei den ebenfalls aus Brasilien stammenden
Mundurukú-Indianern nur bis Fünf
reicht; größere Mengen können sie zwar grob
bemessen, exakte Arithmetik ist ihnen jedoch
fremd.
Diese Beispiele zeigen: Genaues Zählen ist
uns Menschen nicht in die Wiege gelegt, sondern
muss (mitunter mühsam) erlernt werden.
Das Rüstzeug für den vagen Umgang mit Mengen
scheint uns jedoch in den Genen zu stecken,
denn sogar einige Tiere besitzen es.
Hört etwa ein Rudel Löwinnen aus der Ferne
feindliche Artgenossen brüllen, müssen die
Tiere beurteilen, ob es sich lohnt, das eigene Revier
zu verteidigen. Entscheidend ist dabei die
gegnerische Gruppengröße – der zahlenmäßig
überlegene Trupp gewinnt in der Regel die Auseinandersetzung.
Erstaunlich gut können die
Wildkatzen abschätzen, mit wie vielen Eindringlingen
sie es zu tun haben, wie die Verhaltensforscherin
Karen McComb von der University of
Sussex (England) 1994 im Serengeti-Nationalpark
in Tansania beobachtete.
Zahlreiche andere Feldstudien bewiesen: Wer
Mengen abschätzen kann, hat einen Überlebensvorteil.
Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass
nicht nur Säugetiere wie Löwen, sondern auch
Insekten, Fische, Lurche und Vögel eine grundlegende
numerische Kompetenz besitzen. Sie in
freier Wildbahn zu untersuchen, gestaltet sich
allerdings schwierig. Denn meist verändern sich
zusammen mit der Anzahl auch andere Eigenschaften
eines Reizes. So dauern zum Beispiel
vier aufeinander folgende Rufe deutlich
länger als zwei. Ob die Löwen nun die Dauer
oder die Zahl der Töne unterscheiden, bleibt somit
fraglich.
Frühe numerische Ader
Genauere Erkenntnisse zum tierischen Umgang
mit Zahlen lassen sich unter standardisierten
Laborbedingungen gewinnen. Mit Hilfe solcher
kontrollierten Experimente bewies zum ersten
Mal der deutsche Zoologe Otto Koehler in den
1930er und 1940er Jahren, dass Tiere wirklich
Mengen unterscheiden können und nicht auf
andere Parameter angewiesen sind. Aber wo im
Gehirn sitzt dieser "Zahlensinn"?
Erste Hinweise darauf, welcher Teil des
menschlichen Denkorgans für die numerische
Kompetenz verantwortlich ist, gaben Befunde
an Patienten mit Zähl- und Rechenstörungen.
Bereits im Jahr 1919 bemerkte der schwedische Mediziner Salomon Henschen (1847–1930), dass
Menschen mit bestimmten Hirnschäden kein
Gespür für Zahlen haben. Er nannte diese Störung
"Akalkulie" (von griechisch a- für "nicht"
und lateinisch calculare für "rechnen").
Je nach Art und Schwere der Läsion zeigen
die Patienten ganz verschiedene Symptome. So
können einige nur noch mit Nummern bis vier
umgehen, während größere Zahlen wie ausgelöscht
sind. Manchen bereiten besonders Subtraktionen
und Zahlenvergleiche Probleme, andere
können dagegen nicht mehr multiplizieren.
Oft ist bei diesen Patienten eine Hirnregion
am Übergang vom Scheitel- zum Schläfenlappen
geschädigt; auch ein verletztes Stirnhirn
kann das Mathegespür mindern.
Mathe-Lektion (Abb. 1) | So lernt ein Rhesusaffe, Mengen
voneinander zu unterscheiden:
Auf einem Computermonitor
sieht er eine bestimmte
Anzahl von Punkten (siehe Bild
A), die kurz darauf wieder verschwinden (B). Anschließend erscheint
ein neues Muster, das
entweder eine andere oder die
gleiche Punktzahl enthält
(C/D). Um eine Belohnung zu
erhalten, muss das Tier antworten,
wenn die zweite Punktemenge
der ersten entspricht.
Reagiert es dagegen bei
ungleicher
Punktzahl, bleibt die
Prämie aus.
Zähl- und Rechenstörungen treten allerdings
nicht nur nach Ausfall bestimmter Kortexregionen
auf. Nach neuesten Schätzungen besitzen
etwa fünf Prozent der Bevölkerung von klein auf
entwicklungsbedingte Probleme beim Lernen
von Zahlen und Rechenoperationen. Solche
Dyskalkulien (von griechisch dys- für schlecht)
erweisen sich zunehmend als Handikap in der
Schule und am Arbeitsplatz – nicht anders als
Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten. Den Betroffenen,
die sonst oft normal intelligent sind,
bleibt die Bedeutung von Mengen, Zahlen oder
Rechenzeichen häufig verborgen.
Die Auswirkungen von Dyskalkulie sind wie
bei Akalkulie meist sehr spezifisch – und betreffen
beispielsweise nur bestimmte Rechenarten.
Deshalb vermuten Neurowissenschaftler, dass
voneinander abgegrenzte Einheiten neuronaler
Netzwerke jeweils dafür zuständig sind.
Was genau beim Zählen und Rechnen im
Denkorgan passiert, untersuchte ich mit meiner
Arbeitsgruppe an der Universität Tübingen im Jahr 2006. Dazu maßen wir die Aktivität einzelner Nervenzellen im Gehirn von Rhesusaffen,
während diese verschiedene Mengen
schätzten:
Die Tiere sahen auf einem Computermonitor eine bestimmte Anzahl von Punkten,
die wenig später wieder verschwanden (siehe Abb. 1). Dann erschien ein
neues Muster, das entweder die gleiche oder
eine andere Punktezahl enthielt. Um eine Belohnung
zu erhalten, mussten die Tiere antworten,
wenn die zweite Punktemenge der ersten
entsprach. Taten sie dies bei ungleicher Punktzahl,
gab es keine Prämie. Die Affen mussten also die Zahl der Punkte
abschätzen und sie im Gedächtnis behalten, bis
das neue Muster erschien.
Was geschieht währenddessen
im Gehirn? Sowohl im Präfrontalkortex,
dem vorderen Bereich des Stirnhirns, als
auch im intraparietalen Sulcus, einer Furche des
Scheitellappens, fanden wir Neurone, die vermehrt
antworteten, sobald die Affen Mengen
registrierten (siehe Abb. 2).
Bei näherem Hinsehen entdeckten wir Erstaunliches:
Die Zellen reagierten mit unterschiedlichen
Entladungsraten, je nachdem, welche
Anzahl sich das Tier gerade merkte. So gab es etwa Neurone,
die am stärksten auf vier Punkte antworteten,
deutlich schwächer jedoch auf die Nachbarzahlen
"Drei" und "Fünf" – und fast gar nicht mehr
auf "Zwei" oder "Sechs". Diese Zellen waren offenbar
auf eine Lieblingszahl abgestimmt. Für
jede präsentierte Anzahl fanden wir spezialisierte
Nervenzellen.
Areale für Arithmetik (Abb. 2) | Im Gehirn von Rhesusaffen gibt es Neurone, die nur
dann antworten, wenn sich die Tiere eine bestimmte
Zahl merken. Diese Zellen befinden sich in
einem Bereich des Stirnhirns (gelbe Fläche rechts)
sowie im intraparietalen Sulcus, einer Furche des
Scheitellappens (kleinere Fläche links).
Die Neurone kodierten die betreffenden Zahlen
allerdings nie ganz spezifisch, sondern antworteten
immer auch leicht auf die angrenzenden
Größen. Die Tiere scheinen Mengen
demnach nur näherungsweise zu schätzen und
nicht im eigentlichen Sinn zu zählen. Dieses Privileg
ist nur uns Menschen vorbehalten, die als
einzige Spezies mit Ziffern und Zahlwörtern
hantieren.
Das Überlappen der neuronalen Aktivität bei
der Verarbeitung von benachbarten Zahlen ist
möglicherweise der Grund dafür, dass es Tieren
und Menschen leichterfällt, Mengen zu unterscheiden,
die numerisch weit voneinander entfernt
liegen. Wegen dieses so genannten Distanzeffekts
ist es beispielsweise schwieriger,
neun und zehn Punkte auseinanderzuhalten als
neun und drei.
Außerdem wurden bei unserem Experiment
Zellen mit großen Lieblingszahlen von mehr
Nachbarzahlen erregt als Neurone, die kleinere
Mengen kodieren. Das wiederum könnte den numerischen Größeneffekt erklären: Kleine
Anzahlen
lassen sich besser unterscheiden als
große. Es ist beispielsweise leichter, drei und
vier Punkte auseinanderzuhalten als neun und
zehn, obwohl die numerische Distanz in beiden
Fällen eins beträgt.
Interessanterweise taucht der Distanz- und
Größeneffekt bei Menschen in abgeschwächter
Form auch bei Zahlensymbolen auf. Gründet
unsere Zahlenlehre womöglich auf dem evolutionär
älteren Mengenschätzsystem? Wenn ja,
müssten die Gehirne von Affen und Menschen
numerische Informationen auf ähnliche Weise
verarbeiten.
Erschwerte Spurensuche
Da es nicht ohne Weiteres möglich ist, beim
Menschen die Aktivität einzelner Nervenzellen
zu messen, nähert man sich der Frage mit einem
Verfahren, das indirekt Auskunft über die neuronalen
Vorgänge im Gehirn gibt – der funktionellen
Magnetresonanztomografie (fMRT). Diese
Methode misst nicht die elektrische Entladung
der Nervenzellen selbst, sondern den Sauerstoffverbrauch
des Gewebes. Weil die fMRT
die Aktivität mehrerer Millionen Neurone und
deren Verbindungen zusammenfasst, erlaubt
das Verfahren nur eine ungefähre Lokalisierung
von Hirnarealen, die an bestimmten Aufgaben
beteiligt sind.
Inzwischen existieren zahlreiche Studien, in
denen Forscher mit Hilfe bildgebender Verfahren
ganz unterschiedliche numerische Aufgaben
beim Menschen testeten. Im Jahr 2004
machte sich der Neurowissenschaftler Stanislas
Dehaene vom Neurospin Center bei Paris die
Mühe, die Befunde – darunter auch Ergebnisse
eigener Untersuchungen – miteinander zu vergleichen.
Dabei offenbarte sich ein erstaunlich
kohärentes Bild: Egal ob wir Mengen schätzen,
Zahlen bewusst oder unbewusst betrachten, mit
Ziffern oder Zahlwörtern hantieren oder mathematische
Gleichungen lösen – stets sind dabei
Bereiche unseres hinteren Scheitellappens und
des vorderen Stirnhirns aktiv.
Im Jahr 2009 konnte unsere Arbeitsgruppe
mittels fMRT zeigen, dass auch Proportionen
und Brüche in diesen Hirngebieten abgebildet
werden. Sie entsprechen vom neuroanatomischen
Bauplan her den zahlensensitiven Bereichen
des Affengehirns und haben
sich aus einer gemeinsamen Vorläuferstruktur
entwickelt; es handelt sich also um so
genannte homologe Areale.
Vermutlich dienten diese Hirnregionen ursprünglich
nur dem Umgang mit Mengen und
wurden erst viel später – im Lauf der Evolution
des Menschen – zusätzlich dafür rekrutiert, Zahlen
präzise abzubilden. Denn hierfür ist Sprache
unentbehrlich: Nur symbolisches Zählen ermöglicht
exaktes Rechnen.
Dass unser präzises Zahlensystem nicht ohne
das Schätzsystem auskommt, zeigte 2008 der
Kognitionspsychologe Justin Halberda mit seinen
Kollegen von der Johns Hopkins University
in Baltimore (US-Bundesstaat Maryland). Von
ihnen untersuchte Schulkinder, die Mengen
besonders
exakt schätzen konnten, lösten
Matheaufgaben
besser als Sprösslinge, denen
das Gespür für Quantitäten fehlte. Zuvor hatten
Intelligenz- und Sprachtests allen Teilnehmern sehr ähnliche kognitive Voraussetzungen
bescheinigt.
In vielen Alltagssituationen fassen wir Entschlüsse,
die auf einfachen Rechenregeln beruhen
– ähnlich wie die Löwinnen, die dem Gebrüll
der anderen lauschen: Je nachdem, ob sie
oder die Gegner zahlenmäßig überlegen sind,
greifen sie an oder ziehen sich zurück. Die Tiere
treffen also flexible "Größer als"- und "Kleiner
als"-Entscheidungen. Solche Schlüsse sind nicht
nur wichtig für zielgerichtetes Verhalten, sie
legen
auch den Grundstein für mathematische
Operationen. Deshalb lernen Kinder in der
Grundschule auch zuerst logische Aufgaben wie
den Größenvergleich, bevor sie sich komplexeren
Matheaufgaben widmen.
Größer oder kleiner?
Meine Arbeitsgruppe konnte 2010 erstmals zeigen,
wie Gehirnzellen solche einfachen Regeln
verarbeiten. Dazu trainierten wir Rhesusaffen
darauf, Mengen nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten
zu vergleichen. Wieder sahen die Tiere
auf einem Monitor eine Punktemenge, die nach
einer kurzen Pause einer anderen wich. Sollten die Affen die "Größer als"-Regel anwenden,
durften
sie nur dann eine Taste drücken, wenn
das zweite Muster
mehr Punkte enthielt als das
erste. Andernfalls erhielten sie keine Belohnung.
Bei der "Kleiner als"-Regel galt es, auf kleinere
Mengen zu reagieren. Da sowohl die Vergleichszahl
als auch die anzuwendende Regel zwischen
den Testdurchläufen variierte, mussten die
Tiere hoch konzentriert bei der Sache bleiben.
Klare Zuordnung (Abb. 3) | Manche Nervenzellen im Stirnhirn von Rhesusaffen kodieren einfache Rechenoperationen. Die einen
(etwa Neuron 1 im Bild oben rechts) antworten besonders stark, wenn die Tiere per Tastendruck
reagieren sollen, falls eine Punktemenge kleiner ist als eine andere (Regel 1). Sollen sie dagegen auf
"größer als" achten (Regel 2), entladen sich vermehrt andere Zellen (Neuron 2, unten rechts).
Während die Affen die Punktemuster verglichen,
maßen wir die Nervenzellaktivität in
ihren Gehirnen. Dabei fanden wir Neurone im
Präfrontalkortex, die erstaunlich differenziert
antworteten: Manche der von uns überwachten
Zellen wurden nur dann aktiv, wenn die Tiere
die "Größer als"-Regel befolgten, und andere
ausschließlich bei Anwendung der "Kleiner
als"-Regel (siehe Abb. 3).
Das Primatengehirn beherbergt also Nervenzellen,
die auf einfache Rechenregeln spezialisiert
sind. Sie befinden sich im Stirnhirn, dem
höchsten kognitiven Steuerzentrum – ohne das
wir keine logischen Schlüsse ziehen können.
Offenbar
sind wir mit unseren Erkenntnissen
über den Zahlensinn den neurobiologischen
Grundlagen des abstrakten Denkens einen guten
Schritt näher gekommen.
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