Astronomie: Das Neutrino, das dem Schwarzen Loch entkam
So könnte es sich zugetragen haben: Vor 3,78 Milliarden Jahren, in einer fernen, noch jungen Galaxie, stillt ein supermassereiches Schwarzes Loch seinen Appetit. Große Mengen von Wasserstoffgas verschwinden auf Nimmerwiedersehen hinter seinem Ereignishorizont. Doch einigen Teilchen gelingt die Flucht. Von starken Magnetfeldern beschleunigt, werden diese Wasserstoffatomkerne in zwei gegenläufig gerichteten Strahlen ins All katapultiert und können so der Anziehungskraft des Massenmonsters entkommen.
Nach kurzer Zeit prallen einige der Teilchen mit anderen Atomkernen zusammen. Unter den Trümmern dieser Kollisionen befinden sich auch so genannte Myon-Neutrinos – ungeladene, extrem leichtgewichtige Teilchen, die sich mit beinahe Lichtgeschwindigkeit davonmachen. Ohne von Magnetfeldern oder anderer Materie beeinflusst zu werden, fliegt eines von ihnen geradlinig auf eine Spiralgalaxie namens Milchstraße zu, genauer auf einen blauen Planeten im Orbit um einen G2V-Stern in einem der äußeren Spiralarme.
Lange deutet nichts darauf hin, dass ihm dort etwas Aufregendes begegnen könnte. Neutrinos durchdringen dickste Wände, ja ganze Planeten, ohne eine Spur zu hinterlassen. Sie fliegen einfach immer weiter geradeaus. Und wenn sie doch einmal einen Atomkern treffen, bekommt niemand etwas davon mit. Doch wenige Jahre bevor das 3,78 Milliarden Jahre alte Neutrino auf der Erde ankommt, haben ihre Bewohner eine ausgeklügelte Falle errichtet: einen Detektor namens IceCube, der aus mehr als 5000 hochempfindlichen Lichtsensoren besteht. Lichtsensoren, die über einen Kubikkilometer verteilt im ewigen Eis der südlichen Polarkappe stecken.
Ein ultrakurzer Lichtblitz für die Geschichtsbücher
Als das Neutrino am 22. September 2017, genau um 22:54:30 Uhr mitteleuropäischer Zeit, in das Eis der Antarktis eindringt, geschieht deshalb etwas, was ihm seit seiner Abreise nicht passiert ist: Es kollidiert mit einem Atom und setzt dabei ein Myon frei – und wegen der in IceCube installierten Elektronik werden Menschen über dieses Ereignis sofort informiert. Anders als das Neutrino ist das Myon als schwerer Verwandter des Elektrons elektrisch geladen. Die Teilchen verraten sich daher durch einen ultrakurzen Lichtblitz, der in gerade einmal drei millionstel Sekunden den IceCube-Detektor durchquert und von den Fotosensoren im Eis aufgefangen wird.
Damit ist das Neutrino identifiziert. Es erhält den Namen IceCube170922A – und wird, das ist heute klar, sehr wahrscheinlich in die Wissenschaftsgeschichte eingehen. Denn wenn diese Geschichte stimmt, dann ist 170922A das erste Neutrino aus einer fernen Galaxie, bei dem Wissenschaftler den Ursprungsort ausfindig machen konnten. Bisher war – abgesehen von der Sonne, die pro Sekunde unzählige der Teilchen ausspuckt – nur eine Neutrinoquelle im Weltall bekannt: die Supernova 1987A. Von ihr traf vor 31 Jahren ein ganzer Schwall der flüchtigen Partikel die irdischen Detektoren. Seither gelten Supernova-Explosionen als eine wichtige Quelle für Neutrinos, allerdings nur bis zu einer bestimmten Teilchenenergie.
Völlig überraschend ist die nun verkündete Entdeckung des extragalaktischen Neutrinos, die von Forschungsinstituten rund um den Globus als Sensation gefeiert wird, derweil nicht: In den vergangenen Jahren haben die Forscher von IceCube immer wieder Hinweise entdeckt, dass irgendwo im All Neutrinos auf gewaltige Energien beschleunigt werden. So registriert der Südpol-Detektor seit seiner Inbetriebnahme im April 2008 mehrere hundert Teilchen pro Jahr, die offenbar aus den Tiefen des Alls stammen.
Der Beweis stand noch aus
Die meisten von ihnen sind wesentlich energiereicher als die Neutrinos aus der Sonne. Da ihre Herkunftsrichtungen über den gesamten Himmel verteilt sind, galt es als sehr wahrscheinlich, dass sie nicht aus der Scheibe der Milchstraße stammen, sondern von fernen Galaxien. Und dort bringen in erster Linie die turbulenten Umgebungen von Schwarzen Löchern die Energien auf, um die Teilchen derart stark anzuschubsen.
Doch bislang war es nicht gelungen, eine solche Neutrinos heraus schleudernde Galaxie auch wirklich zu identifizieren. Mit 170922A scheint dies nun zum ersten Mal gelungen zu sein. Nur 43 Sekunden, nachdem IceCubes Echtzeit-Auswertesystem das Neutrino erkannt hatte, übermittelte es einen automatisierten Alarm an andere Observatorien auf der ganzen Welt. Vier Stunden später folgte eine detailliertere Warnung mit genauer Positionsangabe, berichten die Wissenschaftler in zwei Veröffentlichungen im Fachmagazin »Science«.
Zum Zeitpunkt des Alarms ist klar: Sofern das Neutrino tatsächlich aus dem Umfeld eines Schwarzen Lochs stammt, sollte die heraus geschleuderte Materie auch energiereiche elektromagnetische Strahlung praktisch aller Wellenlängen ausgestoßen haben. Und dieses Licht müsste dann gleichzeitig auf der Erde ankommen und mit geeigneten Teleskopen messbar sein.
Schwarzes Loch mit großem Hunger
Die aus den IceCube-Daten rekonstruierten Himmelskoordinaten deuteten auf einen Punkt im nördlichen Teil des Sternbilds Orion. Von hier stammt offenbar das Neutrino. Tatsächlich liegt nur 0,1 Grad neben der Position eine seit Längerem bekannte Gammastrahlenquelle: der Blazar TXS 0506+056. Blazare sind eine Unterart der aktiven Galaxien – Galaxien also, deren zentrales Schwarzes Loch große Materiemengen verschlingt.
Bei einem Blazar ist zusätzlich einer der beiden Materiestrahlen, entlang derer sich die vom Schwarzen Loch fliehende Materie bewegt, direkt auf die Erde gerichtet. Die Partikelschleudern verraten sich daher oftmals durch minuten- oder auch jahrelange Ausbrüche, während derer sie große Mengen Gammastrahlung aussenden. Damit war ein Verdächtiger ausgemacht. Um ihn zu überführen, mussten die Astrophysiker nun nur noch einen solchen Gammastrahlenausbruch ausfindig machen, dessen Strahlung gleichzeitig mit einem IceCube-Neutrino die Erde trifft.
Am 22. September 2017 reagierte als erstes Gammateleskop der amerikanische Satellit Fermi auf den Alarm vom Südpol. Fermis Large Area Telescope (LAT) liefert seit 2008 alle drei Stunden ein Bild des gesamten Himmels im Gammalicht. Tatsächlich berichtete die Fermi-Kollaboration am 28. September, dass sich TXS 0506+056 seit April 2017 in einem Zustand erhöhter Aktivität befunden hat.
Blazar im Gammalicht
Einige Tage später bestätigten auch die MAGIC-Teleskope auf der Kanareninsel La Palma, eines von drei großen bodengestützten Gammaobservatorien, ein energiereiches Gammasignal von TXS 0506+056 – das erste Mal überhaupt von dieser Quelle. Es folgten weitere Nachbeobachtungen mit Röntgen-, Radio- und optischen Teleskopen. Schließlich gelang es Astronomen mit dem optischen Zehn-Meter Teleskop GranTeCan, ebenfalls auf La Palma, die Entfernung des Blazars zu bestimmen: Sie entspricht der oben genannten Lichtlaufzeit von 3,78 Milliarden Jahren.
Alle diese Beobachtungen deuteten darauf hin, dass das Neutrino 170922A tatsächlich aus dem Blazar stammt. Doch nach dem 22. September registrierte IceCube kein weiteres Neutrino aus TXS 0506+056 mehr. Könnte es sich womöglich nur um einen Zufall gehandelt haben? Gibt es wirklich einen kausalen Zusammenhang zwischen der Gammastrahlung und dem Neutrino?
Zwar geben die Forscher die Wahrscheinlichkeit für einen solchen Zufall mit weniger als 0,15 Prozent an – völlig auszuschließen ist er mit nur einem einzelnen Neutrino aber nicht. Es mussten also noch andere Indizien her. Deshalb haben sich die Wissenschaftler durch die im Lauf der letzten neun Jahre gesammelten Daten ihres Detektors gearbeitet. Schließlich betrachtet IceCube anders als zum Beispiel optische Teleskope keine einzelnen Objekte, sondern registriert Neutrinos, die aus allen möglichen Richtungen auf die Nordhemisphäre der Erde treffen. Auf diese Weise nutzen die Forscher die Materie der Erde selbst als Detektormaterial.
Und siehe da: Schon einmal war demnach aus der Richtung von TXS 0506+056 eine erhöhte Zahl von Neutrinos gekommen, und zwar Ende 2015. Damals registrierte das Observatorium über einen Zeitraum mehrerer Wochen rund ein Dutzend der Teilchen über dem zu erwartenden Detektorrauschen. Die hatten zwar weniger Energie als 170922A mit seinen 290 Teraelektronvolt und sind aus diesem Grund nicht gleich aufgefallen (zum Vergleich: Ein Protonenstrahl im 27 Kilometer großen Large Hadron Collider des CERN kreist mit sieben Teraelektronenvolt). Eine solche Häufung an der Position eines bekannten Blazars ist aber ein weiterer, unabhängiger Beleg für die Hypothese, dass TXS 0506+056 tatsächlich eine Neutrinoquelle ist.
Ein neues Kapitel der Astronomie
TXS 0506+056 gehört zwar zu den 50 hellsten Quellen für Gammastrahlen am Himmel, doch es gibt weit hellere und nähere Blazare. Warum sollte ausgerechnet dieser Blazar der erste sein, von dem IceCube ein energiereiches Neutrino empfängt? Die Forscher erklären das mit seiner Position am Himmel. Von IceCube am Südpol aus gesehen steht TXS 0506+056 flach unter dem Horizont. Das bedeutet, dass Neutrinos aus dieser Richtung eine weniger lange Strecke durch die Erdkugel zurücklegen müssen als die von weiter nördlich stehenden Objekten. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein solches Neutrino vor Erreichen des Detektors von der Erdmasse absorbiert wird, ist daher kleiner.
Mit 170922A beginnt ein neues Kapitel der Neutrinoforschung. Das Ereignis taugt auch als Paradebeispiel für die so genannte Multi-Messenger-Astronomie: Mit verschiedensten Instrumente beobachten Wissenschaftler ein und dasselbe Ereignis am Himmel – und erlangen durch die Kombination der Messdaten tiefere Einblicke in die zu Grunde liegenden Mechanismen.
Bestätigt sich der Befund, dass Blazare tatsächlich Neutrinoquellen sind, dann sind die Astrophysiker auch in einem zentralen Rätsel ihrer Disziplin ein Stück weitergekommen: Seit Jahrzehnten gehen sie der Frage nach, welche Prozesse im Weltall Teilchen und Atomkerne auf so hohe Energien beschleunigen können, dass sie auch nach einer Milliarden Jahre währenden Reise noch gut nachweisbar sind.
Für Neutrinos könnte eine der Hauptquellen dieser kosmischen Strahlung nun identifiziert sein. Allerdings gehen Experten davon aus, dass Blazare für nur 30 bis 80 Prozent des gesamten kosmischen Neutrinoflusses verantwortlich sein können. Es muss also noch weitere Produktionsstätten der flüchtigen Teilchen geben. Für die ziemlich neue Berufssparte der Neutrinoastronomen wird die Arbeit also so schnell nicht ausgehen.
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