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Neutrinos: Teilchenfänger im Miniformat

Ein nur wenige Kilogramm leichter Neutrinodetektor soll neue Blicke auf die Grenzen der Physik erlauben.
Eine schematische Darstellung einer Teilchenkollision
Überall schießen Unmengen Neutrinos umher, aber die Teilchen sind notorisch schwierig zu fassen.

Mit einem nur wenige Kilogramm schweren Detektor hat ein Forschungsteam zum ersten Mal Neutrinos aufgespürt. Damit ist die Apparatur mehrere Größenordnungen leichter als herkömmliche Detektoren für die flüchtigen Elementarteilchen. Die Arbeitsgruppe um Christian Buck vom Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg nutzte dafür erstmals in vollem Umfang ein physikalisches Phänomen namens kohärente Streuung. Sie veröffentlichte die Ergebnisse ihres CONUS+ genannten Experiments im Juli 2025 im Fachmagazin »Nature«. Der Detektor verspricht neue Erkenntnisse zu den Teilchen aus dem Inneren von Sternen sowie Einblicke in die Grenzen des Standardmodells der Teilchenphysik.

Neutrinos lassen sich nur sehr schwer beobachten. Die Teilchen tragen keine Ladung, reagieren nicht auf elektromagnetische Felder und wechselwirken praktisch nicht mit normaler Materie – sie sind unsichtbar. Herkömmliche Neutrinodetektoren registrieren Zusammenstöße mit Elektronen, Protonen und Neutronen. Bei solch einer Kollision entsteht ein Lichtblitz. Dieser lässt sich messen und liefert Rückschlüsse auf das Neutrino. Allerdings sind derartige Stöße äußerst selten. Deshalb müssen Neutrinodetektoren bis zu tausende Tonnen schwer sein – damit genügend Material vorhanden ist, um ausreichend viele solcher Vorgänge zu beobachten.

Bereits 2017 gelang es Forschern um die US-Physikerin Kate Scholberg von der Duke University in Durham, einen Minidetektor zu entwickeln. Der COHERENT-Detektor basierte damals erstmals auf kohärenter Streuung: Statt an einzelne Protonen, Neutronen oder Elektronen stoßen die Neutrinos an ganze Atomkerne. Bei diesen Experimenten war die Streuung jedoch nur teilweise kohärent; die Struktur des Kerns spielte bei den Vorgängen immer noch eine Rolle.

Wie Christian Buck erklärt, nutzt kohärente Streuung den Wellencharakter der Teilchen aus: je niedriger die Energie eines Teilchens, desto größer seine Wellenlänge. Wenn die Wellenlänge des Neutrinos in etwa dem Durchmesser des Atomkerns entspricht, dann »sieht das Neutrino den Atomkern als ein Teilchen; seine innere Struktur [aus Protonen und Neutronen] sieht es nicht«, ergänzt Buck. Das Neutrino stößt an den Atomkern und hinterlässt so einen Teil seiner Energie im Detektor. Bei CONUS+ war die Energie der Neutrinos endlich niedrig genug, sodass die Streuung vollständig kohärent war.

Einen Atomkern erhaschen

Kohärente Streuung an Atomkernen findet mehr als 100-mal so häufig statt wie die Streuung an einzelnen Teilchen. Die höhere Effizienz ermöglicht deutlich kleinere Neutrinodetektoren bei gleichbleibender Anzahl gemessener Teilchen. »Dadurch lassen sich Neutrinodetektoren bauen, die nur wenige Kilogramm schwer sind«, sagt Buck.

Der Energieübertrag auf die Atomkerne ist dabei allerdings gering und daher äußerst schwierig zu detektieren. Laut Buck ist das vergleichbar mit einem Boot, dessen Rückstoß man messen möchte, während ein Tischtennisball dagegenprallt.

Wie bei einem Boot, dessen Rückstoß man messen möchte, während ein Tischtennisball dagegenprallt

Der Detektor des Teams besteht aus vier Modulen. Jedes davon enthält ein Kilogramm reines Germanium. Zwischen 2018 und 2022 befand sich das ursprüngliche CONUS-Projekt an einen Kernreaktor in Deutschland, an dem Neutrinos erzeugt wurden. Nach der Stilllegung des Reaktors wanderte das Projekt in die Schweiz zum Kernkraftwerk Leibstadt. Gleichzeitig erhielt das Projekt ein Upgrade: Aus CONUS wurde CONUS+. Dort maßen die Forscher in 119 Messtagen etwa 395 Neutrinokollisionen. Die Ergebnisse passen zu den theoretischen Vorhersagen des Standardmodells der Teilchenphysik, der vorherrschenden Theorie des Allerkleinsten.

Jede Sekunde fließen etwa 60 Milliarden Neutrinos durch jeden Quadratzentimeter der Erde. Der Vergleich mit der Anzahl der gemessenen Neutrinos macht deutlich, wie schwierig es ist, die Geisterteilchen zu finden. So wurden die Neutrinos zunächst im Jahr 1930 nur theoretisch vorhergesagt. Experimentell gemessen wurden sie erst 1956.

Das Standardmodell der Teilchenphysik liefert genaue theoretische Vorhersagen dazu, wie die kohärente Streuung in verschiedenen Materialien abläuft. Um die Theorie zu bestätigen, ist es laut Kate Scholberg daher essenziell, kohärente Streuung an möglichst vielen Arten von Atomen zu untersuchen. Ihr COHERENT-Experiment von 2017 verwendete Detektoren aus Cäsiumiodid. Danach wiederholte Scholbergs Team die Experimente mit Detektoren aus Argon und Germanium. Alle Beobachtungen, die älteren und die jetzigen, bestätigten das Standardmodell der Teilchenphysik.

Die Minidetektoren helfen bei der Suche nach Lücken in der bisherigen Theorie. Sie werden allerdings herkömmliche Detektoren kaum ersetzen. Da sie bloß Neutrinos im niederen Energiebereich erfassen, können sie andere Methoden lediglich ergänzen. Nicht nur für die Grundlagenforschung sind sie interessant, sondern auch für die Industrie: Aufgrund ihrer kompakten Bauweise lassen sie sich potenziell zur Überwachung von Kernreaktoren einsetzen.

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  • Quellen
Ackermann, N. et al., Nature 10.1038/s41586–025–09322–2, 2025

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