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Insektensterben: Nicht überall geht es Insekten schlecht

Eine neue Studie präsentiert ein differenziertes Bild des »Insektensterbens«: Eine Zunahme der Wasserinsekten kompensiert zumindest teilweise den Rückgang der Landinsekten. Die Biodiversitätskrise verschwindet dadurch aber nicht.
Verschiedene Insekten

Das Insektensterben alarmiert weltweit Wissenschaftler, Naturschützer und Regierungen. Denn Insekten sind Bestäuber und Kompostierer, sie bekämpfen als Jäger andere Insekten und stellen als Gejagte eine überlebenswichtige Nahrungsquelle für viele andere Tierarten dar. Kurzum: Intakte Ökosysteme sind ohne die Krabbel- und Flugtiere ebenso wenig denkbar wie eine funktionierende Lebensmittelversorgung für Menschen. Allein der volkswirtschaftliche Wert der Bestäubung durch Insekten wird auf bis zu 600 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt.

Langzeituntersuchungen, allen voran die des Krefelder Entomologischen Vereins, haben für einzelne Regionen einen massiven Einbruch der Fluginsektenbiomasse um 75 Prozent in weniger als drei Jahrzehnten belegt. Andere Studien fokussierten sich stärker auf die Trends für einzelne Insektenarten oder -familien, wie zuletzt Hummeln. Auch sie zeigten starke Verluste bis hin zum regionalen Aussterben. Wie groß das globale Ausmaß des Insektensterbens tatsächlich ist, war bislang allerdings nicht bekannt.

Ein Forscherteam um Roel van Klink vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) in Leipzig hat nun versucht, diese Frage zu beantworten. Ihre im Fachjournal »Science« veröffentlichte Analyse wartet mit einer Überraschung auf. »Es gibt keinen einheitlichen Zusammenbruch der Insektenpopulationen weltweit«, fasst Studien-Hauptautor van Klink im Gespräch mit »Spektrum.de« das Ergebnis zusammen. Einem Schwund an Landinsekten stehe eine deutliche Zunahme von an Wasser gebundenen Insekten gegenüber. Innerhalb der Landinsekten gab es ebenfalls unterschiedliche Entwicklungen. So blieb die Anzahl der unter der Erde lebenden Insekten stabil, die an und in Bäumen lebenden nahm leicht zu, während Insekten auf dem Boden und in der Luft weniger wurden. »Die Entwicklung der Insekten ist viel nuancierter, als wir vermuten – und es geht nicht nur bergab«, sagt van Klink. Selbst an benachbarten Standorten zeigten sich erhebliche Unterschiede in der Entwicklung der Insektenpopulationen.

Größte und vollständigste Übersicht bislang

Für ihre Metastudie analysierten die Forscherinnen und Forscher 166 Langzeitstudien aus fast 1700 verschiedenen Gebieten in 41 Ländern. Laut den in Schottland lehrenden Ökologinnen Maria Dornelas und Gergana Daskalova ist das die »größte und vollständigste Metaanalyse«, die bislang zu diesem Thema angefertigt wurde. Sie berücksichtigt nur Studien, die Insektenbestände in einer Region mindestens zehn Jahre lang erfasst haben. Das Augenmerk der Forscher galt dabei nicht den Entwicklungstrends einzelner Arten, sondern der Gesamthäufigkeit aller Insekten und der dadurch repräsentierten Biomasse.

Insgesamt ermittelten die Forscher für Landinsekten einen Rückgang um etwa neun Prozent pro Jahrzehnt. Die Schätzung ist deutlich geringer, als in vielen Einzelstudien angenommen wird, bestätigt aber einen anhaltenden Negativtrend. Dem steht allerdings eine Zunahme der Süßwasserinsekten in einer Größenordnung von fast elf Prozent pro Jahrzehnt gegenüber. Die stärkste Abnahme von Waldinsekten und die stärkste Zunahme von Wasserinsekten fanden die Forscher in Nordamerika. Dieser Trend verstärke sich auch in Europa in den letzten 15 Jahren.

Zu den an Süßwasser gebundenen Insekten zählen etwa Arten und Familien wie Wasserkäfer und -wanzen, Libellen, Köcherfliegen und nicht zuletzt Mücken. »Diesen Gruppen geht es sehr viel besser als noch vor 30 Jahren«, sagt van Klink. Das liege vor allem an einer zunehmend besseren Wasserqualität in vielen Ländern. Der Klimawandel spiele mittelbar eine Rolle, weil höhere Temperaturen es den Insekten ermöglichen, neue Regionen zu besiedeln. Und nicht zuletzt könne ein höherer Nährstoffeintrag in Gewässer einige Arten stark fördern, vor allem Mücken.

»Es kann sein, dass ein Vogel in Wassernähe heute genauso viel Nahrung findet wie vor 30 Jahren, nur in einer anderen Zusammensetzung«
Roel van Klink, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung in Leipzig

Eine Zunahme bestimmter Insektengruppen ist aber nicht zwangsläufig positiv: Wegen des Klimawandels breiten sich beispielsweise Arten aus, die Krankheiten wie Malaria oder das Dengue-Fieber auslösen. Und sich neu etablierende invasive Arten stützen Ökosysteme nicht, sondern bedrohen sie. »Größere Häufigkeit allein ist noch keine gute Nachricht«, betont auch van Klink. Gleichwohl denkt er, dass in einigen Bereichen eine größere Anzahl an Wasserinsekten die geringere Menge anderer Insektengruppen zumindest teilweise ausgleichen könnte: »Es kann sein, dass ein Vogel in Wassernähe heute genauso viel Nahrung findet wie vor 30 Jahren, nur in einer anderen Zusammensetzung«, sagt der Forscher. Allerdings seien Ökosysteme sehr komplex. Um zu prüfen, ob sie intakt seien, reiche es daher nicht aus, lediglich die gesamte Insektenbiomasse zu ermitteln. »Eine direkte Kompensation wird nur sehr selten stattfinden.« Und da Süßwasserlebensräume bloß 2,4 Prozent der Erde ausmachten, sei ein vollständiger Ausgleich des Landinsektenschwunds durch mehr Wasserinsekten ohnehin nicht möglich.

Ökolandwirtschaft allein reicht nicht

Ein weiteres überraschendes Ergebnis der Studie ist, dass die Insektenbestände in landwirtschaftlich genutzten Gebieten keine deutlichen Verluste aufweisen, in einigen Waldlebensräumen dagegen starke. »Wir verstehen nicht ganz genau, warum das der Fall ist«, räumt van Klink ein. Womöglich spielt hier eine Rolle, dass sich die Metaanalyse lediglich auf schon vorhandene Studien stützt – und die sind geografisch nicht gleichmäßig verteilt und oftmals nur schwer miteinander vergleichbar. Eine landwirtschaftliche Nutzfläche in Afrika oder Teilen Asiens dürfte sich in ihrem ökologischen Wert deutlich von intensiv bewirtschafteten Ackerflächen in Mitteleuropa unterscheiden. Ein weiteres Problem der Metaanalyse: Aus vielen Weltregionen gibt es keine oder nur wenige Langzeituntersuchungen zu Insekten. So habe man keine Daten etwa aus Gebieten am Amazonas, in denen binnen weniger Jahre aus üppigen tropischen Regenwäldern öde Sojaplantagen wurden. »Es gibt eigentlich keinen Zweifel, dass es dort weniger Insekten gibt als früher», sagt van Klink. »Das Gesamtergebnis unserer Studie hätte vielleicht schlechter ausgesehen, wenn wir viele Untersuchungen aus diesen Regionen hätten.«

»Hier zu Lande sieht es schlimmer aus als in anderen vergleichbaren Ländern wie etwa Großbritannien«
Roel van Klink, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung in Leipzig

Eine Entwarnung in Sachen Insektensterben lässt sich aus der Studie also nicht ableiten – das gilt besonders mit Blick auf Deutschland. Hier ermittelten die Forscher mit etwa zwei Prozent pro Jahr einen für Europa überdurchschnittlich hohen Rückgang. »Hier zu Lande sieht es schlimmer aus als in anderen vergleichbaren Ländern wie etwa Großbritannien«, stellt van Klink fest. Selbst in Naturschutzgebieten werde der Abwärtstrend nicht gebrochen. »Naturschutz in Deutschland funktioniert möglicherweise einfach nicht gut genug.« Allein auf Klimawandel und Landwirtschaft als Ursache für den Insektenrückgang in Landlebensräumen zu verweisen, greife ebenfalls zu kurz. Ein genereller Einfluss des Klimawandels auf den Rückgang der Landinsekten habe nicht nachgewiesen werden können. »Ich glaube nicht daran, dass ein Zurückschrauben der Intensivnutzung und des Pestizideinsatzes zur Erholung der Insektenbestände ausreicht«, sagt van Klink. Stattdessen sieht er weitere, gleichermaßen wichtige Treiber des Rückgangs, darunter Urbanisierung, Lichtverschmutzung, Dürre, Lebensraumzerstörung und die Fragmentierung der letzten Biotope.

Sorge vor Instrumentalisierung der Studie

Auch Thomas Fartmann, Professor am Institut für Biodiversitätsforschung der Uni Osnabrück und Ko-Autor eines kürzlich veröffentlichten internationalen Forscherappells für mehr Insektenschutz, sieht in der Zerstückelung der Landschaften ein Hauptproblem: »Wenn zwischen zwei geeigneten Lebensräumen fünf Kilometer Intensivstlandwirtschaft mit hohem Pestizideinsatz liegen, dann können die Tiere diese Barriere einfach nicht überwinden.« An der entscheidenden Rolle der Intensivlandwirtschaft für den Insektenrückgang lässt sich seiner Ansicht nach aber nicht deuteln. »Mehr als die Hälfte der Nutzfläche in Deutschland wird landwirtschaftlich genutzt, und die ist schon seit Jahrzehnten für Insekten beinahe wertlos«, ist sich Fartmann sicher. Seine gemeinsame mit internationalen Kollegen ausgesprochene Warnung vor dem Aussterben der Insekten sieht er weiterhin als dringlich an. »Sie ist alles andere als dramatisiert«, meint Fartmann.

Van Klink ist sich der Gefahr bewusst, dass seine Forschungsergebnisse von Leugnern eines Insektensterbens auf die Aussage verkürzt werden könnten, alles sei doch nur halb so schlimm. Gleichwohl fühle er sich als Wissenschaftler verpflichtet, nach bestem Wissen Informationen über die tatsächliche Lage zu liefern. »Wir müssen besser verstehen, was draußen passiert, nur so können wir die Ursachen bekämpfen.« Die wichtigste Erkenntnis der Analyse sei daher, dass sich die Lage der Insekten weltweit sehr unterschiedlich darstelle. Daraus könne man jedoch keine Entwarnung ableiten: »Unsere Daten zeigen, dass es Insekten nicht gut geht – aber es geht ihnen auch nicht überall schlecht.«

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