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Sport und Hirnentwicklung: Nichts als Bewegung im Kopf

Stefan Schneider untersucht für seine Forschung die Hirnaktivität von Astronauten, Ultralangstreckenläufern und Schulkindern. Alles, um einer Frage nachzugehen: Wie wirkt sich Sport auf unser Gehirn aus? "Spektrum.de" sprach mit dem Sport- und Neurowissenschaftler von der Deutschen Sporthochschule in Köln.
Schwimmer

Spektrum.de: Herr Professor Schneider, was passiert mit dem Gehirn, wenn wir uns bewegen?

Stefan Schneider: Wir müssen zwei verschiedene Komponenten voneinander trennen. Das eine sind rein funktionale, kurzfristige Veränderungen, zum zweiten gehören strukturelle Veränderungen, also Veränderungen an der Hirnmasse. Letztere sind insbesondere dort von Bedeutung, wo wir über Neurodegeneration sprechen. Wir wissen aus Studien mit Mäusen, dass es bei eingesperrten Tieren, die in ihrem natürlichen Bewegungsverhalten gehemmt werden, zu einem Abbau von Hirnzellen kommt. Wenn die Tiere hingegen in einem so genannten aufgewerteten – quasi natürlichen – Lebensraum leben, dann verlangsamt sich dieser Prozess. Man beobachtet dann sogar eine Neurogenese, also eine Neubildung von Nervenzellen in sensiblen Arealen des Gehirns wie beispielsweise dem Hippocampus.

Und welche kurzfristigen Effekte beobachtet man bei Sport?

Stefan Schneider | ist Sport- und Neurowissenschaftler sowie diplomierter Theologe an der Sporthochschule Köln und beschäftigt sich dort schwerpunktmäßig mit dem Einfluss veränderter Gravitationsbedingungen auf das Gehirn sowie dem Zusammenspiel körperlicher und geistiger Aktivität.

Das betrifft ganz klassisch die Stressreduktion. Neurophysiologisch spielt sie sich hauptsächlich im frontalen Kortex ab. Hier treten normalerweise auch Kopfschmerzen auf, wenn man unter zu viel Stress leidet. Das ähnelt dann einem Computer: Wenn man viele Programme gleichzeitig öffnet, ist irgendwann der Arbeitsspeicher voll. Es entsteht ein Memory Overflow – und genau das passiert auch bei unserem frontalen Kortex. Wir können uns einfach nicht mehr konzentrieren. Bewegung benutzt nun ein ganz anderes Hirnareal, den motorischen Kortex, der ein bisschen zentraler im Gehirn liegt.

Wie hängen diese beiden Areale zusammen?

Bewegung benötigt unheimliche Rechenressourcen. Roboter können heute zwar vieles besser als wir Menschen, aber es existiert immer noch keine Maschine, die vernünftig gehen kann. Dafür braucht man Feedback-Mechanismen, die noch kein Prozessor hinbekommt, weil sie in Echtzeit ablaufen müssen. Bewegung wird also komplett unterschätzt; bereits einfaches Gehen bedeutet eine riesige Rechenleistung für unser Gehirn. Je intensiver wir Sport treiben, desto mehr Ressourcen und desto mehr Energie verschlingt der motorische Kortex. Diese Aktivität wird folglich aus frontalen Bereichen abgezogen. Man kann sich das wie einen Flaschenhals vorstellen: Man kann nicht hochintensiv laufen und gleichzeitig schwierige Aufgaben lösen. Probieren Sie, in 7er-Schritten von 1384 rückwärts zu zählen, während Sie sportlich stark aktiv sind: Das geht nicht. Die Kapazitäten reichen nicht aus, gleichzeitig kognitiv zu denken. Das berichten viele Sportler: Sie bekommen beim Sport den Kopf frei – im wahrsten Sinn des Wortes.

Gibt es Sportarten, die dazu besser oder weniger geeignet sind?

An sich eignet sich jede Sportart. Grundsätzlich problematisch ist vielmehr, dass viele Menschen nicht so einfach abschalten können – meistens diejenigen, die sowieso eine Menge Stress haben. Für sie bedeutet Abschalten in der Wahrnehmung vergeudete Zeit. Wenn ich mich hochintensiv bewege, hab ich aber überhaupt keine andere Chance. Dann braucht dieser motorische Kortex-Computer so viel Energie, dass ich überhaupt keine Möglichkeit mehr habe, an irgendetwas anderes zu denken. Wir haben gerade eine Studie durchgeführt, in der Menschen drei Minuten lang boxten. Die Probanden waren nach diesen drei Minuten platt, glücklich und leistungsfähiger. Wir dürfen aber dennoch nicht alle Menschen über einen Kamm scheren, sondern müssen immer sehr genau das Individuum betrachten. Vielleicht macht dem einen Sport Spaß und dem anderen nicht, der sich lieber mit einem Glas Rotwein oder guter Musik am Abend erholt. Sport hat allerdings den großen Vorteil, dass wir sowohl etwas für den Körper als auch für den Geist tun.

Für Ihre Forschung beschäftigen Sie sich mit Polarforschern und Astronauten. Warum gerade mit denen?

Beide sind ein wunderbares Beispiel für "bewegungslose" Menschen. Mit dem Eintritt in die Schwerelosigkeit setzen Astronauten beispielsweise praktisch keine Muskeln mehr ein. Wenn sie etwas heben wollen, müssen sie es nur leicht anstupsen. Ihre Muskel- und Knochenmasse baut sich ab – und das in einem Tempo, den wir bei einem alten Menschen erst innerhalb von vier oder fünf Jahren sehen. Auf der ISS passiert das in knapp einem Monat. Dieser Zeitraffer ermöglicht es uns, auf zellulärer Ebene zu gucken, was dort eigentlich passiert. Das Gleiche gilt für die Isolation einer Antarktis- oder Raumstation: wenig Bewegungsspielraum, schlechtes Essen, eine Menge Arbeitsstress, hohe Arbeitsbelastung, alles muss perfekt sein, jeder Handgriff, der falsch ist, kann das Leben kosten. Es ist der Mensch, der in einer extrem stressigen Situation lebt und arbeitet – analog zu einem Großraumbüro mit Neonröhren. Und zugleich besteht von Seiten der ESA oder des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt ein hohes Interesse, diese Prozesse zu verstehen. Für sie stellt unsere Arbeit eine Art betriebliche Gesundheitsförderung dar. Und wir bemerken mit zunehmender Länge von Missionen, dass Sport das emotionale Wohlbefinden und die kognitive Leistungsfähigkeit positiv beeinflussen kann.

Welche Schlussfolgerungen können wir daraus für das alltägliche Leben auf der Erde ziehen?

Das fängt bei unseren Kindern an: Sie haben ein natürliches Bewegungsbedürfnis, doch wenn sie nur sitzen, bauen sie es irgendwann ab. Das wird Ihnen jeder Lehrer unterschreiben: Die Schüler sind nicht mehr aufmerksam und können sich nicht mehr konzentrieren. ADHS beispielsweise gehört derzeit zu den großen Themen, aber interessanterweise fällt dabei kaum Bewegung als Stichwort. Dieser Faktor wurde bislang kaum berücksichtigt. Verstehen Sie mich nicht falsch: ADHS ist eine komplexe Erkrankung, aber ich denke, dass in vielen Fällen den Kindern einfach die Möglichkeit fehlt, sich mal richtig auszutoben. In Studien konnten wir zeigen, dass sich sehr spezifische Veränderungen im Gehirn nach Sport ergeben, die in enger Korrelation zur kognitiven Leistungsfähigkeit in der Schule stehen.

Inwiefern?

Wir haben zwei Ideen verfolgt. Zum einen handelt es sich dabei um eine aktive Pause, in der Kinder mitten am Schultag zehn Minuten Fahrrad fuhren. Wir konnten in der Tat beobachten, dass die kognitiven Bereiche des Gehirns – also frontotemporale, frontale und temporale Areale – dabei eine deutliche Aktivitätsabnahme zeigten. Das war für viele ein Aha-Erlebnis, denn eigentlich ging man davon aus, dass das Gehirn angeregt werden müsse, um leistungsfähig zu sein. Aber es verhält sich genau umgekehrt: Ich muss natürlich gewisse Bereiche aktivieren, aber dafür eben auch mal ausschalten, um leistungsfähig zu bleiben. Das ist die Theorie der so genannten transienten Hypofrontalität, die Arne Dietrich von der American University of Beirut Anfang der 2000er Jahre entwickelt hat. Wir waren die Ersten, die diese Theorie mit harten Daten unterlegen konnten.

Was war der zweite Ansatz?

Dafür gingen wir in den Schulsport und haben vorher wie nachher die Hirnaktivität gemessen. Interessanterweise fanden wir aber gar nicht so viele positive Effekte. Deshalb stellten wir uns die Frage, welche Aufgabe der Schulsport hat. Dabei wurde mir erst bewusst, dass der Schulsport auch eine pädagogische Funktion hat. Es geht darum, miteinander Sport zu treiben, Bewegungen zu lernen, Fair Play zu verstehen. Vielleicht brauchen wir für eine verbesserte schulische Leistungsfähigkeit deshalb gar nicht mehr Schulsport, sondern mehrere über den Tag verteilte Bewegungspausen. Das belegt jedenfalls eine große Studie in Großbritannien: Schon 15 Minuten Sport am Tag beeinflussten die schulischen Ergebnisse nachhaltig positiv.

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