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Nobelpreise: Die Schattenseiten großer Entdeckungen

Der Nobelpreis feiert den wissenschaftlichen Triumph. Doch er wirft zugleich Fragen nach Macht, Verantwortung und den teils unvorhersehbaren Folgen von Grundlagenforschung auf.
Eine Schwarz-Weiß-Fotografie zeigt eine große Pilzwolke, die in den Himmel aufsteigt, mit einer darunter liegenden Landschaft. Die Wolke besteht aus dichtem Rauch und Dampf, der sich nach oben ausbreitet. Die Szene vermittelt den Eindruck einer massiven Explosion. Im Vordergrund sind Teile einer Stadt und Küstenlinie zu erkennen.
Beim weltweit ersten kriegerischen Einsatz einer Kernwaffe über der japanischen Stadt Hiroshima am Morgen des 6. August 1945 wurden rund 70 000 Personen sofort getötet. Insgesamt starben bis Ende 1945 schätzungsweise 140 000 Menschen an indirekten Folgen.

Als Otto Hahn im November 1945 der Chemie-Nobelpreis »für die Entdeckung der Kernspaltung von Atomen« zugesprochen wird, liegen die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki gerade erst wenige Monate zurück. Die Welt steht am Abgrund einer technischen Revolution, deren Folgen niemand mehr zurücknehmen kann. Nicht nur Hahn ist bewusst, dass die Verleihung vor diesem Hintergrund im moralischen Widerspruch steht zur Motivation des Preisstifters Alfred Nobel, es mögen diejenigen ausgezeichnet werden, die »im vergangenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen erbracht haben«. Und dennoch ist ebenso klar: Die Uranspaltung war eine unerwartete, rein wissenschaftliche Erkenntnis, der jahrzehntelange Forschungsbemühungen vieler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vorausgegangen waren.

Kaum eine Entdeckung hat gleichzeitig so viel Leid und Nutzen in die Welt gebracht wie die Spaltung schwerer Atomkerne. Sie bildet die Grundlage für emissionsarme Energiegewinnung und für grausame Massenvernichtungswaffen. Sie enthüllt eine fundamentale Eigenschaft der Natur, und ihre Anwendung ist Ausdruck menschlichen Erfindungsreichtums. Doch das Beispiel steht auch wie kein anderes für die Frage nach der Verantwortung des Wissenschaftlers. Trägt Otto Hahn Mitschuld an der Atombombe, weil er die entscheidende Entdeckung machte? Kann ein einzelnes Individuum die Tragweite der eigenen wissenschaftlichen Arbeit überhaupt überblicken und für unbeabsichtigte Folgen verantwortlich gemacht werden?

»Der Inhalt der Physik geht die Physiker an, die Auswirkungen alle Menschen«Friedrich Dürrenmatt, in »Die Physiker«

Diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des wissenschaftlichen Fortschritts. Der Beginn des Atomzeitalters markiert jedoch einen vorläufigen Höhepunkt der Debatte. Das zeigt sich auch daran, dass die Thematik in den 1950er und 1960er Jahren Eingang fand in die Literatur, etwa in Heinar Kipphardts »In der Sache J. Robert Oppenheimer« oder in Friedrich Dürrenmatts »Die Physiker«. Bei Dürrenmatt heißt es an zentraler Stelle: »Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.« Und: »Der Inhalt der Physik geht die Physiker an, die Auswirkungen alle Menschen.« Dürrenmatt diskutiert darin anhand fiktiver Charaktere den Zwiespalt, ob Erkenntnisse, die möglicherweise verheerende Folgen haben, besser verschwiegen oder doch gemäß der Freiheit der Forschung veröffentlicht werden sollten. Kipphardt arbeitet die amerikanischen Bemühungen zum Bau der Atombombe auf und den inneren Konflikt der beteiligten Wissenschaftler – zwischen der Loyalität gegenüber dem Staat auf der einen Seite und der Verantwortung gegenüber der Menschheit auf der anderen.

Angesichts solcher Gedanken bereitet der Nobelpreis als Symbol größter wissenschaftlicher Leistung die Bühne für ein paradoxes Drama: Im Augenblick der höchsten Auszeichnung verdichtet sich die moralische Last.

Zweifelhafter Nutzen für die Menschheit

Denn nicht nur bei der Uranspaltung zeigt sich die »großartige, wenngleich manchmal auch furchtbare Macht der Wissenschaft« (»the great and sometimes terrible power of science«), wie es auf einer Schautafel im Stockholmer Nobel-Museum heißt. Etliche weitere Beispiele zeigen, dass mit dem weltweit angesehensten Forschungspreis zahlreiche wissenschaftliche Errungenschaften ausgezeichnet wurden, die sich später als mindestens ambivalent herausstellten.

So wurde Paul Müller im Jahr 1948 mit dem Medizin-Nobelpreis geehrt »für die Entdeckung der starken Wirkung von DDT als Kontaktgift gegen mehrere Arthropoden«. Wegen seiner guten Wirksamkeit gegen Insekten, der geringen Toxizität für Säugetiere und des einfachen Herstellungsverfahrens war es jahrzehntelang das weltweit meistverwendete Insektizid. Mit ihrem Buch »Der stumme Frühling« enthüllte die Biologin Rachel Carson im Jahr 1962 öffentlichkeitswirksam, dass DDT und einige seiner Abbauprodukte hormonähnliche Wirkungen zeigen, es schädlich für Vögel ist und möglicherweise krebserregend. 1972 wurde der Einsatz von DDT in den USA verboten und später auch in anderen Ländern mindestens stark eingeschränkt.

Im Jahr 1949 erhielt António Egas Moniz den Medizin-Nobelpreis »für die Entdeckung des therapeutischen Wertes der präfrontalen Leukotomie bei gewissen Psychosen«. Bei dieser neurochirurgischen Operation werden Nervenbahnen zwischen Thalamus und Frontallappen im Gehirn durchtrennt. Sie wurde ursprünglich zur Ausschaltung von Schmerzen und bei extrem schweren Fällen psychischer Erkrankungen angewendet. Der Eingriff gilt heute als Beispiel für medizinische Grausamkeit und Sinnbild für die Missachtung von Patientenrechten zu jener Zeit.

Otto Hahn und Lise Meitner | Der Chemiker und die Physikerin waren langjährige Kollegen und Freunde. Während Hahn den experimentellen Nachweis der Kernspaltung erbrachte, lieferte Meitner die entscheidende theoretische Erklärung. Hier sind beide im Jahr 1925 zu sehen in einem Labor am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin.

Und nicht zu vergessen: Auch die Leistung Alfred Nobels selbst ist nicht unumstritten. Mit der Erfindung des Dynamits beschleunigte er den Eisenbahn- und Straßenbau erheblich, zugleich aber machte eine andere Entwicklung aus seiner Werkstatt, das Ballistit, Artilleriegeschütze erheblich leistungsfähiger. Noch zu Lebzeiten hieß es in einer französischen Zeitung über ihn, er habe das Mittel gefunden, »mehr Menschen schneller als jemals zuvor zu töten«. Alfred Nobel soll über diese Darstellung entsetzt gewesen sein und daraufhin damit begonnen haben, sich obsessiv mit der Frage zu beschäftigen, wie ihn die Nachwelt sehen würde – was manchen Einschätzungen zufolge dazu geführt haben könnte, dass er den berühmten Forschungspreis stiftete.

Gesellschaftliche und politische Debatten nicht scheuen

Und auch heute steht die Wissenschaft an solchen Schwellen. Die Gentechnik, insbesondere das CRISPR-Cas9-Verfahren, verspricht einerseits Heilung für bisher unbezwingbare Krankheiten – und bietet zugleich die Möglichkeit, Gene auf eine Weise zu manipulieren, die tief in das Menschenbild eingreift. Stichwort: Designerbabys. Künstliche Intelligenz revolutioniert Medizin, Industrie und Kommunikation, während zugleich Ängste vor Überwachung, veränderter Arbeitswelt und Kontrollverlust wachsen. Der Klimawandel wiederum zeigt, dass wissenschaftliche Erkenntnis allein nicht genügt: Sie muss politisch umgesetzt und gesellschaftlich getragen werden, sonst bleibt sie wirkungslos.

In all diesen Fällen tritt dasselbe Dilemma zutage wie einst bei Hahn: Der Moment des wissenschaftlichen Triumphs ist untrennbar mit der Frage verbunden, wie sich Macht, Verantwortung und moralische Grenzen miteinander vereinbaren lassen. Der neugierige Entdecker kann sich nicht lossagen von seiner ethischen Verantwortung. Er kann sich nicht darauf zurückziehen, »nur« die Grundlagen geliefert zu haben. Das Ausweichen in die Naivität zerbricht, wenn die Folgen unübersehbar werden. Können Forscher also schon nicht die möglichen Konsequenzen ihrer Arbeit zu jeder Zeit überblicken, sollten sie sich doch in gesellschaftliche und politische Debatten einbringen, die ihre Forschung betreffen. Wer Erkenntnis schafft, sollte auch die damit verbundene Macht bedenken.

Otto Hahn, Werner Heisenberg, Max Born und 15 andere Wissenschaftler taten genau das. In einer gemeinsamen Erklärung, Göttinger Manifest genannt, wandten sie sich gegen die in den 1950er Jahren von Bundeskanzler Konrad Adenauer und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß angestrebte Aufrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen. Sie betonten darin, dass ihre »Tätigkeit der reinen Wissenschaft und ihrer Anwendung gilt«, aber benannten auch klar das Wissen um ihre »Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätigkeit«. Man könne deshalb »nicht zu allen politischen Fragen schweigen«.

»Wir hätten weder geglaubt noch gewünscht, dass die Nutzbarmachung der Spaltenergie der Atomkerne schon nach wenigen Jahren einen so drastischen Beweis ihrer Durchführbarkeit erbringen würde«Otto Hahn, Chemiker

Und doch: Die wissenschaftliche Erkenntnis an sich ist nicht gefährlich – gefährlich ist erst das, was möglicherweise daraus gemacht wird. Die Verantwortung dafür kann nicht allein beim Wissenschaftler liegen, sondern muss auch – oder sogar vor allem – bei Politik, Wirtschaft und Militär gesucht werden. Erst die Erfindung, die eine Entdeckung nutzbar macht, birgt das eigentliche Risiko. So sagte Carl Friedrich von Weizsäcker, deutscher Physiker, Philosoph und Zeitgenosse von Otto Hahn, in einem Vortrag im Jahr 1957, es stelle sich nicht die Frage »nach der Verantwortung der Wissenschaft für das Atomzeitalter, sondern nach der Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter«.

Hoffnung, aber auch Verantwortung

Otto Hahn jedenfalls fühlte sich persönlich mitschuldig. Er soll in eine tiefe Depression verfallen und sogar Suizidgedanken gehabt haben, heißt es in autobiografischen Notizen. In einem Vortrag aus dem Jahr 1952 erklärt er: »Wir [Fritz Straßmann, Lise Meitner und Otto Hahn] hätten weder geglaubt noch gewünscht, dass die Nutzbarmachung der Spaltenergie der Atomkerne schon nach wenigen Jahren einen so drastischen Beweis ihrer Durchführbarkeit erbringen würde, wie es die Atombomben gezeigt haben.« Er habe absolut nicht geahnt, dass die Spaltung des Urans so folgenschwere Auswirkungen nach sich ziehen würde. Weggefährten berichten später, er sei am Rand der Verzweiflung gewesen, als er aus den Nachrichten von den schrecklichen Ereignissen in Hiroshima und Nagasaki erfuhr. Es muss der Moment gewesen sein, in dem Hahn beschloss, sich künftig auf internationaler Bühne für die friedliche Nutzung der Kernenergie und für die Völkerverständigung einzusetzen.

Und so ist der Nobelpreis bei aller Kritik auch ein Zeichen der Hoffnung. Er ehrt den Erfindungsgeist, der die Menschen über sich hinauswachsen lässt, belohnt den Mut, Neuland zu betreten, und würdigt die Beharrlichkeit, gegen alle Widerstände nach Erkenntnis zu streben. Viele der ausgezeichneten Arbeiten haben dazu beigetragen, Krankheiten zu besiegen, oder unser Verständnis der Welt entscheidend vertieft. So bleibt der Nobelpreis bei aller Ambivalenz ein Symbol für das Beste, was menschliche Neugier und Kreativität hervorbringen können – und ein Appell, dass wissenschaftliche Exzellenz immer auch mit Verantwortung verbunden ist.

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