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Nostalgie: Sehnsucht nach gestern

Wer ab und zu wehmütig in Erinnerungen schwelgt, ist optimistischer, zufriedener und selbstbewusster. Doch Vorsicht: Das Gefühl kann auch leicht missbraucht werden.
Eiffelturm

Wir schmücken unsere Wohnung mit Fotos, die wichtige Ereignisse unseres Lebens abbilden, backen Omas Apfelkuchenrezept nach und schauen im Kino gern Filme an, die an alte Zeiten erinnern. Und warum das alles? Weil es häufig ein wohliges Gefühl erzeugt.

Nostalgie wurde lange als negativ abgetan. Im 17. Jahrhundert verfasste der Mediziner Johannes Hofer seine Doktorarbeit über das Leiden der Schweizer Söldner, die für reiche Fürsten in den Krieg zogen. Weit entfernt von zu Hause plagten sie Gedanken an die Heimat. Die »Krankheit«, die wir heute als starkes Heimweh bezeichnen würden, nannte er damals Nostalgie.

Erst in den 1970er Jahren stellte der Soziologe Fred Davis in seinem Buch »Yearning for Yesterday: A Sociology of Nostalgia« diese Auffassung in Frage und entdeckte als Erster die positiven Seiten der Nostalgie. Er bemerkte, dass Kindheitserinnerungen häufig Empfindungen wie Geborgenheit auslösen. Daher hielt er die sentimentale Rückschau für ein wichtiges Werkzeug, um eine eigene Identität schaffen und festigen zu können. Damals stieß seine Annahme auf Kritik; doch zahlreiche Experimente der vergangenen 15 Jahre legen nahe, dass er Recht hatte – und dass die positiven Effekte weit über ein kurzfristiges gutes Gefühl hinausgehen.

Zwei von uns (Constantine Sedikides und Tim Wildschut) identifizierten gemeinsam mit anderen drei Funktionen der Nostalgie: eine Selbstorientierungsfunktion, die das Selbstbewusstsein und positive Sichtweisen stärkt; eine Existenzfunktion, die den Blick für die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens schärft; und eine Sozialfunktion, die die Verbundenheit mit lieb gewonnenen Menschen festigt. Dass Menschen ihr Zuhause häufig mit Hochzeits- und Kindheitsfotos dekorieren oder andere Nostalgie auslösende Reize suchen, könnte daher weniger Zufall als vielmehr eine unbewusste Entscheidung sein, sich für bestimmte Situationen mit nostalgischen Reizen zu wappnen.

Haben Sie sich schon einmal gefragt, ob Sie eine anstehende Herausforderung – eine Prüfung, ein schwieriges Projekt oder aktuelles Problem – meistern werden? Nostalgie könnte Ihnen dann helfen, und zwar getreu §3 des Rheinischen Grundgesetzes: »Et hätt noch emmer joot jejange« (auf Hochdeutsch: Es ist noch immer gut gegangen). Gezielt daran zurückzudenken, dass man in der Vergangenheit bereits ähnliche Schwierigkeiten bewältigt hat, macht zuversichtlich und selbstbewusst. Ein Team um die Sozialpsychologin Wing-Yee Cheung bat beispielsweise 2013 einen Teil ihrer Versuchspersonen, sich an ein nostalgisch stimmendes Ereignis zu erinnern. Andere sollten stattdessen an ein gewöhnliches Erlebnis ohne sentimentalen Wert denken. Wie sich zeigte, erzeugten lediglich erstere Gedächtnisinhalte Optimismus.

»Et hätt noch emmer joot jejange« – auf Hochdeutsch: Es ist noch immer gut gegangen

Des Weiteren trägt Nostalgie dazu bei, dass Menschen mit ihrem Leben zufrieden sind und es als sinnvoll erachten. Das verdeutlichte eine Arbeitsgruppe um den US-amerikanischen Psychologen Clay Routledge von der North Dakota State University 2011 in mehreren Experimenten. Wenn Teilnehmende Songtexte lasen, die Nostalgie in ihnen auslösten, sahen sie in ihrem Tun mehr Sinn als Personen einer Kontrollgruppe. Darüber hinaus bewerteten jene, die häufig Nostalgie verspüren, ihr Dasein als wichtiger und fühlten sich stärker mit anderen verbunden.

Psychologen um Wijnand Van Tilburg vom King’s College London fragten sich, wie diese Einschätzung entsteht. Sie entdeckten 2019, dass Nostalgie ein Gefühl der Selbstkontinuität erzeugen kann – dass es also einen »roten Faden« im Leben gibt und dass wichtige Persönlichkeitsmerkmale und Werte über die Zeit hinweg bestehen bleiben. Diese Empfindung ist eng mit dem Sinnerleben verknüpft. Sie kann uns demnach unterstützen, indem sie uns daran erinnert, was wirklich zählt.

Nostalgie: Bittersüß und international

Laut verschiedenen Studien vereint Nostalgie sowohl positive als auch negative Gefühle in sich. Denn bei aller Freude, allem Stolz und aller Verbundenheit mit Personen, die Erfahrungen mit uns geteilt haben, gehört zum sentimentalen Erinnern auch die Erkenntnis, dass ein Moment der Vergangenheit angehört und unwiderruflich vorbei ist. Im Deutschen beschreibt das Wort Wehmut diesen Aspekt wohl am besten. Ein internationales Forscherteam um Constantine Sedikides definierte Nostalgie 2015 daher als eine bittersüße, jedoch vor allem positive und grundlegende soziale Emotion, die ausgelöst wird, wenn man an bedeutsame Erlebnisse zurückdenkt.

Ist das Gefühl überall auf der Welt verbreitet? Dieser Frage gingen 20 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 18 Ländern in einem gemeinsamen Forschungsprojekt nach.

Das Ergebnis: Nostalgie wird in verschiedenen Kulturen trotz mancher Unterschiede ähnlich erlebt. Sie scheint also ein universelles Phänomen zu sein. Wie bildgebende Untersuchungen nahelegen, zeichnet es sich dadurch aus, dass in unserem Gehirn gleichzeitig Areale aktiv sind, die sowohl mit dem Gedächtnis als auch mit Belohnungen zusammenhängen.

Natürliches Gegenmittel bei Einsamkeit

Wer einmal in eine fremde Stadt gezogen ist, kennt das: Es dauert, sich einen neuen Freundeskreis aufzubauen. Und jedes Mal, wenn man sich einsam fühlt, in die alte Heimat zu fahren, scheint auch keine sinnvolle Strategie zu sein. Denn das kostet viel Zeit, die man eigentlich dafür braucht, um vor Ort neue Kontakte zu knüpfen. In mehreren Experimenten verdeutlichte ein Team um die Psychologin Xinyue Zhou von der Zhejiang-Universität 2008, dass Nostalgie als natürliches Gegenmittel bei Einsamkeit wirkt: Einsame Menschen fühlen sich kaum sozial unterstützt. Zugleich löst Einsamkeit aber nostalgische Gefühle aus, die wiederum die Verbundenheit mit anderen erhöhen. Erstaunlicherweise trat dieser Effekt vor allem bei Menschen mit hoher Resilienz auf, also mit der Fähigkeit, Krisen zu bewältigen. Die Wissenschaftler sehen Nostalgie daher als eine psychologische Ressource an, die uns stärken und unser Wohlbefinden selbst unter Widrigkeiten schützen und erhalten kann.

Alte Fernsehserien aus der Jugendzeit auf Youtube oder Netflix anzuschauen oder 1980er- oder 1990er-Partys aufzusuchen, ist demnach keine sinnlose Zeitverschwendung. Wie einer von uns (Tim Wulf) in mehreren 2018 veröffentlichten Untersuchungen verdeutlichte, fühlen sich Menschen durch nostalgische Medieninhalte wie Serien ihrer Kindheit nicht nur auf besondere Weise unterhalten, sondern können dabei auch über sich selbst und ihre Entwicklung nachdenken. Laut James Bonus von der Ohio State University vergleichen Menschen sich dabei mit der Person, die sie früher einmal waren. Der Kommunikationswissenschaftler entdeckte, dass Studierende zufriedener mit ihrem derzeitigen Leben waren, nachdem sie Popmusik aus ihrer Schulzeit gehört hatten, als nach aktuellen Charthits. Sollten sie sich beim Anhören darauf konzentrieren, wie sie innerlich gewachsen und gereift waren, verstärkte das den Effekt noch.

Vornehmlich die Werbeindustrie nutzt die Attraktivität nostalgischer Reize seit Längerem. Dass Menschen Produkte bevorzugen, die positiv mit vergangenen Zeiten assoziiert sind, verdeutlichten 2007 Jeremy J. Sierra von der Texas State University und Shaun McQuitty von der Athabasca University für diverse Konsumgüter wie Spielzeug, Musik und Bücher. Nostalgie, so die Wirtschaftswissenschaftler, sei ein faszinierend erfolgreiches Verkaufsargument, das einen Wettbewerbsvorteil bringe. Eltern, die ihren Kindern Spielsachen kaufen, mit denen sie einst selbst spielten, oder Kaltgetränke im Retrolook, die das Lebensgefühl von damals erlebbar machen sollen, sind nur einige Beispiele dafür, wie Werbung sentimentale Gefühle nutzt.

Darüber hinaus erzeugen Marketingexperten auch gern eine »kollektive Nostalgie«. Sie entsteht durch Erinnerungen, die man mit einer sozialen Gruppe teilt. Die Ökonomin Marika Dimitriadou vom Business College of Athens wies 2019 gemeinsam mit ihren Kollegen nach, dass diese Form der Nostalgie die Präferenz für inländische (in diesem Fall griechische) Produkte erhöhen kann. Werbeschaffende könnten daher versuchen, Ereignisse, die eine Nation geprägt haben, zu nutzen, um inländische und regionale Waren zu vermarkten – etwa den Fall der Berliner Mauer oder die gewonnene Fußballweltmeisterschaft in der Nachkriegszeit 1954.

Alte Fernsehserien aus der Jugendzeit auf Youtube oder Netflix anzuschauen, ist keine sinnlose Zeitverschwendung

Problematisch kann die Überzeugungskraft der Nostalgie vor allem dann werden, wenn es nicht um Spielsachen oder Filme geht, sondern um gesellschaftliche Ansichten, politische Ideologien oder extremistisches Gedankengut. So schrieb der britische Politologe Michael Kenny von der University of Cambridge 2017, Nostalgie sei eng mit dem Populismus verknüpft, der sich zum Beispiel im Brexit-Referendum und der Wahl von Donald Trump niedergeschlagen habe. Austrittsbefürworter wie Liam Fox und Boris Johnson, so Kenny, hätten sich bei ihrer Argumentation am kulturell verankerten Bild von Großbritannien als einstiger See- und Imperialmacht bedient, die nun endlich aus den Fesseln einer bürokratischen Europäischen Union befreit werden müsse. Mit einer ähnlichen Botschaft (»Make America great again«) gewann Donald Trump 2016 die Wahlen zum US-Präsidenten. Und auch in Deutschland verwenden Demonstrierende der Pegida-Bewegung Begriffe und Parolen der friedlichen Revolution von 1989 wie »Montagsdemonstrationen« oder »Wir sind das Volk« erneut, um 30 Jahre später ganz andere politische Ziele zu verfolgen. Wie die Sozialwissenschaftlerin Anouk Smeekes von der Universität Utrecht 2015 zeigte, identifizierten sich niederländische Versuchspersonen mit größerer kollektiver Nostalgie tatsächlich mehr mit ihrer niederländischen Identität, hatten ein stärkeres Bedürfnis, ihre Nation zu schützen, und wiesen mehr Vorurteile gegenüber anderen sozialen Gruppen wie etwa Immigranten auf. Wirbt jemand mit den »guten alten Zeiten«, sollten wir daher stets über die dahintersteckenden Motive nachdenken.

Annäherung und Motivationsschub

Obwohl Nostalgie also für wirtschaftliche, politische und ideologische Zwecke benutzt werden kann, sollten wir nicht vergessen, wie wohltuend sie bisweilen wirkt – und welche Chancen das ermöglicht. Ein interdisziplinäres Team um die Sozialwissenschaftlerin Borja Martinovic befragte in Australien lebende Kroaten, Serben und Bosniaken, die während der Jugoslawienkriege in den 1990er Jahren geflohen waren. Wer nostalgisch auf eine gemeinsame jugoslawische Identität zurückblickte, hatte mehr Kontakt zu Menschen der jeweils anderen Ethnien und gab diesen weniger die Schuld am Konflikt. Kollektive Nostalgie kann also möglicherweise dazu führen, dass sich unterschiedliche Gruppen mit einer gemeinsamen Vergangenheit einander wieder annähern.

Auch im Arbeitsalltag können uns solche Gefühle helfen. So entdeckte ein Team um den Verhaltensethiker Marius van Dijke von der Rotterdam School of Business in einer Reihe von Studien: Nostalgie ermöglicht es, besser mit im Beruf erlebten Ungerechtigkeiten umzugehen, etwa wenn man das Gefühl hat, vom Vorgesetzten mit weniger Feingefühl und Respekt behandelt zu werden als andere Kolleginnen und Kollegen. Indem Nostalgie die soziale Verbundenheit stärkt, steigert sie auch die Motivation und Leistung. Wie zwei von uns (Wildschut und Sedikides) 2018 mit einem Team von der University of Southampton in Experimenten zeigen konnten, erleben Angestellte ihre eigene Tätigkeit dadurch wieder als sinnvoll und Gewinn bringend – und denken seltener über eine Kündigung nach. Der Effekt trat vor allem bei Mitarbeitern mit hohen Werten auf einer Burnout-Skala auf.

In der Gerontologie könnte die nostalgische Rückschau ebenfalls Positives bewirken. Erste Hinweise, dass Menschen mit Demenz davon profitieren, lieferten im Jahr 2018 Gesundheitswissenschaftler um Sanda Umar Ismail von der University of the West of England in Bristol. Betroffene, die sich an ein sentimentales Erlebnis erinnern oder sich Nostalgie auslösende Lieder anhören sollten, fühlten sich anschließend weniger einsam, waren optimistischer, empfanden ihr Leben als sinnvoller und sahen darin eher einen roten Faden als jene in einer Kontrollgruppe.

Was können wir nun selbst tun, um im Alltag von nostalgischen Gefühlen zu profitieren? Wir können sie bewusst erzeugen, indem wir hin und wieder die Musik früherer Lieblingsbands auf uns wirken lassen oder alte Fotoalben durchforsten. Gerade in Momenten, in denen wir traurig, überfordert oder einsam sind, kann uns das stärken. Dennoch dürfen wir bei allem Charme der vergangenen Zeiten nicht vergessen, dass früher eben nicht alles besser war – und sollten würdigen, was sich in unserem Leben zum Positiven verändert hat. Auf diese Weise hilft uns der Blick in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft optimistisch entgegenzublicken.

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  • Quellen

Bonus, J. A.: Who I am is not who I was: Temporal comparisons mediate the effect of listening to nostalgic music on well-being. Communication Research 10.1177/0093650218793806, 2018

Dimitriadou, M. et al.: Applied collective nostalgia and domestic country bias. Journal of Experimental Psychology, 2019

Hepper, E. G. et al.: Pancultural nostalgia: Prototypical conceptions across cultures. Emotion 14(1), doi:10.1037/a0036790, 2014

Ismail, S. et al.: Psychological and mnemonic benefits of nostalgia for people with dementia. Journal of Alzheimer’s Disease, 65, 2018

Martinovic, B. et al.: Collective memory of a dissolved country: Group-based nostalgia and guilt assignment as predictors of interethnic relations between diaspora groups from former Yugoslavia. Journal of Social and Political Psychology 5, 2017

Sedikides, C. et al.: To nostalgize: Mixing memory with affect and desire. Advances in Experimental Social Psychology 51, 2015

Van Tilburg, W. A. et al.: How nostalgia infuses life with meaning: From social connectedness to self‐continuity. European Journal of Social Psychology 49, 2019

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