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News: Oberfläche mit Tiefgang

Wie sieht eigentlich die Oberfläche eines Kristalls aus? Diese zunächst einfach erscheinende Frage ließ sich bislang nur wenig zufriedenstellend beantworten.
Strontiumtitanat
Bastelstunde im Chemieunterricht: Der Lehrer holt einige Kästen mit vielen bunten Kugeln und Verbindungsstäben aus dem Schrank. Kristallgitter sollen gebaut werden. Und dazu müssen Stäbchen und Kugeln so zueinander finden, dass sie der Zeichnung an der Tafel entsprechen. Das funktioniert auch ganz gut, doch bleiben an den Rändern des Modells stets Kugeln übrig, in deren Löcher eigentlich noch ein Stäbchen – also eine Bindung – passen würde. Kann das sein? Wären so frei umher baumelnde Bindungen nicht energetisch sehr ungünstig?

Tatsächlich gehen Chemiker davon, dass sich die Atome an der Oberfläche von Kristallen umarrangieren und hier deshalb eine Geometrie entsteht, die sich deutlich vom inneren Aufbau des Materials unterscheidet. "Bemerkenswerterweise hatten wir ungeachtet ihrer Bedeutung – von einer Handvoll elementarer und einfacher binärer Materialien abgesehen – keine Kenntnis der wirklichen Struktur der meisten Kristalloberflächen", gesteht Michael O'Keeffe, seines Zeichens Chemiker an der Arizona State University in Tempe. Dabei sind es gerade die Oberflächen, die manchen Materialien ihre einzigartigen Eigenschaften verleihen.

Für katalytische Prozesse sind beispielsweise die chemischen Prozesse an der Oberfläche eines Materials entscheidend, und auch beim Wachstum mehrerer hauchdünner Materiallagen übereinander, wie sie die Halbleiterindustrie hervorbringt, spielen die Grenzschichten eine große Rolle – Grund genug also, einmal einen eingehenderen Blick auf die Oberfläche eines komplizierteren Kristalls zu werfen.

Das gelang nun Natasha Erdman und ihren Kollegen von der Northwestern University in Evanston unter Einsatz hochauflösender Elektronenmikroskopie und so genannten ab-initio-Modellrechnungen, mit denen sie die elektronische Struktur der Oberflächenatome nachstellten. Untersucht wurde die Verbindung Strontiumtitanat (SrTiO3), die in einer Perowskit-Struktur vorliegt. Dabei handelt es sich um ein kubisches Gitter aus TiO6-Oktaedern (das Titanatom sitzt in der Mitte der Oktaeder), die sich nur an den Ecken – den Sauerstoffatomen – berühren; die Strontiumatome befinden sich in den Lücken zwischen den Oktaedern.

Solche Perowskite besitzen eine weite Palette von Eigenschaften: So ist das Bariumtitanat (BaTiO3) quasi der Prototyp eines Ferroelektrikums – eines Materials, das auch ohne äußeres elektrisches Feld eine elektrische Polarisation aufbaut. Lanthan-Mangan-Oxide weisen andererseits eine besonders hohe Widerstandsänderung bei Anlegen eines Magnetfeldes auf (colossal magnetoresistance). Und das Perowskit-ähnliche Lanthankupferoxid leitet bei tiefen Temperaturen widerstandslos den Strom – ist also ein Supraleiter.

Doch wie sieht nun die Oberfläche des Strontiumtitanat aus? Da man sich den Kristall auch aus TiO2- und SrO-Lagen aufgebaut denken kann, wäre es zunächst sicherlich naheliegend, dass eine dieser beiden Lagen die Grenzfläche bildet. Doch dem ist nicht so. Denn, wie Erdman und ihr Team herausfanden, schließen gleich zwei Lagen TiO2 den Kristall ab, wobei die Atome an der Oberfläche anders arrangiert sind als im Inneren des Kristalls. So sitzen die TiO2-Polyeder der obersten Schicht nun zwischen den Spitzen der darunter liegenden Oktaeder und haben nicht nur eine Ecke mit ihrem jeweiligen Nachbarn gemeinsam, sondern gleich eine ganze Kante. Anders als im restlichen Festkörper scharen die Titanatome hier auch nicht sechs Sauerstoffatome um sich, sondern nur fünf.

Auf den zweiten Blick ist diese Struktur gar nicht mehr so ungewöhnlich, da sie offenbar auch im Inneren einiger binärer Übergangsmetall-Kristalle auftaucht. Wenngleich die Forscher vermuten, dass sich diese Struktur auch für alle weiteren Perowskite verallgemeinern lässt, vermutet O'Keeffe jedoch, dass auch andere Umstrukturierungen an der Oberfläche auftreten. Nichtsdestotrotz sieht er schon eine neue Ära der Oberflächenkristallographie anbrechen – der "Beginn einer langen und sicherlich interessanten Geschichte", wie er meint.

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