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Ökologie: Höher lebt kein Säugetier

Lange hielt man mumifizierte Exemplare auf hohen Vulkanen für Mitbringsel der Inkas. Doch die Punta-de-Vacas-Blattohrmaus überlebt tatsächlich an einem Extremort der Erde.
Eine Hand in einem weißen Handschuh hält ein Exemplar der Punta-de-Vacas-Blattohrmäuse. Im Hintergrund sieht man eine chilenische Wüstenlandschaft vor blauem Himmel.

Schon vor Jahrhunderten bestiegen Inkas die eisigen und trockenen Höhen von Vulkanen in der Atacama: Sie errichteten dort kleine Bauten und bestatteten tote Kinder, die erst im 20. Jahrhundert von Archäologen entdeckt wurden. Neben den Menschen fanden die Wissenschaftler auch mumifizierte Mäuse, selbst in Höhen jenseits von 6000 Metern – in einer extrem lebensfeindlichen Umgebung mit wenig Sauerstoff, fast ständigem Frost und quasi permanenter Trockenheit. Rasch kamen sie daher zum Schluss, dass diese ebenfalls von den Inkas hierhergebracht worden sind. Doch das war ein Fehlschluss, wie eine Studie von Jay Storz von der University of Nebraska in Lincoln und seinem Team in »Current Biology« zeigt.

Die Gipfel der Vulkane wie des 6700 Meter hohen Llullaillaco oder des 6200 Meter hohen Púlar dienten als Altäre für eine Zeremonie namens Capacocha, das rituelle Opfern von Kindern an verschiedene Inka-Götter. Die Punta-de-Vacas-Blattohrmäuse (Phyllotis vaccarum) könnten dann als blinde Passagiere im Brennholz oder anderen Vorräten in diese Höhen gelangt sein, wo sie verendeten. Alternativ galten sie als Tieropfer, die bisweilen mit Menschen getötet wurden. So weit die Hypothesen. Doch Storz fing zusammen mit einem Kollegen 2020 tatsächlich eine lebende Blattohrmaus in Gipfelnähe des Llullaillaco, was erste Zweifel säte.

Anschließend fingen die Forscher weitere lebende Exemplare der zähen Nager und sammelten insgesamt 13 gefriergetrocknete Kadaver auf verschiedenen Vulkanen der Region ein, die sie schließlich im Labor untersuchen konnten. Mit Hilfe der Kohlenstoffisotopenanalyse konnten sie den Todeszeitraum mehrerer Tiere bestimmen: Alle waren demzufolge nach 1955 gestorben und damit bedeutend jünger als die Mumien, die auf dem Pùlar entdeckt worden waren. Diese datieren auf die Zeit um 1650.

Panoramablick über die Vulkangipfel der Atacama | Dieser Lebensraum gehört zu den lebensfeindlichsten der Erde: extreme Temperaturen, wenig Sauerstoff, kaum Wasser. Und doch überleben hier Mäuse.

»Es scheint nun immer klarer zu werden, dass die Mäuse von selbst dorthin gelangt sind«, sagt Storz. Dank der Mumifizierung konnte die Arbeitsgruppe DNA aus den Kadavern gewinnen, die sie mit dem Erbgut lebender Exemplare aus tieferen Höhenlagen verglich. Unterschiede stellte sie jedoch kaum fest: Es handelt sich bei den Blattohrmäusen aus den Gipfellagen demnach nicht um eine eigene Untergruppe oder Unterart. Stattdessen bilden sie einen Teil des Gesamtbestands der Punta-de-Vacas-Blattohrmäuse, dessen Lebensraum sich von den tieferen Lagen der Atacama bis zu den höchsten Gipfeln zieht.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit vermehren sich die Nager sogar in den sauerstoffarmen Höhenlagen und wandern nicht nur dort hinauf: Mehrere gefundene Mäuse waren sehr eng miteinander verwandt und entweder Eltern und Nachwuchs oder Geschwister. Storz ist deshalb sehr fasziniert von den Überlebenskünstlern: »Schon am Fuß der Vulkane leben die Mäuse in einer extremen, marsähnlichen Umgebung«, sagt er. »Und auf den Gipfeln der Vulkane ist es sogar noch extremer. Es fühlt sich an wie im Weltraum.« Womöglich suchen die Mäuse die Höhenlagen auf, weil sie dort sicherer vor Fressfeinden sind, die sich nicht bis dorthin vorwagen.

Um mehr über die Tiere und ihre Anpassungen herauszufinden, hält die Arbeitsgruppe nun verschiedene Mäusekolonien aus unterschiedlichen Höhenlagen im Labor. Dort werden sie langsam an die Bedingungen der Hochatacama jenseits von 6000 Metern angepasst, um zu sehen, welche physiologischen Veränderungen in ihrem Körper stattfinden.

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