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Organische Katalyse: »Wir müssen helfen, das CO2 wieder aus der Atmosphäre zu holen«

Vor rund 20 Jahren testete Benjamin List eine Aminosäure als Katalysator. Nun wurde er mit dem Chemie-Nobelpreis ausgezeichnet. Ein Interview über die Entdeckung und ihre Bedeutung.
Ein blau erleuchtetes Raffineriegebäude mit vielen Rohrleitungen und dergleichen.

Der Chemiker Benjamin List erhielt den Chemie-Nobelpreis 2021 für die Begründung des Felds der asymmetrischen organischen Katalyse. Mit »Spektrum.de« sprach er über seine Entdeckung, die Bedeutung der Technik für die Entwicklung von Medikamenten und seine Idee, wie sich mit Diamanten der Klimakrise beikommen ließe.

»Spektrum.de«: Wenn ich Sie vor einer Woche gefragt hätte, wer dieses Jahr den Chemie-Nobelpreis bekommt: Auf wen hätten Sie getippt?

Benjamin List: Ich hätte auf Katalin Karikó getippt, sie hat die mRNA-Vakzine maßgeblich miterfunden, zusammen mit Drew Weissman vielleicht. Sie wäre mein Favorit gewesen. Also, ich auf keinen Fall!

Jetzt haben Sie ihn bekommen. Herzlichen Glückwunsch! Sie haben eine kleine Aminosäure namens Prolin als Katalysator getestet. Wann hatten Sie dabei zum ersten Mal das Gefühl, dass Sie etwas Großem auf der Spur sind?

Das war bei mir wirklich ein Phänomen: Das allererste Experiment, das ich gemacht habe, hat gleich geklappt und zur ersten Publikation geführt. Es war das erste unabhängige Experiment, das ich in meinem Leben überhaupt durchgeführt habe.

Dass es gleich funktioniert, ist ja eher selten in der Chemie.

Ja, das ist absolut verrückt. Und in dem Moment, in dem ich gesehen habe, dass die Reaktion funktioniert, habe ich gedacht: Wow – das könnte wirklich etwas Großes werden. Denn dann hat auf einmal alles zusammengepasst, was ich mir vorher überlegt hatte. Es war ja ein rational designtes Experiment: Ich hatte mir tatsächlich genau überlegt, wie Prolin diese Reaktion katalysiert. Und wenn das dann klappt, dann ist das einfach toll und wirklich befriedigend.

»Es war das erste unabhängige Experiment, das ich in meinem Leben überhaupt durchgeführt habe«

Sie haben sich also erst überlegt, wie es funktioniert, das war kein Trial-and-Error-Ansatz?

Genau. Wenn wir ehrlich sind, verstehen wir die Chemie nicht wirklich. Allein Prolin ist also schon zu groß, um es vollständig quantenmechanisch zu beschreiben – und dann katalysiert es auch noch eine chemische Reaktion, bei der verschiedene Produkte entstehen können. Solche Systeme sind viel zu komplex, um sie exakt vorauszuberechnen.

Insofern besteht die Chemie viel aus Ausprobieren. Aber bei diesem Experiment war es anders. Wir haben zuvor mit katalytischen Antikörpern gearbeitet, und als ich als Postdoc dorthin [ans Scripps Research Institute in Kalifornien, Anm. d. Red.] kam, wussten wir nicht genau, wie sie funktionieren und warum. Ich habe mir das dann als Allererstes genau angeschaut. Wir hatten gerade eine Röntgenstrukturanalyse durchgeführt und kannten dadurch das Reaktionszentrum.

Eine Röntgenstrukturanalyse der Antikörper, mit denen Sie gearbeitet haben?

Ja, genau. Es ist schwierig, Antikörper überhaupt kristallografisch zu analysieren, weil sie nicht ohne Weiteres kristallisieren und die Auflösung nicht gut ist. Wir wussten also nicht hundertprozentig genau, was vor sich geht. Es sah aber so aus, als wären im aktiven Zentrum des Antikörpers eine Aminogruppe von einem Lysinrest und zusätzlich eine Phenolgruppe von einem Tyrosinrest. Und dieses Phenol war an der OH-Gruppe hydratisiert, das heißt, es funktionierte als Säure. In diesem Reaktionszentrum hatten wir demnach eine Aminogruppe und eine Säure. Daraufhin habe ich mir einen Mechanismus überlegt – im Rückblick relativ trivial, aber auch wunderschön: Jeder einzelne Schritt wird durch diese beiden funktionellen Gruppen katalysiert – die Aminogruppe und die Säuregruppe. Wie wäre es also mit einer Aminosäure als Katalysator?

Schon Ende der 1960er Jahre wurde in einem Patent sowie in Publikationen von Prolin als Katalysator berichtet. Industrieunternehmen wollten damit Steroide herstellen. Das Verrückte war aber: Der Mechanismus war komplett unverstanden. Er blieb es auch bis 2000! Bis wir dieses Experiment gemacht haben, war völlig unklar, wie es diese Reaktion katalysiert. Rückblickend würde ich sagen, dass es mehr oder weniger eine Zufallsentdeckung war, unverstanden und nicht weiter verfolgt, weder in der Wissenschaft noch in der industriellen Forschung. Doch ich kam von der ganz anderen Seite, habe versucht, den Mechanismus zu verstehen, und mich basierend darauf gefragt: Kann ich nicht auch einfach kleine Moleküle einsetzen, die die Funktionalitäten des Enzyms oder des katalytischen Antikörpers haben? Und dann hat es tatsächlich geklappt. Das war wirklich toll.

Benjamin List | Der deutsche Chemiker erhält zusammen mit dem Briten David MacMillan den diesjährigen Chemie-Nobelpreis für die Entwicklung der asymmetrischen Organokatalyse. List ist Direktor der Abteilung für homogene Katalyse am Max-Planck-Institut für Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr.

Sowohl Sie als auch Ihr Mit-Laureat David MacMillan kamen auf Amine, und zwar von entgegengesetzten Polen: Er arbeitet an der Metallkatalyse, Sie an der Enzymkatalyse, und trotzdem haben Sie beide schließlich Amine ausgewählt. Was macht sie so besonders für die Katalyse?

Unsere Inspiration kam von den katalytischen Antikörpern. Dass ein Amin mit Karbonylverbindungen reagiert und sich Iminium-Ionen sowie Enamine bilden – diese Reaktivität war im Prinzip in der Enzymologie komplett bekannt. Wir synthetischen Chemiker haben uns allerdings nicht wirklich damit befasst. Doch dann haben Chemiker mit katalytischen Antikörpern gearbeitet, haben damit enantioselektiv Moleküle hergestellt und in den typischen chemischen Fachzeitschriften publiziert. Ich glaube, dass diese katalytischen Antikörperarbeiten sowohl mich als auch Dave MacMillan inspiriert hatten. Das war die eine Komponente. Die andere kam für mich von den Arbeiten von Emil Knoevenagel: Er hat im 19. Jahrhundert Amine und Aminsalze als Katalysatoren eingesetzt und sich dabei auf die Arbeiten von Robert Schiff berufen. Es ist absolut faszinierend, wie er schon im späten 19. Jahrhundert mechanistisch darüber nachgedacht hat, denn er erwähnt bereits Imine und sogar Enamine.

Prolin | Die Aminosäure Prolin

Die berühmte Knoevenagel-Reaktion ist übrigens eine der wichtigsten und klassischsten Reaktionen, um Kohlenstoff-Kohlenstoff-Bindungen aufzubauen. Sie wird technisch eingesetzt, weil sie so umfassend, generell und allgemein funktioniert. Diese Reaktivität wurde aber in der Literatur nicht richtig als Katalyse wahrgenommen, denn Katalyse haben wir Chemiker immer als Metallkatalyse gesehen. Erst wir haben Katalysezyklen in der organischen Katalyse eingeführt.

Sie haben also Aminosäuren eingesetzt und damit im Prinzip zwei Arten der Katalyse betrieben: Aminokatalyse und Säurekatalyse. Bei der Säurekatalyse gibt es den Spezialfall der Gegenanion-Katalyse, mit der Sie viel arbeiten. Dabei ist gar nicht der Katalysator selbst chiral, sondern ein Anion, das irgendwo in der Lösung ist. Wie kann das denn Enantioselektivität übertragen? Wie funktioniert das?

Wichtig ist bei dem Mechanismus, den ich vorhin beschrieben habe, dass diese beiden funktionellen Gruppen beteiligt sind: die Aminogruppe und die Säuregruppe. In meinem Labor machen wir fast nur noch asymmetrische Brønstedtsäure-Katalyse. Das ist so ein faszinierendes Feld, weil Säuren quasi fast alle Reaktionen katalysieren können, die katalysierbar sind. Das liegt daran, dass die einzig notwendige und hinreichende Bedingung für ein Substrat der Säurekatalyse ist, dass es Elektronen enthält.

Elektronen sind ja quasi überall vorhanden …

Genau. Und wenn die Reaktion überhaupt katalysierbar ist, lässt sie sich in der Regel auch durch Protonen katalysieren. Das finde ich faszinierend! Es ist dann nur noch eine Frage der Säurestärke. Nehmen Sie beispielsweise ein einfaches Molekül wie Methan. Kann man Methan protonieren – CH4? Klingt komisch, aber man kann – dabei entsteht CH5+, das so genannte Methonium-Ion, wie George Olah gezeigt hat. Dazu braucht man Supersäuren. Es geht aber noch weiter, zum Beispiel kann man auch H3O+ protonieren: Wasser (H2O) hat ein Sauerstoffatom mit zwei freien Elektronenpaaren; protoniert man eins davon, erhält man H3O+. Man kann aber auch das andere noch protonieren und erhält H4O2+.

Die Anionenkatalyse war für mich die logische Fortsetzung oder vielmehr die Verallgemeinerung der Säurekatalyse. Bei der asymmetrischen Säurekatalyse verwendet man eine chirale Säure – sie hat also die Eigenschaft der Händigkeit, Bild und Spiegelbild sind unterschiedlich. Protoniert diese Säure ein Molekül, zum Beispiel ein Imin, dann entsteht dabei ein Iminium-Ion auf der einen Seite, auf der anderen Seite das chirale Anion. Das ist das Gegenanion. Die beiden bilden ein Ionenpaar. Und jetzt kommt es darauf an, wie frei das Ionenpaar ist. In Wasser ist es komplett gelöst, man spricht von vom Lösungsmittel getrennten Ionen. In so einem Fall ist asymmetrische Katalyse fast undenkbar, und sie funktioniert in der Regel auch nicht. Wenn man die Reaktion allerdings in organischen Lösungsmitteln durchführt, erhält man so genannte Kontaktionenpaare. Sie sind zwar nicht kovalent verbunden, aber trotzdem sehr eng zusammen. Typischerweise sind sie auch sehr flexibel und bewegen sich. Durch geschicktes Design kann auf diese Weise asymmetrische Katalyse betreiben. 2004 haben japanische Chemiker gezeigt, dass chirale Phosphorsäuren als Katalysatoren geeignet sind. Ähnlich wie Enzyme haben sie eine relativ tiefe Bindungstasche, in der die negative Ladung versteckt ist. Ein anwesendes Kation versucht sozusagen, dort tief einzudringen. Deshalb nimmt das Kation diese Chiralität auch wahr. Aber um ehrlich zu sein, haben wir hier noch nicht hundertprozentig verstanden, wie es genau funktioniert.

Ganz vereinfacht gesprochen sorgen Sie mit den Lösungsmitteln also dafür, dass die Ionen sich nicht mehr so weit voneinander entfernen können, daher zusammenbleiben und dementsprechend beide mit dem Substrat interagieren.

Genau.

Chirale Phosphorsäuren und ihre Weiterentwicklungen sind recht umfangreiche Moleküle. Geht es bei der Organokatalyse nicht auch darum, möglichst einfache, kleine Moleküle zu verwenden?

Es ist nicht grundsätzlich von Vorteil, wenn ein Molekül klein ist. Es kommt auf die Kriterien an. Erstens wird ein Katalysator in der Reaktion nicht verbraucht, sondern man kann ihn zurückgewinnen, und das funktioniert mit den Säuren oft sehr gut. Man kann sie auch – was sehr angenehm ist an den organischen Katalysatoren – an eine feste Phase anbinden. Wir haben zum Beispiel Textilkatalysatoren hergestellt, indem wir den Katalysator in das Textil imprägniert haben. Das Resultat kann man wie einen Teebeutel in die Lösung halten, die Reaktion durchführen und ihn wieder herausnehmen. Insofern ist nichts fundamental dagegen einzuwenden, komplexe Katalysatoren einzusetzen. Die Frage ist dann eher, wie teuer sie sind, wenn man sie technisch einsetzen will. Andere Fragen sind: Wie oft katalysieren sie eine Reaktion? Oder wie schwierig sind sie herzustellen? So kann man argumentieren, aber die Größe als solche ist kein Problem. Enzyme sind noch viel komplexer, und trotzdem werden sie gern technisch eingesetzt. Darüber hinaus kann man die Phosphorsäuren heutzutage relativ gut herstellen, sie sind sogar kommerziell erhältlich.

Eine andere Sache ist es, zu sagen, organische Katalyse sei inhärent umweltfreundlich. Da wäre ich vorsichtig. Prolin – mein Molekül – ist wunderbar, weil man es essen kann. Das habe ich mir damals im Supermarkt gekauft: Prolin als Nahrungsergänzungsmittel. Doch man braucht es nicht, weil der Körper es selbst herstellt, das ist also völlig absurd. Aber es ist ungiftig! Das ist bei den Phosphorsäuren allerdings nicht so – ich weiß nicht, wie toxisch sie sind, aber die Frage stellt sich irgendwann natürlich.

»Es gibt keine Technologie auf der Welt, die wichtiger ist als die Katalyse«

Sie sagen also, organische Katalyse ist nicht per se umweltfreundlich. Kann sie trotzdem dabei helfen, chemische Prozesse nachhaltiger und umweltverträglicher zu machen?

Katalyse selbst macht Prozesse immer nachhaltiger und umweltfreundlicher, weil der Katalysator wiederverwendet werden kann. Insofern ist alle Katalyse besser als so genannte stöchiometrische Reaktionen, bei denen aus den Reagenzien Nebenprodukte entstehen, die dann zu entsorgen sind. Daher ist Katalyse als solche bereits eine Schlüsseltechnologie für die Menschheit. Wie bedeutend sie ist, habe ich erst realisiert, als ich im Jahr 2020 gelernt habe, dass Katalyse zu einem Drittel des weltweiten Bruttosozialprodukts beiträgt. Das sind Billionen! Es gibt, glaube ich, keine Technologie auf der Welt, die wichtiger ist als die Katalyse. Nicht das Internet und auch nicht die Landwirtschaft, ist das nicht unglaublich?

Das liegt natürlich daran, dass Materialien in riesigen Mengen – alles, was wir so brauchen – mit Katalysatoren hergestellt werden. Und es ist auch ökonomisch reizvoll, wenn man nur eine Prise von etwas zugibt, um riesige Mengen von etwas anderem herzustellen.

Ich möchte mich aber nicht so verstanden wissen, dass keine organischen Katalysatoren außer Prolin umweltfreundlich sind. Viele kann man zum Beispiel auf Basis von Aminosäuren herstellen oder aus natürlichen Quellen, zum Beispiel Zucker oder Peptide. Sie sind inhärent umweltfreundlich, weil sie selbst nicht toxisch sind. Das Schöne an der Katalyse ist eben: Es fallen keine großen Mengen an Katalysatorabfall an. Und man braucht weniger Energie, weil der Katalysator einen einfacheren Reaktionsweg ermöglicht.

In den meisten industriellen Prozessen kommen heute noch Metallkatalysatoren zum Einsatz, weniger Organokatalysatoren. Warum ist das so?

Metalle, vor allem die Übergangsmetalle, besitzen eine faszinierende Reaktivität. Die größten katalytischen Verfahren werden bei der Aufbereitung von Erdöl zur Benzinherstellung eingesetzt. Das Erste, was das Öl sieht, wenn es aus dem Bohrloch kommt, sind Katalysatoren. Zuerst entzieht man dem Erdöl den Schwefel, das geschieht im Milliardentonnenmaßstab. Das vom Schwefel befreite Erdöl wird wiederum mit Katalysatoren, so genannten Zeolithen, in Cracking-Reaktionen umgesetzt. Dabei spaltet man die langkettigen Alkane in kleinere, die man beispielsweise im Benzin einsetzen kann. Dafür braucht man typischerweise Metallkatalysatoren, wobei das Cracking selbst interessanterweise eine Brønstedtsäure-Katalyse ist.

»Die organische Katalyse ist nicht dazu da, alle Metalle zu ersetzen«

Die Prozesse wiederum, die im Autoabgas-Katalysator ablaufen, brauchen Platin, ein Schwermetall. Zwar benötigt ein einzelnes Fahrzeug nicht viel davon, aber alle Autos der Welt verlieren winzige Mengen an Platin, die im Straßendreck landen und im Zweifel aufgewühlt und von unseren Kindern eingeatmet werden. Hier könnte man jedoch beispielsweise keine organischen Katalysatoren einsetzen, weil die meisten von ihnen bei den hohen Temperaturen verbrennen würden. Die organische Katalyse ist also nicht dazu da, um alle Metalle zu ersetzen. Trotzdem hat sie großen Wert, vor allem in der Medikamentenherstellung.

Für welche Prozesse wäre sie denn prädestiniert?

Bei der Medikamentensynthese etwa ist das sehr reizvoll. Denn Medikamente sind typischerweise chiral. Das bedeutet, dass Bild und Spiegelbild nicht identisch sind. Und wir wissen schon lange, dass diese Spiegelbilder eine unterschiedliche Reaktivität aufweisen. Wie durch ein Wunder – bis heute kann das niemand erklären – ist die komplette Biologie auch händisch, also chiral. Unser Körper und unsere Enzyme können zwischen diesen beiden Spiegelbildern sehr wohl unterscheiden. Deshalb ist die Herstellung von solchen so genannten enantiomerenreinen Medikamenten wichtiger geworden – nur das eine Spiegelbild wird hergestellt. Früher, nachdem es von den Zulassungsbehörden gefordert wurde, hat man die Enantiomere zunächst einfach voneinander getrennt, zum Beispiel durch Kristallisation oder andere Techniken. Das übrig gebliebene, unerwünschte Molekül wurde verbrannt.

Natürlich ist es aber umweltfreundlicher, von vornherein das richtige katalytisch und enantioselektiv herzustellen. 2001 gab es daher den Nobelpreis für Sharpless, Noyori und Knowles. Sie hatten metallhaltige Katalysatoren für diese asymmetrische Katalyse entwickelt. Asymmetrische Hydrierungen sind bis heute sehr beliebt in der technischen Katalyse. Allerdings glaube ich schon, dass die Organokatalyse hier einen Fortschritt bringen und viel mehr eingesetzt werden wird als asymmetrische Hydrierung. Denn es sind fundamentale Vorteile gegeben, wenn man kein Schwermetall einsetzen muss, das vielleicht kostbar und sogar relativ rar ist. Palladium zum Beispiel wird immer seltener, weil es in so vielen Katalysatoren eingesetzt wird. Die Metalle werden daher immer teurer und diffundieren in die Welt. Die organischen Katalysatoren sind hingegen nachhaltiger, weil man sie aus der Natur entwickeln kann.

In welchen Prozessen wurden Metallkatalysatoren bereits durch organische ersetzt?

Meistens passiert dieser Wechsel erst, wenn Patente ablaufen, weil eine Firma für einen neuen Prozess alles neu zulassen und eine neue Anlage bauen muss. Daher arbeitet die Industrie erst einmal mit dem Verfahren weiter, das sie hat. Trotzdem gibt es immer mehr organokatalytische Verfahren in der Industrie. Eines, das ich sehr schön finde, weil es auch zu diesem Nobelpreis passt, basiert auf unserer prolinkatalysierten Aldolreaktion, die MacMillan später leicht variiert hat. Dieses Verfahren – das quasi von uns beiden entwickelt wurde – wird eingesetzt, um Anti-HIV-Medikamente herzustellen. Sie haben geholfen, eine der schrecklichsten Pandemien unserer Zeit zu beenden!

Ich war in den 1980er Jahren Schüler und erinnere mich sehr gut an diese schreckliche Zeit, als die Menschen zu Millionen an Aids starben. In den relativ wohlhabenden Ländern zumindest passiert das heute nicht mehr, weil wir die Menschen heutzutage mit kleinen Molekülmedikamenten behandeln können, von denen sie drei oder vier verschiedene einnehmen müssen und so ein weitestgehend normales Leben leben. Natürlich haben sie Nebenwirkungen, doch die Menschen sterben nicht mehr an der Krankheit. Das finde ich so faszinierend! Das ist nur möglich durch chemisch designte und hergestellte kleine Molekülmedikamente. Auch wenn Sie eine schwere Infektion haben und im Krankenhaus ein Antibiotikum erhalten, dann fühlen Sie sich nach drei Tagen blendend: Es ist ein Wunder, wie toll das funktioniert. Viele solcher Wirkstoffe werden von Chemikern designt und hergestellt.

Kommen wir noch mal auf die chemischen Prozesse zurück. Müssen Industrieverfahren reglementiert werden, damit die Chemie grüner wird?

Oft ist der Widerspruch zwischen grüner Chemie und maximalem kapitalistischem Erfolg gar nicht so groß. Denn die Industrie möchte ebenso auf die bestmögliche Weise ihre Moleküle herstellen. Ich spreche dabei immer von Atomökonomie. Das ist ein schöner Begriff aus der Wissenschaft, der sagt: Die Atome des Startmaterials müssen im Produkt auftauchen und nirgendwo anders. Alle Atome aus dem Ausgangsstoff werden also in ein Produkt umgesetzt, es gibt keine Nebenprodukte. Das wäre fast die perfekte chemische Reaktion. Deshalb weiß ich nicht, ob man das politisch regulieren muss. Können Politiker bessere chemische Prozesse designen als die Fachleute? Ich bin mir da nicht so sicher.

Es gibt ein grundsätzliches Unbehagen gegenüber der chemischen Industrie, aber auch der Pharmaindustrie. Vielleicht kommt das Missverhältnis daher, dass es sich inhuman anfühlt, wenn sich jemand an der Krankheit anderer Menschen bereichert. Aber in Wahrheit haben wir das Ganze nun mal kapitalistisch organisiert. Ich kann mir durchaus andere Modelle vorstellen, zum Beispiel mit staatlichen Medikamentenbehörden. Ob das funktioniert, kann ich nicht beurteilen. Man könnte über solche Ideen nachdenken, doch im Moment ist die Welt eben, wie sie ist. Bei HIV wurde damals etwa gefordert, dass die verarbeitende Industrie die Medikamente kostenlos abgibt – es kommt also der humanistische Aspekt dazu. Ich finde es schwierig, das zusammenzubringen. Daher habe ich auch ein sehr ambivalentes Verhältnis zu der Frage: Soll man Biontech jetzt die Patente wegnehmen?

Sollte man das tun?

Das finde ich schwierig. Sie haben den Covid-19-Impfstoff in der kurzen Zeit entwickelt, hatten diese tolle Idee, waren hochmotiviert – natürlich auch, damit ihre Firma weiterläuft, sie ihre Mitarbeiter bezahlen und Arbeitsplätze schaffen können. Diese Seite muss man auch sehen. Sie machen das ja nicht, um sich persönlich zu bereichern. Muss man ihnen das Patent jetzt wegnehmen? Ich finde, dazu kann man verschiedene Meinungen haben – und wie Sie schon merken, bin ich da skeptisch.

Zwischen dem 4. und dem 11. Oktober 2021 haben Jurys die Nobelpreisträger des Jahres 2021 verkündet. Wer einen der begehrten, einst von Erfinder Alfred Nobel gestifteten Preise erhalten hat, können Sie auf unserer Schwerpunktseite »Nobelpreise – die höchste Auszeichnung« nachlesen. Dort erfahren Sie zudem das Wesentliche über die Laureaten und ihre Forschungsthemen.

Jetzt sind wir von der Atomökonomie zu Biontech gekommen. Sie haben vor 20 Jahren die organische Katalyse erfunden, heute ist sie ein Riesenfeld mit zahlreichen Reaktionen. Welche Reaktion ist die nächste Herausforderung für Sie?

Wenn man ehrlich ist, dann ist der wichtigste Beitrag, den wir Chemiker jetzt leisten können, die globale Erwärmung aufzuhalten. Wir müssen helfen, das CO2 wieder aus der Atmosphäre zu holen. Ich finde, das ist eine wunderbare Aufgabe für den Rest meiner Karriere! Für mich ist die Idee extrem reizvoll, eine Art künstliche Fotosynthese zu machen, CO2 aus der Luft zurückzuholen und etwas anderes damit anzustellen. Das ist natürlich keine nagelneue Idee, aber – das ist jetzt wirklich ein origineller Gedanke, den ich mit Ihnen teile: Wie wäre es mit der Reaktion: CO2 → C + O2?

Ähnlich wie bei der Methanpyrolyse?

Ich habe an eine photochemische Reaktion gedacht, so wie in der Natur. Die Natur stellt aus CO2 Kohlenhydrate her, indem sie Wasser hinzufügt: CO2 + H2O → CH2O + O2. Ich schlage die Reaktion ohne Wasser vor, sozusagen die konzentrierte Form der Fotosynthese: Wir nehmen nur CO2 und machen daraus mit Licht Sauerstoff, der wieder zurück in die Atmosphäre geht, und Kohlenstoff. Jetzt können Sie sich überlegen, in welcher Form: Es könnte natürlich Kohle sein, was ich unproblematisch finde, weil man sie wieder in der Erde vergraben könnte. Die Chemiker würden aus der Kohle wiederum etwas Vernünftiges herstellen, die gesamte organischen Chemie steht ihnen hiermit offen. Über die Fischer-Tropsch-Synthese ließen sich etwa Kohlenwasserstoffe herstellen. Diese Technik, die hier bei uns am Institut erfunden wurde, ist schon 100 Jahre alt.

Man kann aus Kohlenstoff natürlich auch Benzin herstellen, das man theoretisch sogar in Verbrennungsmotoren verwenden könnte, wenn man wollte – ich weiß, das klingt scheußlich für Sie. Wenn es gelänge, das CO2 aus der Luft in Benzin umzuwandeln, wäre das aber völlig klimaneutral. Ich weiß nicht, wie praktisch das ist und ob es sich jemals realisieren lässt. In der Vergangenheit gab es aber immer wieder große Entdeckungen, kleine chemische Revolutionen, die die Welt verändert haben. Das wäre so eine. Die andere Idee wäre nicht Kohle, sondern Diamant.

Das verkauft sich auf jeden Fall besser, nehme ich mal an.

Das Problem ist ja auch ein Skalenproblem: Selbst wenn wir das CO2 aus der Luft als alleinigen Rohstoff für die gesamte organische Chemie nähmen – alles Plastik, alles, was wir so brauchen, Medikamente und so weiter daraus herstellten –, selbst dann würden wir nicht genug davon verbrauchen, um die Klimaveränderung aufzuhalten. Aber wenn man CO2 zu Sauerstoff und Diamant umwandeln könnte, dann könnte man aus dem Diamantstaub eine Art Zement gewinnen. Mit diesem Zement könnte man Hochhäuser bauen. So eine Reaktion im Gigatonnenmaßstab durchzuführen, ist so eine dieser verrückten Ideen, mit denen ich mich gelegentlich beschäftige.

Aber verrückte Ideen sind manchmal die besten.

Als ich damals mit dem Prolin angefangen habe, habe ich übrigens so ein ähnliches Gefühl gehabt: »Ach, ich weiß nicht, wird das klappen? Ist die Idee vielleicht naiv oder sogar dumm? Oder wissen die meisten guten Chemiker, dass das eine Quatsch-Idee ist, die niemals funktionieren würde?« Jetzt versuche ich manchmal im Labor, dieses Gefühl wieder aufleben zu lassen.

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