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Ostasien: Wo der Zweite Weltkrieg nicht endet

Japan und seine Nachbarn sind sich spinnefeind – wenn es um die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg geht. Warum eine Aussöhnung in Ostasien noch immer in weiter Ferne liegt.
Eine Bronzestatue eines sitzenden Mädchens auf einem Podest in einem herbstlichen Park. Neben der Statue steht ein leerer Stuhl. Im Hintergrund fährt eine Person auf einem grünen Fahrrad vorbei, begleitet von einem schwarzen Hund. Auf dem Podest ist ein handgeschriebenes Schild mit der Aufschrift "ARI bleibt!" angebracht. Bäume mit herbstlichem Laub und ein Informationsschild sind im Hintergrund zu sehen.
Die »Friedensstatue« soll an Frauen erinnern, die das japanische Militär im Zweiten Weltkrieg in die Prostitution gezwungen hatte. Eines dieser Mahnmale für die »Trostfrauen« wurde 2020 am Unionplatz in Berlin-Moabit aufgestellt.

Ruhig sitzt sie da, die Hände auf den Schoß gelegt, unbewegtes Gesicht, strähniges Haar, nackte Füße. Neben dem Mädchen aus Bronze steht ein ebenso bronzener leerer Stuhl – er soll die Einsamkeit, das Unrecht und das Leid symbolisieren, das zahlreiche junge Frauen im Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Das Mahnmal mit Namen »Friedensstatue« gibt es mehrfach auf der Welt. Man findet es in Südkorea, Australien, Italien, in den USA, und seit 2017 auch in Deutschland: Es gibt zwei Statuen auf privatem Gelände, und seit September 2020 steht ein weiteres Exemplar in Berlin-Moabit – dort erstmals an einem öffentlichen Platz.

Doch die Skulptur in Berlin sorgt für Streit. Der Korea Verband, der die Aufstellung der Figur veranlasste, erklärt zur Bedeutung des Mahnmals: »Die Friedensstatue verkörpert das Bild einer jungen Frau in traditionellen Gewändern, um an die bis zu 200 000 Frauen zu erinnern, die während des Zweiten Weltkriegs gefangen und zur Arbeit als Sexsklavinnen für japanische Soldaten gezwungen wurden.«

Die »Friedensstatue« ist demnach ein Mahnmal für die Kriegsverbrechen Japans im Zweiten Weltkrieg, als das Kaiserreich in Asien brutale Eroberungsfeldzüge führte, sein Militär Frauen und Mädchen in Bordelle lockte, verschleppte und zur Prostitution zwang. Doch offizielle Vertreter Japans sind mit dem Denkmal nicht einverstanden. Wo immer es aufgestellt wird, setzt sich die japanische Botschaft dafür ein, dass es schnellstmöglich wieder entfernt werde. Ihr Argument: Das bronzene Mädchen stelle die Geschichte einseitig dar.

Unversöhnliche Nachbarn in Fernost

80 Jahre ist es her, dass der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Aber während in Europa eine Aussöhnung weitgehend gelang und gar in eine beispiellose politische Integration in Form der Europäischen Union mündete, sind sich die Staaten Ostasiens in vielen Fragen über die Vergangenheit uneins. Aus der Sicht einer »Täternation« wie Deutschland mag die Haltung Japans befremden: Warum hat Tokio heute ein Problem damit, dass eine Skulptur an japanische Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg erinnert?

»Vom Ideal der Aussöhnung ist man in Ostasien noch weit entfernt«, sagt der Historiker Torsten Weber vom Deutschen Institut für Japanstudien in Tokio, der über Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in Ostasien forscht. Weber stellt in seinen Arbeiten immer wieder fest, wie sehr sich der Umgang mit begangenem Unrecht und Verbrechen in Europa und Asien unterscheidet. Ein zentraler Grund dafür: Es fehle an einem gemeinsamen Verständnis davon, was überhaupt geschehen ist.

»Trostfrauen« | Während des Zweiten Weltkriegs wurden diese Frauen zu einem Militärlager der Japaner gebracht, um sie in die Prostitution für Soldaten zu zwingen.

Im Verhältnis zwischen Japan und Südkorea sind die »Trostfrauen«, denen in Gestalt der Friedensstatue gedacht wird, das wohl heikelste Beispiel. Dabei haben Historiker in Japan schon Anfang der 1990er Jahre nachgewiesen, dass das japanische Militär im Zweiten Weltkrieg ein Zwangssystem der sexuellen Ausbeutung aufgebaut hatte. Frauen und Mädchen aus Japan, Korea, China und weiteren Ländern wurden ihrer Freiheit beraubt und von japanischen Soldaten in Kriegsbordellen, den sogenannten Troststationen, hundertfach vergewaltigt. Dennoch ist in der Öffentlichkeit und der Politik die Meinung weitverbreitet, bei den »Trostfrauen«, wie das japanische Militär die Frauen zynisch bezeichnete, habe es sich zu wesentlichen Teilen nicht um Sexsklaverei gehandelt, sondern um freiwillige Prostitution gegen angemessene Bezahlung. Zudem wird infrage gestellt, dass tatsächlich 200 000 Frauen betroffen waren.

Täter aus Sicht der Opfer, Opfer aus Sicht der Täter

Auf dieser Grundlage werden in Japan und Südkorea immer wieder Vorwürfe gegen die jeweils andere Seite laut. Es ist ein schier endloser Konflikt, vor allem weil die Sichtweisen so weit auseinanderdriften. Dabei wird die Frage, welche Verantwortung Japan für das verursachte Leid im Zweiten Weltkrieg trägt, in dem ostasiatischen Land selbst kaum diskutiert. Vielmehr sind andere Überzeugungen im Spiel. »Japans Nationalisten sind bis heute der Auffassung, dass der eigene Imperialismus – der mit der De-facto-Kapitulation im August 1945 endete – auch einen selbstlosen Kampf zur Befreiung Asiens vom westlichen Imperialismus darstellte«, erklärt Weber. Demzufolge hätte man asiatische Länder erobert, um sie aus dem Griff europäischer Kolonialisten zu befreien. Diese Auffassung sei auch in der regierenden Liberaldemokratischen Partei nicht unpopulär.

Sie sei sogar so populär, dass damit offen Politik gemacht wird, wie Sven Saaler betont, Professor für moderne japanische Geschichte an der Sophia-Universität in Tokio. In der Forschung finde diese Vorstellung dagegen wenig Unterstützung: »Geschichtsrevisionismus ist ein politisches Phänomen«, sagt Saaler. Unter Historikerinnen oder Historikern vertrete niemand derartige Thesen. Einschlägig bekannt dafür, historische Ereignisse entgegen der Tatsachengeschichte umzudeuten, war Shinzo Abe (1954–2022), der Japan von 2006 bis 2007 sowie von 2012 bis 2020 als Premierminister regierte. 2013 setzte er sich dafür ein, dass Themen wie »Trostfrauen« und Zwangsarbeit aus den Schulbüchern gestrichen wurden.

Denn allzu »masochistisch«, so finden die in der Liberaldemokratischen Partei stark vertretenen Nationalisten, solle das Land seine Geschichte nicht erzählen. Japanische Schulbücher sorgen daher immer wieder für Ärger in den Nachbarländern Südkorea und China. Die Nationalisten Japans sehen sich im Recht. Gegenüber Südkorea heißt es oft, das Land wolle nur weitere Entschädigungszahlungen rausschlagen, die Japan längst geleistet habe.

Erinnern an die »Trostfrauen«

Im Jahr 1965, als Japan und die Republik Korea nach dem Zweiten Weltkrieg wieder diplomatische Beziehungen aufnahmen, sollte ein Vertrag, der auch Entschädigungen vorsah, alles Geschehene abgelten. Doch erst in den 1990er Jahren waren die ersten koreanischen Opfer der Zwangsprostitution an die Öffentlichkeit gegangen. Seitdem kämpfen vor allem Interessenverbände aus Südkorea im In- und Ausland darum, das Leid der »Trostfrauen« zu dokumentieren und an sie zu erinnern. 

Dies wiederum befeuert in Japan die Auffassung, Südkorea nutze die Vergangenheit, um antijapanische Ressentiments zu schüren. Wie dies genau vor sich ging, konnte Torsten Weber am Beispiel des Magazins »Sapio« dokumentieren. Die Zeitschrift erschien während der Heisei-Zeit, die der Tenno Akihito 1989 mit seiner Devise Heisei – »Frieden überall« – ausgerufen hatte und die bis zu seiner Abdankung 2019 andauerte. »Sapio« gehörte mit einer Auflage von bis zu 200 000 Exemplaren zu den weitverbreitetsten Monatszeitschriften Japans – und ist eindeutig dem nationalistischen Lager zuzuordnen.

Einnahme Nankings | Japanische Soldaten jubeln und schwenken Fahnen, als sie Ende 1937 die damalige chinesische Hauptstadt Nanking einnehmen.

»Die ›Sapio‹ etablierte bereits 2014 den Begriff ›Geschichtskriege‹, um die aus ihrer Sicht unberechtigten historischen Vorwürfe aus China und Südkorea gegenüber Japan zu diskreditieren«, sagt Weber. »China und Südkorea werden dort als unzivilisiert und japanfeindlich dargestellt.« Mithilfe einer Textanalyse aller Ausgaben versucht Weber derzeit, herauszufinden, wann und weshalb sich die »Sapio« von einem Boulevardblatt zu einem führenden Akteur in der nationalistischen Geschichtspolitik Japans wandelte. Bisher zeichnet sich ab, dass die Redaktion wohl bereitwillig diese politische Haltung eingenommen hat, womöglich unter dem Eindruck einer stärkeren diplomatischen Dimension des Geschichtskonflikts. Geschichtsrevisionistische Inhalte fanden in der Folge mehr Abnehmer und machten sie kommerziell erfolgreich.

Darstellungen wie in der »Sapio« gelten unter Historikern aber als extrem. Doch auch sonst: In Japan gibt es nicht nur zahlreiche Meinungen über den Umgang mit der eigenen Vergangenheit, sie gehen auch weit auseinander. Und weil in der öffentlichen Diskussion Uneinigkeit herrscht, fehlt eine gemeinsame Erinnerungskultur. »In Japan wäre es quasi politischer Selbstmord«, vermutet Weber, »wenn ein amtierender Politiker ein Denkmal wie die ›Friedensstatue‹ besuchen würde.«

Wer hat Recht?

Die Debatte zwischen Japan und seinen Nachbarn dreht sich durch gegenseitige Anschuldigungen im Kreis. So kritisiert Japans Regierung, es werde ein bilateraler Konflikt in Drittländer exportiert, während ähnliche Verbrechen des koreanischen Militärs, etwa im Vietnamkrieg, verschwiegen würden. Die Bürgerinitiativen, die die Statuen aufstellen, entgegnen, die »Friedensstatue« symbolisiere Hoffnung für Opfer sexueller Gewalt weltweit. Die Textplakette neben der Statue und die traditionelle koreanische Tracht, die das Mädchen trägt, verweisen jedoch eindeutig auf Japan als Täter und Korea als Opfer.

»Geschichte im Allgemeinen und insbesondere das Erbe des japanischen Imperialismus wird von beiden Seiten stark politisiert und steht daher einer Aussöhnung eher im Weg«, erklärt Weber. Zu diesem Fazit gelangt der Historiker im Fall von China. Anders als in Japan und Südkorea, wo Medien und Wissenschaft weitgehend unabhängig agieren, duldet China keine von der offiziellen Geschichtsdeutung abweichenden Narrative. »Seit Beginn der Kampagnen zur ›patriotischen Erziehung‹ in den 1990er Jahren ist die Geschichtsschreibung Chinas zusehends nationalistisch und antijapanisch ausgerichtet«, sagt Weber.

An kaum einem Ort wird das so deutlich wie in Nanking (Nanjing). Im Dezember 1937 nahm das japanische Militär die einstige Hauptstadt Chinas ein und beging in den Wochen danach ein Massaker an der Zivilbevölkerung und an Kriegsgefangenen. Einer, der sich schon im Vorfeld um Schlichtung bemühte, war der deutsche Handelsvertreter John Rabe (1882–1950). Der Siemens-Mitarbeiter versuchte zwischen den chinesischen Militärs und den japanischen Besatzern zu vermitteln, um eine humanitäre Schutzzone einzurichten.

Rabes Tagebücher, die in den 1990er Jahren publik wurden, dokumentieren jedoch nicht nur die Grausamkeiten der Japaner. »Rabe gab auch dem chinesischen Militär eine Mitschuld am Ausmaß des Massakers«, betont Weber. Laut Rabe hätten die chinesischen Offiziellen bei der Evakuierung helfen müssen. Am Ende konnten aber nur diejenigen fliehen, die über die nötigen Geldmittel verfügten. Zudem habe sich das chinesische Militär geweigert, dem Vorschlag Rabes, eine Schutzzone einzurichten, zuzustimmen.

Wer die Gedenkstätte des Nanking-Massakers oder das Museum des John-Rabe-Hauses auf dem Campus der Universität Nanking besucht, wird darüber nichts lesen. Stattdessen wird der »Oskar Schindler Chinas«, wie Rabe seit dem Fund der Tagebücher immer wieder genannt wird, ausschließlich als Kronzeuge der offiziellen chinesischen Sicht dargestellt. Zudem ist in China von 300 000 Opfern des Nanking-Massakers die Rede. »In der Geschichtswissenschaft gilt 150 000 als plausible maximale Zahl«, erklärt Weber.

Deutschland als Vorbild?

Die Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkriegs, die Japans nationalistisches Lager herunterzuspielen versucht, werden in China, in einem Land der Opfer, stark betont und zugleich dafür genutzt, nationalistische Gefühle zu stärken. Iris Chang (1968–2004), eine amerikanische Schriftstellerin mit chinesischen Wurzeln, hatte in ihrem 1997 erschienenen Bestseller »The Rape of Nanking« das Massaker von 1937 mit dem Holocaust verglichen und in Bezug auf eine teils mangelnde japanische Aufarbeitung Deutschland als Vorbild genannt: Dort habe man sich – im Gegensatz zu Japan – der Vergangenheit gestellt, seine Schuld bekannt.

»Der Vergleich bietet sich natürlich an, ist aber leider oft zu simplistisch«, sagt Torsten Weber. Zwar hätten das Dritte Reich und das Japanische Kaiserreich gemeinsam, dass sie Invasionskriege führten, ein totalitäres System und jeweils eine Form des Faschismus als Staatsideologie installierten. Einen Genozid habe Japan allerdings nicht geplant. Das Land sei zwar zweifellos eine Täternation, erlitt aber durch die Atombombenabwürfe der USA über Hiroshima und Nagasaki auch historisch beispiellose Angriffe. Gerade diese Geschehnisse begünstigten, dass in Japan die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg nicht selten nur aus der Perspektive der Opfer gespeist werde. Aufgrund der Geschichte sei eine solche Sichtweise in Deutschland ausgeschlossen gewesen.

Zudem sei Deutschland heute von Nachbarn umgeben, die politisch und gesellschaftlich vor allem nach vorne schauen. Auf staatlicher Ebene strebt Ostasien nicht nach Aussöhnung, doch immerhin die Zivilgesellschaften versuchen das zu ändern, etwa durch japanisch-chinesische Freundschaftsvereine, die in Nanking zusammenkommen. Auch Yukio Hatoyama, der Japan von 2009 bis 2010 als Premierminister regierte, besuchte die Gedenkstätte des Nanking-Massakers in China – allerdings erst 2013 als Privatperson, als er kein Amt mehr zu verlieren hatte.

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  • Quellen

Morris-Suzuki, T., Asia Pacific Journal 10.1017/S1557466013033639, 2013

Saaler, S., The Asia-Pacific Journal 10.1017/S1557466016018453, 2016

Shen, Q., Seminar 10.3138/seminar.47.5.661, 2011

Weber, T., Apology Failures. In: Bevernage, B., Wouters, N. (Hg.), The Palgrave Handbook, 2018

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