Mikrofossilien: Die vergessene Welt der Dinosaurier

Wer den Fossiliensaal eines naturhistorischen Museums betritt, stößt wahrscheinlich als Erstes auf die spektakulären Skelette einiger der ehrfurchtgebietendsten Lebewesen, die jemals auf Erden gewandelt sind: Von den turmhohen Sauropoden und den furchterregenden Tyrannosauriern bis hin zu den gepanzerten Ankylosauriern und den gehörnten Ceratopsiden – Dinosaurier beherrschen unsere Vorstellung von früheren Lebensformen. Doch um diese Tiere samt ihrer Umwelt zu verstehen, müssen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über Apatosaurus, Tyrannosaurus und andere Berühmtheiten hinausblicken und ihr Augenmerk auf winzige Überreste richten, die auf den ersten Blick völlig unscheinbar wirken. In öffentlichen Ausstellungen sieht man diese bescheidenen Mikrofossilien kaum, aber sie liefern einige der bisher besten Hinweise auf die Epoche unserer prähistorischen Lieblingstiere sowie deren Lebensweise.
Um solche Fossilien zu bergen, unternehmen wir Expeditionen zum Upper Missouri River Breaks National Monument, einer sich auf rund 240 Kilometern erstreckenden Ebene mit überwältigend schönem Ödland mitten in Montana. Genau hier, wo Wissenschaftler im 19. Jahrhundert zum ersten Mal die Dinosaurier Nordamerikas zu Gesicht bekamen, stieß unsere Arbeitsgruppe auf eine reichhaltige Fossilienwelt mit einer ungewöhnlich großen Anzahl bisher unbekannter Lebewesen, die mit den berühmten Echsen zusammengelebt hatten. Diese Überreste zeugen von einem Ökosystem, das zehn Millionen Jahre vor dem Einschlag jenes gewaltigen Asteroiden florierte, der das Zeitalter der Saurier beendete.
Gegenstand unserer Arbeiten waren besondere Fundstätten, die in der englischsprachigen Fachliteratur als »vertebrate microfossil bonebeds« (VMBs), also Wirbeltiermikrofossilien-Knochenlager, bezeichnet werden. Sie enthalten Tausende winziger Hartteile verschiedenster Tiere, von Spuren mikroskopisch kleiner Parasiten über Fischschuppen bis zu Bruchstücken von Fröschen, Schildkröten, Vögeln, Säugetieren, Krokodilen und natürlich Dinosauriern. Wir finden sie sowohl im Freiland als auch im Labor, wo wir das Sediment mit einem Präpariermikroskop nach den winzigen Überresten durchstöbern. Diese gut erhaltenen Fossilien enthüllen die häufig vergessenen Lebewesen, die um die Füße der Saurier herumwuselten und umherschwammen, ihnen lästig um die Ohren summten oder vielleicht sogar ihre Jungen auffraßen. Erst zusammen mit ihnen erwacht die vorzeitliche Welt vor dem geistigen Auge zum Leben.
Vom Allergrößten zum Kleinsten
An die Erforschung der VMBs gehen wir beide mit unterschiedlichen Sichtweisen heran. Kristi will die biologischen Eigenschaften der größten Dinosaurier aller Zeiten aufklären: der pflanzenfressenden Sauropoden (siehe »Evolution der Giganten«, »Spektrum« April 2024, S. 12). Diese riesigen, sich auf vier Beinen fortbewegenden Echsen mit ihren langen Hälsen faszinieren sie, solange sie denken kann. Am liebsten schuftet Kristi in einem sonnendurchglühten Steinbruch, wo sie mühsam Extremitätenknochen zusammenklaubt, die viel größer sind als sie selbst. Ray hingegen ist Geologe und will herausfinden, wie die »bonebeds« entstanden und was sie über die Umwelt verraten, in der sich Leben und Tod jener Organismen abspielten. Zu unserem Glück sind wir nicht nur verheiratet, sondern auch der jeweils engste wissenschaftliche Kollege.
Bevor wir gemeinsam an einem Strang zogen, hatte sich Ray mit Fossillagerstätten beschäftigt, die das genaue Gegenteil dessen darstellen, worauf Kristi sich konzentrierte. Statt eine ganze Freilandsaison darauf zu verwenden, ein einziges riesiges Skelett auszugraben, kann Ray binnen weniger Stunden Tausende von Fossilien bergen. Das hört sich nach einer erstaunlichen Leistung an, aber die meisten Überbleibsel aus den VMBs sind so klein, dass man sie mit einem Niesen von den Fingerspitzen wegpusten könnte. Mit ihrer alten Liebe für das Ausgraben des Allergrößten zögerte Kristi, zur VMB-Analyse zu wechseln. Wenn man jedoch die winzigen Überreste mit der Lupe oder dem Mikroskop betrachtet, offenbaren sich hervorragend erhaltene Knochen eines ganzen Zoos an Lebewesen, die im Schatten der Giganten existiert hatten. Wie Kristi erkannte, sind die Mikrofossilien aus den VMBs von allergrößter Bedeutung, wenn es darum geht, die Funktionsweise der Dinosaurier-Ökosysteme zu durchschauen.
Durch unsere Forschungen im Upper Missouri River Breaks National Monument – kurz Breaks genannt – konnten wir ein solches Ökosystem äußerst detailliert rekonstruieren. Die Arbeit daran erstreckte sich über viele Jahrzehnte. Bereits 1855 führte der damals 26-jährige Entdecker und Naturforscher Ferdinand Hayden (1829–1887) geologische Untersuchungen in den Breaks durch. Ein paar Tage lang durchquerte er dort die Felsaufschlüsse, die wir auf ein Alter von rund 76 Millionen Jahre schätzen. Sein Streifzug durch die fossilienreichen Gesteinsformationen lieferte die erste wissenschaftliche Sammlung von Dinosaurierknochen und -zähnen aus Nordamerika. Aber Hayden sammelte nicht nur die Überreste von Sauriern. An Stellen, die wir heute als klassisches VMB erkennen könnten, entdeckte er zudem eine Handvoll Knochen und Zähne von Fischen, Schildkröten und Krokodilen. Durch seine ersten wichtigen Funde bereicherte Hayden unser Bild vom vorzeitlichen Nordamerika also sowohl um eine Schar an Sauriern als auch mit den ersten groben Skizzen eines uralten Ökosystems.
Wir selbst treten seit mehr als 30 Jahren zusammen mit unseren Studierendengruppen in Haydens Fußstapfen. Dabei gehen wir wie damals vor, fahren mit dem Kanu, wandern durch das Ödland und trotzen der Hitze, dem Schlamm, den Insekten und den Schlangen, während wir nach den Überresten von kreidezeitlichen Geschöpfen suchen. Unsere Mühen brachten zehntausende Knochen und Zähne von Dinosauriern sowie von den anderen Tieren, mit denen sie zusammen existiert hatten, ans Tageslicht. Wir haben gelernt, wie sich diese besonderen Fossilansammlungen bilden, welche Lebewesen sie repräsentieren und was sie uns über die komplexe Welt der durch die Saurier berühmt gewordenen Kreidezeit verraten können.
Nah am Meer gelegen
Mitten durch die Breaks fließt der Missouri, der dem Gebiet seinen Namen gibt und die dramatischen Steilufer in der hügeligen Ebene erschaffen hat. Felsaufschlüsse erheben sich hoch über dem Flusstal. Die streifenförmigen Schichten aus Sandstein, Schlammstein und Kohle bilden die Judith-River-Formation, eine Gesteinseinheit, die nach einem Nebenfluss des Missouri benannt ist.
Mariner Sandstein und Schiefer am unteren Ende sowie ganz oben in der Formation verraten, dass hier das Meer in der Kreidezeit nie weit weg war. Damals sammelten sich die Sedimente des Judith River in der Nähe der Küste eines flachen Binnenmeers an. Dieses Western Interior Seaway genannte Gewässer erstreckte sich vom Arktischen Ozean bis zum Golf von Mexiko sowie im Osten bis zur heutigen Hudson Bay und untergliederte dadurch ganz Nordamerika in drei Teile (siehe »Am Ufer eines vorzeitlichen Binnenmeers«). Die Meeresküste lag in der Kreidezeit nur wenige Kilometer östlich unseres heutigen Arbeitsgebiets – das Forschungsareal in den Breaks glich damals einer Uferlandschaft. Vorzeitliche Flüsse strömten von den entstehenden Rocky Mountains in Richtung des Western Interior Seaway. Die kreidezeitlichen Wasserläufe waren von sumpfigen Überschwemmungsgebieten gesäumt; es sah ähnlich aus wie heute im Atchafalaya Basin in Louisiana oder in den Everglades in Florida.
Solche Regionen bieten ideale Voraussetzungen für die Entstehung außergewöhnlicher Fossilien. Eine warme, feuchte Umwelt lieferte reichlich Nahrung und Wasser, sodass dort viele verschiedene Pflanzen und Tiere leben konnten. Als diese Organismen in den heutigen Breaks starben, sammelten sich ihre Überreste in den stillen Seen und Feuchtgebieten langsam, aber stetig an, bevor sie schließlich von feinkörnigem Schlamm zugedeckt wurden. In solchen Sumpfgebieten begünstigten die chemischen Bedingungen eine langfristige Konservierung: Die Knochen, Zähne und Gehäuse lösten sich nicht wie sonst mit der Zeit auf, sondern wandelten sich in Stein um – es bildeten sich Fossilien.
Solche Regionen bieten ideale Voraussetzungen für die Entstehung außergewöhnlicher Fossilien
Geologische Kräfte trugen ebenfalls dazu bei, die Organismen für die Nachwelt zu erhalten. Die ganze Region war tektonisch aktiv: Sie gehörte zu einem riesigen Becken, das sich bildete, als die in der Nähe aufsteigenden Gebirge die Erdkruste abwärtsdrückten. In der Senke lagerten sich die Sedimente des Judith River mitsamt ihren Versteinerungen ab, anstatt ins Meer geschwemmt zu werden. Und die Erosion brachte die Fossilien wieder ans Tageslicht.
Während in Teilen der Judith-River-Formation herrliche Dinosaurierskelette erhalten sind, haben wir es auf andere tief im Flusstal liegende Gebiete abgesehen. Diese VMBs bergen eine Fülle an Knochen, Zähnen und weiteren oft nur millimetergroßen Stücken der verschiedensten Lebewesen von Sauriern bis zu Weichtieren.
In der Fachwelt wurde lange darüber diskutiert, wie die VMBs entstanden sind. Laut einer ersten Hypothese haben die in den Ansammlungen erhaltenen Fossilien gemeinsam den Verdauungstrakt vorzeitlicher Fleischfresser durchlaufen – die Fundstätten wären demnach Kothaufen. Solche skatologischen Ansammlungen von Versteinerungen gibt es tatsächlich; die Hypothese allein reicht aber als Erklärung für die gute Erhaltung und das geologische Umfeld der VMBs in der Judith-River-Formation nicht aus. Einer anderen Vorstellung zufolge bilden sich VMBs, wenn die Strömung eines Flusses kleine, harte Teile von Tieren mitnimmt und an einer einzigen Stelle ablagert. Die geologischen Spuren, die wir in der Judith-River-Formation gesammelt haben, widersprechen jedoch weitgehend einem solchen Transportszenario.
Zusammen mit unserem Kollegen Matthew Carrano, Kurator für Dinosaurier am National Museum of Natural History in Washington, analysierten wir detailliert mehr als 20 VMBs aus der Judith-River-Formation und erarbeiteten ein neues Modell für die Entwicklung solcher Fundstätten. Unsere Daten deuten darauf hin, dass sich die VMBs in Teichen und Seen ansammelten. Feinkörnige Sedimente sanken auf die Überreste der Tiere herab, die in diesen langlebigen aquatischen Ökosystemen und deren Umgebung gediehen und vergingen. Im Lauf der Zeit sammelten sich die widerstandsfähigen Skelettreste am Boden an und bildeten die Fossillagerstätten. Dabei wühlten sich immer wieder Bodenorganismen durch den Schlamm, fraßen die Kadaver und wirbelten die Sedimente auf. Hierdurch zerbrachen einzelne Skelette, und ihre Bruchstücke verteilten sich.
Ein solches Szenario erklärt, warum VMBs in der Regel zerrissene Skelettfragmente liefern und warum es sich bei den erhaltenen Körperteilen um besonders dauerhafte, robuste Stücke wie Zähne, kleine Knochen oder Schuppen handelt. Allerdings kann man hier einen Oberschenkel nicht mit einem Knie in Zusammenhang bringen wie bei einem einzelnen Dinosaurierskelett. Andererseits können wir aber an den VMBs viel mehr ablesen als an einem einzigen großen Knochengerüst, da sie ganze Lebensgemeinschaften repräsentieren.
Unterwegs zu Fuß und per Boot
»Der Spaß beginnt, wo das Pflaster endet«, steht auf den Bierdosen unserer Kneipe in Winifred, einer Ortschaft in Montana mit vielleicht 200 Einwohnern. Besser kann man die Oase in der Prärie nicht beschreiben. Winifred ist der letzte Außenposten der Zivilisation, bevor die gepflasterten Straßen unbefestigten Wegen und Wasserläufen Platz machen. Unser Ziel ist ein Gebiet, in das nur wenige Menschen reisen, aber genau das mögen wir. Wie damals für Hayden, so sind auch für uns Boote sowie die eigenen Füße die besten Verkehrsmittel, um die abgelegensten und interessantesten Winkel der Breaks zu erreichen.
Nur ein paar Straßen durchschneiden dieses Gelände. Eine davon führt zur Anlegestelle Stafford-McClelland, wo eine flache Fähre an gespannten Seilen den Missouri überquert. Hier ist eine der wenigen Stellen in der Region, an denen man über den Fluss setzen kann, und sie dient oft als Startpunkt für unsere kleine Kanuflotte. Sobald wir unterwegs sind, bestehen nur geringe Aussichten, auf andere Menschen zu treffen, bevor wir weiter stromabwärts wieder an Land gehen. Bis an den Rand sind die Boote für unsere etwa 80 Kilometer lange Paddeltour mit Ausrüstung beladen: Wasser, so viel wir tragen können, unsere gesamte Verpflegung, Zelte sowie Sammelutensilien, darunter mehrere 20-Liter-Eimer vor allem für fossilhaltiges Sediment (und mindestens einer davon als Toilette). Als fließend Wasser steht uns auf unserer Reise nur der schlammige Fluss zur Verfügung.
Wenn der Wind auffrischt, binden wir die Kanus mit Bungeeseilen aneinander und lassen uns mit einer Plane als behelfsmäßiges Segel stromabwärts treiben. Am späten Nachmittag suchen wir uns einen Platz im angenehmen Schatten der Pappeln und schlagen unser Lager auf. Bei Sonnenaufgang brechen wir auf und wandern zu den Hügeln. Während wir den stacheligen Yuccapalmen und Kakteen ausweichen und uns unseren Weg zwischen duftenden Salbeisträuchern suchen, halten wir Ausschau nach Klapperschlangen. Unsere Blicke sind auf den Boden und die benachbarten Abhänge gerichtet, um die VMBs zu finden.
Bis an den Rand sind die Boote für unsere Paddeltour mit Ausrüstung beladen
Solch kleine Fossilien in der weiten Landschaft aufzuspüren, mag unmöglich erscheinen, aber es gibt einige Anhaltspunkte. Wir suchen nach einer ganz bestimmten Art von Sedimentgestein: dunkelgrauem und braunem Schlammstein, vielleicht mit einigen kohlrabenschwarzen versteinerten Pflanzen darin, die auf eine sumpfige Umwelt hinweisen, sowie hellerem grauem Sandstein mit gezackten Mustern, in denen sich vorzeitliche Strömungen widerspiegeln. Außerdem halten wir Ausschau nach freiliegenden Felsen, die in der Sonne glitzern. Die Reflexionen stammen von Bruchstücken fossiler Muscheln und Schnecken, die hier in den kreidezeitlichen Teichen und Seen gelebt haben. In solchen Gesteinsschichten findet man VMBs recht häufig.
Sobald jemand ein paar abgebrochene Fossilienbruchstücke weiter oben ausmacht, die durch Verwitterung aus irgendeiner Gesteinsschicht freigelegt wurden, verfolgen wir diese Fragmente – hangaufwärts auf Händen und Knien mit der Nase dicht am Boden kriechend – bis zu ihrem Ursprung zurück. Dort stoßen wir auf die Schicht, in der die winzigen Versteinerungen angereichert sind. Einen ganzen Tag oder länger arbeiten wir an einem einzigen kleinen Hügel; mit einem Eispickel oder einem Taschenmesser befreien wir die Fossilien vorsichtig aus dem weichen Gestein. Wir sammeln alles ein, was wir zu Gesicht bekommen, und bringen unsere Fundstücke sorgfältig in Probenbeuteln und Gefäßen unter. Nachdem wir die Oberfläche durchkämmt haben, kommen Geologenhammer, Pickel und Schaufel zum Einsatz. Wir graben Blöcke aus dem »bonebed« aus und laden sie in unsere Eimer oder in riesige Probensäcke.
Hangaufwärts auf Händen und Knien mit der Nase dicht am Boden kriechend, verfolgen wir die Fragmente bis zu ihrem Ursprung zurück
Zurück in unserem Universitätslabor wartet ein Gerät, das wir »Dunker« nennen, auf unsere Ausbeute. Die Apparatur spült die Proben aus der Knochenlagerstätte durch Siebe mit unterschiedlicher Maschenweite. Wir legen die Sedimentbrocken zunächst in eines, das Fossilien und Gesteinsstücke von mehr als zwei Millimetern Größe auffängt, kleinere aber durchlässt. Darunter befindet sich ein feinmaschigeres Sieb, das Fossilienstücke bis zu 0,5 Millimetern Größe (kleiner als ein Stecknadelkopf) festhält. Nach einigen Stunden im Dunker brechen die meisten Klumpen auf, das Sediment wird weggespült, und in den Sieben verbleiben Knochen, Zähne, Schalen und andere Fossilien.
Danach geht es ans Mikroskop. Unsere Studierenden haben Hunderte von Stunden damit verbracht, die aus den Sieben gewonnenen Fossilien genau zu durchforsten. Mit extrem feinen Pinseln, deren Spitze nur aus wenigen Haaren besteht, sortieren sie die Fossilienmischung. Unter der Vergrößerung erscheint die VMB-Welt wahrlich beeindruckend. Was das bloße Auge nur als schwarze Krümel wahrnimmt, entpuppt sich als hervorragend erhaltene kleine Zähne und Knochenstücke von Kiefer, Extremitäten oder Wirbeln. Die Vielfalt der Judith-River-Formation erwacht zum Leben.
Die damaligen Akteure
Was findet man alles in den VMBs? Zunächst einmal die Stars der Kreidezeit: die Dinosaurier. Ihre Zähne wurden im Lauf ihres Lebens immer wieder erneuert, sodass diese in unseren Sammlungen zu den häufigsten und am leichtesten zu identifizierenden Stücken zählen. Manche davon aus unseren VMBs gehörten zu den gepanzerten Ankylosauriern, beispielsweise aus der Gattung Zuul, sowie zu den Pachycephalosauriern mit ihrem verdickten Schädeldach wie Stegoceras. Die bei Weitem häufigsten Dinosaurierzähne in unseren Stichproben stammen von pflanzenfressenden Arten, deren Zahnreihen eine Mahlfläche bildeten, ähnlich den Molaren der Säugetiere. Von solchen Zähnen finden wir meist nur abgeschliffene Bruchstücke, sodass es häufig schwierig ist, einzelne Arten zu bestimmen. Gleichwohl entdeckten wir Zähne von Hadrosauriern mit ihrem entenschnabelähnlichen Schnauzen wie Brachylophosaurus oder von den gehörnten Ceratopsiden wie Spiclypeus.
Unsere Fundstätten lieferten jedoch auch Spuren fleischfressender Dinosaurier, die in diesem Ökosystem der späten Kreidezeit an der Spitze der Nahrungskette standen. Scharfe, gezackte Zähne belegen die Anwesenheit von Daspletosaurus, einem Vetter von Tyrannosaurus rex, sowie von dem kleinen, gefiederten Theropoden Troodon. Ebenso fanden wir Klauen und Wirbel des zahnlosen, straußenähnlichen Theropoden Ornithomimus. Den Himmel über dem Ökosystem des Judith River beherrschten ebenfalls Dinosaurier – und zwar in Gestalt von Vögeln. Kleine, zierliche Tiere blieben in der Regel nicht gut erhalten, aber viele der ersten Vögel besaßen Zähne, die widerstandsfähig genug sind, um in den VMBs zu überdauern.
Auch Säugetiere fanden den Weg in die Seen und Teiche der Judith-River-Formation, denn hin und wieder stießen wir auf Zähne von kleinen Fellknäueln wie Alphadon, der dem heutigen Opossum ähnelte. Diese Säuger dürften Reptilien zum Opfer gefallen sein, die hier in den vorzeitlichen Seen zu Hause waren. Im offenen Wasser sowie an den Ufern gingen Krokodile und Alligatoren auf die Jagd. Ihre Zähne, Wirbel und knöchernen Panzerplatten gehören zu den häufigsten VMB-Fossilien.
Ein Vertreter davon war Champsosaurus. Mit seiner langen Schnauze und seinen scharfen Zähnen sah er etwa aus wie ein heutiger Gavial, ein fischfressendes Krokodil, das seine Beute aus dem Hinterhalt attackiert. Die spulenförmigen Wirbel und die breiten Rippen von Champsosaurus tauchen an unseren Fundstätten regelmäßig auf und zeigen, dass er im Ökosystem der Judith-River-Formation ein wichtiger Akteur war.
Die Vielfalt der Judith-River-Formation erwacht zum Leben
Wie man es in dieser 76 Millionen Jahre alten Wasserwelt nicht anders erwartet, gab es eine Fülle an Fischen. Zu unseren Sammlungen gehören Tausende von Wirbeln, Zähnen und Schuppen, die sowohl große als auch kleine Arten repräsentieren. Deren Schwärme in den Seen der Judith-River-Formation dürften das Wasser zum Schimmern gebracht haben. Süßwasserhaie schwammen in diesen Gewässern; ebenso Myledaphus, ein Geigenrochen mit flachen, rautenförmigen Zähnen, die sich ideal zum Zermalmen von kleinen Krebs- und Weichtieren eigneten.
Knochenhechte der Gattung Lepisosteus waren ebenfalls zahlreich vertreten. Sie tragen einen Panzer aus ineinandergreifenden Schuppen, die mit einem zahnschmelzartigen Gewebe namens Ganoin überzogen sind. Wenn Krokodile solche Fische fressen, lösen die Säuren in ihrem widerstandsfähigen Verdauungssystem die Ganoin-Außenschicht auf, sodass erodierte Schuppen zurückbleiben. Am Zustand der Knochenhechtschuppen in den VMBs zeigt sich, dass die Krokodile diese Fische damals schon genauso verzehrten wie heute.
Die aquatischen Ökosysteme beherbergten obendrein eine Vielzahl an Amphibien. Faszinierenderweise sind viele der winzigen Teile von Amphibienextremitäten und -rippen, die wir aus unseren Sieben bergen, von noch kleineren Zahnspuren bedeckt. Sie entstanden, wenn ein Knochenhecht, ein Krokodiljunges oder gar ein kleiner Theropode zubiss und dabei mit seinen Zähnen am Knochen kratzte.
Amphibien waren nicht die einzigen Tiere, die sich in diesem Ökosystem zu Wasser und zu Land tummelten. Schildkröten verbrachten gleichfalls ihre Zeit sowohl im See als auch auf festem Grund. Wir fanden Knochenplatten von Schildkrötenpanzern mit charakteristischen Ziermustern, die für mehrere Weichschildkrötenarten sowie Schnappschildkröten als typisch gelten. Schuppenkriechtiere waren hier ebenfalls zu Hause. Wir konnten etliche Gruppen nachweisen, von engen Verwandten der heutigen Leguane über langschwänzige glattechsenartige Formen bis hin zu dick gepanzerten, insektenfressenden Arten.
Daneben fanden sich auch fossile Eierschalen. Einzeln aufgefundene Eier und deren Schalen einer bestimmten Spezies zuzuordnen, gestaltet sich oftmals als schwierig. Deshalb gibt es für Eierschalen ein eigenes Klassifikationssystem namens Ootaxonomie. Dabei beschreiben wir zunächst die Außen- und Innenfläche der Schale, halten Farbe und Oberflächenbeschaffenheit fest sowie die Verteilung der Poren, die dem Embryo während seiner Entwicklung den Gasaustausch ermöglichten. Dann fertigen wir Dünnschnitte der Schale an, um unter dem Mikroskop die Kristallstruktur zu analysieren. Darüber hinaus können wir in der chemischen Zusammensetzung nach Anhaltspunkten dafür suchen, was für Lebewesen diese Eier gelegt haben. Dadurch konnten wir nachweisen, dass Theropoden und Entenschnabelsaurier, aber auch eine Vielzahl an Krokodilen und Schildkröten in der üppigen Umwelt jener Flussniederungen nisteten, die sich in der Judith-River-Formation erhalten hat.
Rätselhafte Spuren
Hin und wieder, oft gerade, wenn es uns nach stundenlangem Starren durch das Mikroskop vor den Augen zu flimmern beginnt, stoßen wir auf etwas Neues: etwas, in dem sich kein Knochen, Zahn oder anderes Körperteil erkennen lässt. Manchmal entpuppen sich solche rätselhaften Überreste als Belege für die Tätigkeit eines Tiers. Derartige Versteinerungen, beispielsweise Zahnspuren (wie die auf den Amphibienknochen), Fußabdrücke oder Exkremente deuten auf die Anwesenheit sowie das Verhalten von Lebewesen hin, was uns ansonsten vielleicht entgangen wäre.
Unter solchen fossilen Spuren in unseren Stichproben finden sich auch kleine donutförmige Strukturen, die als Magensteine oder Gastrolithen bekannt sind. Sie zeigen, dass in den Seen, Teichen, Flüssen und Bächen der Breaks schon in der Kreidezeit Krebse lebten. Bei heutigen Vertretern dienen die Gastrolithen dazu, Kalziumkarbonat zu speichern, einen unentbehrlichen Bestandteil des Außenskeletts. Wenn Krebse heranwachsen, müssen sie sich mehrfach häuten, um die alte Hülle durch eine neue, größere zu ersetzen. Dabei entsorgen sie den Panzer aber nicht vollständig, sondern bewahren das kostbare Kalziumkarbonat in Gastrolithen auf, um es später wiederzuverwenden. Die Magensteine, die wir in der Judith-River-Formation finden, deuten darauf hin, dass die Krebse in der Kreidezeit bereits wie ihre heutigen Verwandten ein solches Recycling betrieben.
Die vielleicht rätselhaftesten fossilen Spuren in unseren VMBs sind igluförmige Verdickungen, die wir häufig auf Bruchstücken von Muschelschalen entdecken. Über diesen eigenartigen Gebilden mussten wir jahrelang brüten, bevor uns schließlich klar wurde, dass sie jenen Strukturen gleichen, die entstehen, wenn parasitische Plattwürmer Muscheln befallen. Diese bilden die Iglus zur Selbstverteidigung, indem sie versuchen, die eingedrungenen Parasiten in einer mineralischen Kammer einzuschließen. Wir haben allen Grund zu der Annahme, dass kreidezeitliche Muscheln genau das Gleiche taten, um sich selbst zu schützen.
Vielleicht schufen kreidezeitliche Plattwürmer neue ökologische Verbindungslinien zwischen so unterschiedlichen Lebewesen wie Muscheln und Dinosauriern
Parasiten sind meist klein und weich – und bieten sich daher für eine Fossilbildung nicht gerade an. Deshalb werden diese ökologisch wichtigen Tiere bei der Rekonstruktion fossiler Nahrungsnetze in der Regel nicht berücksichtigt. Die Iglus auf den Muschelschalen in den VMBs aus der Judith-River-Formation bestätigen nicht nur, dass es in diesem Ökosystem Plattwürmer gab, sondern sie verschieben auch den frühesten bekannten Zeitpunkt einer solchen parasitischen Wechselbeziehung zwischen Wurm und Muschel auf vor mindestens 76 Millionen Jahren. Heutige parasitische Plattwürmer weisen einen komplizierten Lebenszyklus auf, an dem mehrere Wirtstiere beteiligt sind. Muscheln sind nur eines davon, während Küstenvögel, die diese fressen, den Endwirt darstellen. Vielleicht schufen die kreidezeitlichen Plattwürmer neue ökologische Verbindungslinien zwischen so unterschiedlichen Lebewesen wie Muscheln und Dinosauriern.
Die unscheinbaren Fossilien aus den VMBs der Judith-River-Formation verschafften uns mehr faszinierende Einblicke in diese lebenssprühende, vergessene Welt der Dinosaurier, als wir es jemals für möglich gehalten hätten. Dennoch wissen wir, dass noch viele weitere Fragen offenbleiben. Entdeckungen wie die Iglus auf den Muschelschalen unterstreichen, was Ferdinand Hayden schon 1855 auf seiner bahnbrechenden Reise durch die Breaks herausfand: Kein Fossil ist zu klein oder zu unscheinbar, um verblüffende, unerwartete Einzelheiten vorzeitlicher Ökosysteme zu offenbaren.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.