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Palimpsest: Die Entdeckung der ältesten bekannten Himmelskarte

Der antike Gelehrte Hipparchos gilt als Begründer der wissenschaftlichen Astronomie. Nun fanden sich auf mittelalterlichem Pergament Fragmente aus seinem verlorenen Sternenkatalog.
Eine Doppelseite aus dem »Codex Climaci Rescriptus«.
Eine Doppelseite aus dem »Codex Climaci Rescriptus«. Das spätantike Pergament war im Mittelalter abgewaschen und neu beschriftet worden. Mit Hilfe moderner Fototechnik haben Forschende die alte Schrift wieder sichtbar gemacht.

Ein Pergament, das ursprünglich aus dem Katharinenkloster auf dem Sinai stammt, entpuppte sich als antiker Wissenschaftsschatz: Unter einem christlichen Text verborgen haben drei Fachleute einen Teil des verlorenen Sternenkatalogs des Astronomen Hipparchos entdeckt. Bei der antiken Schrift handelt es sich um den frühesten bekannten Versuch, den gesamten Himmel zu kartieren. Victor Gysembergh vom Centre national de la recherche scientifique in Paris und zwei weitere Forscher haben ihren Fund im »Journal for the History of Astronomy« veröffentlicht.

Gelehrte suchen seit Jahrhunderten nach dem Werk des Hipparchos von Nicäa (190–120 v. Chr.). James Evans, Astronomiehistoriker an der University of Puget Sound in Tacoma (US-Bundesstaat Washington), bezeichnet den Fund daher als »selten« und »bemerkenswert«. Der neue Text bezeugt laut Evans, dass der bedeutende griechische Astronom Hipparchos den Himmel tatsächlich Jahrhunderte vor anderen Gelehrten kartiert hat. Sein Katalog markiert zudem einen entscheidenden Moment in der Wissenschaftsgeschichte – als Astronomen dazu übergingen, den Himmel nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu vermessen und Vorhersagen zu treffen.

Das Manuskript stammt aus dem griechisch-orthodoxen Katharinenkloster auf der Sinai-Halbinsel in Ägypten. Allerdings befinden sich die meisten der 146 Pergamentblätter oder Folios heute im Bibelmuseum in Washington, D.C. Die Seiten sind mit dem »Codex Climaci Rescriptus« beschriftet, einer Sammlung syrischer Texte aus dem 10. oder 11. Jahrhundert. Doch handelt es sich bei dem Codex auch um ein Palimpsest, ein wiederverwendetes Pergament: Der mittelalterliche Schreiber wusch von alten Seiten die Schrift ab, um die Blätter neu zu beschriften.

Ein Student entdeckte den Text

Fachleute gingen bisher davon aus, dass der ältere Text auf dem Palimpsest ebenfalls christlichen Inhalts war. Doch dann gab 2012 der Bibelwissenschaftler Peter Williams von der University of Cambridge seinen Studierenden die Aufgabe, die Seiten des Codex eingehend zu untersuchen. Dabei entdeckte einer von ihnen, Jamie Klair, unerwartet eine Passage in griechischer Sprache, die meist dem Astronomen Eratosthenes (zirka 276–194 v. Chr.) zugeschrieben wird. 2017 analysierten Forschende der Early Manuscripts Electronic Library im kalifornischen Rolling Hills Estates und der University of Rochester in New York die Seiten mit Hilfe der Multispektralfotografie. Von jedem Blatt fertigten sie 42 Fotografien an, jeweils in unterschiedlichen Wellenlängenbereichen des Lichts. Abschließend ließen sie Computeralgorithmen nach dem verborgenen Text suchen.

Auf neun Folios fanden sich astronomische Texte, die – gemäß einer Radiokohlenstoffdatierung und dem Schriftstil – wahrscheinlich im 5. oder 6. Jahrhundert auf die Pergamente übertragen wurden. Sie enthalten Mythen des Eratosthenes über den Ursprung der Sterne und Teile eines berühmten Gedichts aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. namens »Phainomena« (Himmelserscheinungen), in dem Sternkonstellationen beschrieben sind. Als Williams die Bilder während eines Corona-Lockdowns wieder einmal durchsah, fiel dem Philologen etwas Ungewöhnliches auf. Er setzte sich umgehend mit dem Wissenschaftshistoriker Victor Gysembergh vom CNRS in Paris in Verbindung. »Ich war von Anfang an sehr aufgeregt«, sagt Gysembergh. »Es war sofort klar, dass wir hier Sternkoordinaten vorliegen hatten.«

Die erhaltene Passage, die Gysembergh und sein Kollege Emmanuel Zingg von der Pariser Sorbonne Université entziffert haben, ist etwa eine Seite lang. Darin sind die Koordinaten des Sternbilds Corona Borealis, der Nördlichen Krone, angegeben. Mehrere Indizien deuten darauf hin, dass die Daten von Hipparchos stammen; etwa wegen der eigenwilligen Art und Weise der Formulierung. Entscheidend ist aber, dass die Forscher die präzisen Messungen genau datieren können: Auf Grund des Phänomens der Präzession, einer sehr langsamen Richtungsänderung der Erdachse, verschieben sich die Positionen der »Fixsterne« am Himmel ganz allmählich – jedenfalls von der Erde aus gesehen. Die Forscher nutzten nun dieses Phänomen, um festzustellen, wann der antike Astronom seine Beobachtungen gemacht haben muss. Ihr Ergebnis: Die Koordinaten passen ungefähr in die Zeit um 129 v. Chr. Damals lebte auch Hipparchos.

Der Kosmos des Claudius Ptolemäus

Bislang war als einziger Sternenkatalog der Antike ein Werk des griechischen Gelehrten Claudius Ptolemäus bekannt, der im 2. Jahrhundert in Alexandria in Ägypten gelebt hat. In seinem »Almagest«, einem der einflussreichsten Wissenschaftstexte der Geschichte, entwarf er ein mathematisches Modell des Kosmos – mit der Erde im Zentrum. Es hatte mehr als 1200 Jahre lang Gültigkeit. Ptolemäus schrieb auch die Koordinaten und die scheinbare Helligkeit von mehr als 1000 Sternen auf. In den antiken Schriftquellen wird jedoch mehrfach erwähnt, dass Hipparchos drei Jahrhunderte zuvor auf der Insel Rhodos als Erster die Sterne vermessen habe.

Katharinenkloster | Das Kloster auf dem Sinai beherbergt eine der wenigen Manuskriptsammlungen, die seit über einem Jahrtausend in ungebrochener Tradition am selben Ort besteht.

Davor hatten bereits babylonische Astronomen die Positionen einiger Sterne im Tierkreis bestimmt. Das heißt, sie erfassten die Konstellationen entlang der Ekliptik – der scheinbaren jährlichen Umlaufbahn der Sonne vor dem Hintergrund des Sternenhimmels, wie sie von der Erde aus zu sehen ist. Doch Hipparchos war der Erste, der die Positionen der Sterne anhand von zwei Koordinaten definierte und die Sterne am gesamten Himmel kartierte. Unter anderem entdeckte er die Präzession der Erde und modellierte die scheinbaren Bewegungen von Sonne und Mond.

Mit den neu entdeckten Daten konnten Gysembergh und seine Kollegen bestätigen, dass die Koordinaten von drei weiteren Sternbildern – dem Großen Bären (Ursa Major), dem Kleinen Bären (Ursa Minor) und dem Drachen –, die in dem lateinischen Manuskript »Aratus Latinus« überliefert sind, ebenfalls direkt von Hipparchos stammen müssen. »Das neue Fragment macht dies viel, viel deutlicher«, sagt der Astronomiehistoriker Mathieu Ossendrijver von der Freien Universität Berlin. »Dieser Sternenkatalog, der in der Literatur als eine fast schon hypothetische Sache herumgeisterte, ist nun viel konkreter geworden.«

Viele Stunden Arbeit für Hipparchos

Die Forscher gehen davon aus, dass Hipparchos' ursprüngliche Liste, ebenso wie die von Ptolemäus, Beobachtungen von fast jedem sichtbaren Stern am Himmel enthalten hatte. Da der Grieche kein Teleskop besaß, muss er Instrumente wie eine Dioptra oder eine Armillarsphäre verwendet haben, vermutet Gysembergh. »Das bedeutet unzählige Stunden Arbeit.«

Wie Hipparchos und Ptolemäus zusammenhängen, ließ sich bislang nicht sicher feststellen. Einige Gelehrte behaupteten, dass der Katalog des Hipparchos nie existiert hat. Andere – angefangen mit dem Astronomen Tycho Brahe aus dem 16. Jahrhundert – waren überzeugt, dass Ptolemäus die Daten von Hipparchos übernommen und als seine eigenen ausgegeben hat. »Viele denken, dass Hipparchos der wahrhaftige große Entdecker war«, sagt Gysembergh, während Ptolemäus »ein erstaunlicher Lehrer« war, der die Arbeit seiner Vorgänger zusammenführte.

Aus den Textfragmenten folgern die drei Wissenschaftler, dass Ptolemäus nicht einfach die Zahlen von Hipparchos kopiert haben kann. Aber vielleicht hätte er das tun sollen: Denn Hipparchos' Beobachtungen scheinen wesentlich genauer zu sein als die seines Nachfolgers; seine bisher bekannten Koordinaten sind bis aufs Grad korrekt. Und während Ptolemäus sein Koordinatensystem auf die Ekliptik stützte, verwendete Hipparchos den Himmelsäquator, ein System, das in modernen Sternkarten üblicher ist.

Mit Hipparchos begann die Mathematisierung der Natur

Die Entdeckung »bereichert unser Bild« von Hipparchos, sagt Evans. »Sie gibt uns einen faszinierenden Einblick in das, was er tatsächlich getan hat.« Und damit würde der Fund eine Schlüsselentwicklung westlicher Zivilisationen erhellen: die »Mathematisierung der Natur«. Denn damals begannen Gelehrte, das Universum um sie herum nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu vermessen, zu berechnen und Vorhersagen zu treffen.

Hipparchos war eine Schlüsselfigur – »er veränderte die Astronomie hin zu einer vorhersagbaren Wissenschaft«, sagt Ossendrijver. In seinem einzigen erhaltenen Werk kritisierte der Grieche seine Vorgänger im Feld der Astronomie, weil sie nicht auf die Genauigkeit der Zahlen geachtet hätten.

Man nimmt an, dass ihn die Arbeiten babylonischer Gelehrter inspiriert haben. Hipparchos dürfte Zugang zu deren über Jahrhunderte entstandenen Aufzeichnungen gehabt haben. Die Babylonier hatten zwar kein Interesse daran, die Anordnung des Sonnensystems dreidimensional darzustellen, aber auf Grund ihrer Vorstellung, dass sich am Himmel Vorzeichen erkennen ließen, machten sie genaue Beobachtungen und entwickelten mathematische Methoden, um den Zeitpunkt von Ereignissen wie Mondfinsternissen vorherzusagen. Mit Hipparchos verschmolz diese Tradition mit den geometrischen Ansätzen der Griechen, erklärt Evans – und damit »fing die moderne Astronomie wirklich an«.

Die Forscher hoffen, dass sie mit besseren fotografischen und bildgebenden Verfahren in Zukunft weitere Sternkoordinaten entdecken können. Einige Abschnitte des »Codex Climaci Rescriptus« wurden noch nicht entziffert. Und möglicherweise schlummern in der Bibliothek des Katharinenklosters mit seinen mehr als 160 Palimpsesten noch weitere Seiten des Sternkatalogs. Dort haben Forschende bisher unbekannte griechische Medizintexte zu Tage gefördert, darunter Arzneirezepte, chirurgische Anleitungen und Beschreibungen von Heilpflanzen. Jüngst entdeckte eine Wiener Arbeitsgruppe eine verloren geglaubte Göttergeschichte der Antike.

Mit Hilfe der Multispektralfotografie lassen sich mehr Palimpseste als zuvor lesbar machen – in Archiven auf der ganzen Welt. »Allein in Europa liegen tausende Palimpseste in den großen Bibliotheken«, sagt Gysembergh. Das Manuskript mit dem Sternenkatalog sei ein sehr besonderer Fall, der mit einer Forschungsmethode aufgedeckt wurde, »die auf tausende weitere Manuskripte angewendet werden und jedes Mal zu erstaunlichen Entdeckungen führen kann«.

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